Kapitel 51

Es war einmal, vor langer Zeit in einer mondlosen Nacht. Ein wüster Sturm tobte und trieb die Wolken unbarmherzig vor sich her. Der Regen prasselte mit solcher Gewalt zur Erde, dass so manch zartes Pflänzchen den nächsten Morgen nicht mehr erlebte. Der junge Wachsoldat wurde blass, als kurz nach Mitternacht die große Glocke am Schlosstor anschlug. Wer mochte das wohl sein, fragte er sich ängstlich und war versucht, das Läuten zu überhören. Es wird der Wind sein, beruhigte er sich, nur der Wind, der am Glockenseil zerrt. Kein Mensch wird in so einer Nacht vor dem Tor stehen. Da ertönte die Glocke noch einmal. Eindringlich und unüberhörbar rief sie ihn. So laut wie sie dröhnte, konnte es nicht lange dauern bis der Hauptmann auftauchen würde; und das bedeutete immer großen Ärger. Schließlich fasste er sich ein Herz und öffnete mit zitternden Fingern die kleine Luke in der Seitentür. Genau in diesem Augenblick fuhr ein Blitz herab und in seinem blauen Licht sah er das Mädchen. Ein ehemals weißes Kleid, zerrissen und von schwarzen Flecken übersät, klebte klatschnass an ihrem Körper. Der Wind zog und zerrte an ihrem Haar. Trotz des tosenden Unwetters verstand er ihre Worte klar und deutlich.
"Lasst mich ein, edler Herr. Ich bitte Euch, lasst mich ein und gewährt mir Obdach in dieser Nacht!" flehte das Mädchen inständig und streckte ihm die geöffneten Hände entgegen.
"Was um Himmels Willen machst du in so einer Nacht im Wald? Wer bist du? Woher kommst du?" fragte er entgeistert. Schneller als er denken konnte, hatte er die Tür geöffnet, sie am Arm gepackt und mit einer harschen Bewegung hereingezogen. "Ich bringe dich zu jemand, der sich um dich kümmern wird. Bleib dicht bei mir, es darf dich keiner sehen!" befahl er schroff.
"Ich bin Daira", beantwortete sie die vorher gestellte Frage, über das Warum und Woher gab sie keine Auskunft.
Der junge Wachsoldat drang nicht weiter in sie ein. An diesem Ort hatte jeder seine Geheimnisse, und er war froh, nicht allzu viel darüber zu wissen. An jeder Ecke blieb er stehen und vergewisserte sich sorgsam, dass ihnen niemand entgegenkam. Mit leise platschenden Füßen schlich Daira artig hinter ihm her. Das Wasser, das aus ihrem Kleid und ihrem Haar herunterlief, hinterließ deutliche Spuren auf dem Steinfußboden. Er führte sie in den Teil des Schlosses, wo das Gesinde untergebracht war. Kurze Zeit später hatte seine Tante, die Küchenaufseherin, das Kommando übernommen. Ohne unnütze Fragen zu stellen, hatte sie mit Hilfe einer zuverlässigen Magd die junge Frau in einen Badezuber mit heißem Wasser gesteckt und sie dann mit trockenen Kleidern versorgt. Der Teller mit heißer Suppe war gerade mal zur Hälfte leer, als ihr der Löffel aus der Hand fiel und sie von einer Sekunde zur anderen kopfüber am Tisch einschlief. Nur der aufmerksamen Magd war es zu verdanken, dass ihr Kopf nicht in den Teller knallte. Sie blinzelte nicht einmal, als die beiden Frauen sie in den hintersten Küchenwinkel verfrachteten und unter einer alten Decke vor neugierigen Blicken verbargen.
"Arme Kleine!" murmelte die Küchenaufseherin mitleidig. "Morgen in aller Frühe muss sie wieder fort, du weißt, was mit denen passiert, die sich den Anordnungen der Herrschaften widersetzen. Ich will keine Bekanntschaft mit der Peitsche des jungen Herrn machen. Der alte Hóol fährt morgen mit dem Fuhrwerk in die Stadt, der kann sie mitnehmen. So erfährt keiner etwas von ihr. Der alte Hóol redet nicht und die Wache wird sich hüten, dem Hauptmann zu beichten, dass er ein mitleidiges Herz hat."

Daira schlief noch tief und fest, als in ihrem Inneren etwas erwachte. Schlafend und doch hellwach sah sie zu, wie die Flammen des Herdfeuers gemächlich in der Asche versanken. Ihr erschöpfter Körper brauchte dringend Erholung und sie hütete sich, ihn vor der Zeit aufzuwecken. Ruhelos irrte ihr Geist durch die Finsternis, und sie erinnerte sich.
Hell lodernd züngelten die heiligen Flammen eines Scheiterhaufens an ihr empor, sie spürte deren Hitze in ihrem Gesicht, roch den Geruch angesengter Haare, fühlte die frische Kühle des Wassers, das tonnenschwer vom Himmel fiel. Sie ahnte etwas von einem blauseidenen Schatten, der eine seltsame Melodie ausstrahlte, als er ihrem Körper das Leben rettete und ihren Geist schützender Ohnmacht übergab. Die anfängliche Erleichterung, niemals ein Opfer der Flammen geworden zu sein, war mit der Zeit dem Wunsch gewichen, endlich sterben zu können. Fremde Sterne hatten ihr einst die Unsterblichkeit geschenkt und sie dann mit diesem Geschenk allein gelassen. Oft schon hatte sie sich gefragt, ob die Menschen, die ihr so glichen und doch so verschieden waren, sie nicht zu Recht verdammten.
Es war dies nicht das erste Mal, dass sie sich an einem ihr völlig unbekannten Ort wiederfand, im Kopf lediglich eine schwache Erinnerung an vergangene Pein. Es war dies nicht das erste Mal, dass sie an fremden Türen geklopft und um Einlass und Hilfe gebeten hatte. Und soweit sich erinnern konnte, war sie niemals abgewiesen worden. Doch ihr Erinnerungsvermögen war unzuverlässig, obwohl es weit in die Vergangenheit zurückreichte. Sie hatte gesehen, wie Zivilisationen erwachten und wieder im Staub versanken. Einzig ihr Name und eine Halskette begleiteten sie zuverlässig durch die Wirren der Zeit. Seltsamerweise hatte niemals jemand versucht, ihr diese Kette zu stehlen, falls doch, konnte sie sich nicht daran erinnern. In all der Zeit hatte man ihr viele Namen gegeben, ihre heilenden Hände verehrt und ihren mädchenhaften Köper geliebt. Und man hatte sie gefürchtet und verfolgt.
Wehrlosem Treibholz gleich hatte der Strom des Schicksals sie an ein unbekanntes Ufer gespült. Zum ersten Mal erblickte Daira das Licht der Welt als erstgeborene Tochter einer Königin. Die Erkenntnis, dass sie anders war als die anderen kam erst später, als sie selbst längst Königin geworden war. Sie blieb jung und schön, während die Gefährtinnen ihrer Jugend hinweggerafft wurden von Krankheit und Tod. Seither war Daira ständig auf der Hut und immer allein.

Eingebettet in die verwandtschaftlichen Beziehungen seines Dorfes, wuchs Michael heran. Sein Leben war vorhersehbar und gleichförmig, dirigiert durch den Wechsel der Jahreszeiten und den damit verbundenen Pflichten. Es gab nichts, was ihn von den übrigen Dorfbewohnern unterschied. Er freute und ärgerte sich über dieselben Dinge und hegte, wie alle anderen auch, eine über Generationen gewachsene Abneigung gegen die gräfliche Herrschaft. Hätte man ihn vor die Wahl gestellt, wäre er lieber gestorben, als einer von ihnen zu sein. Er wäre niemals auf den Gedanken gekommen, die Burg zu betreten. Eines Tages jedoch geschah etwas, dass ihn dazu zwang. Er hatte ein absonderliches Begehren entwickelt, das er nicht unterdrücken konnte und das in ihm brannte wie Feuer, das er nicht unterdrücken konnte, und das ihn zu verbrennen drohte. In seiner Not vertraute er sich seiner Mutter an. Und diese erzählte folgende Geschichte:
„Eine Urahnin von mir hat ein Kind bekommen von einem, der vom Berg gekommen war. Das war sicher nicht die Einzige aus dem Dorf, aber darüber wurde nie geredet. Darüber weiß niemand etwas. Ich weiß es, weil meine Mutter mir erzählte, dass bei der Geburt ihres Sohnes eine vom Berg heruntergekommen war, auch bei meiner Großmutter ist es so geschehen und so auch bei mir. Die, die damals auf dem Berg wohnten, waren andere als heute. Ob das besser war oder schlechter war, weiß ich nicht. Die die jetzt dort droben wohnen, sind ruchlos und verdorben, aber das wissen wir alle. Die Frau, die kam, als du geboren wurdest, hat mir folgendes erzählt: ‚Der Same derer vom Berg ist stark, wächst aber nur im Verborgenen. Erst wenn dein Sohn erwachsen geworden ist, wird sich zeigen, ob er das Erbe der Unsrigen in sich trägt oder nicht. Bis dahin sei getrost und fröhlich. Selbst wenn es so ist, kannst du es nicht ändern. Es ist sein Schicksal und der Preis für seine Herkunft. Sage ihm, dass er tun muss, wonach es ihn drängt, denn davon hängt sein Überleben ab.‘“
Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um flüchtete aus dem Dorf in den Wald. Inmitten einer kleinen Lichtung lief er auf und ab, wusste nicht mehr aus noch ein vor lauter Pein. Den Dolch trug er griffbereit in der Hand um seinem Leben ein Ende zu setzen. Wenn es nur einen anderen Weg gäbe, wie er dem Brennen in seinen Eingeweiden Herr werden sollte. Schließlich ließ er sich erschöpft auf die Knie gefallen, die Hände zum Gebet erhoben. Da fiel sein Blick auf die Burgmauern, die hoch droben im Schein der untergehenden Sonne in unwirklichem Glanz erstrahlte. Ein Schleier, der alte, ererbte Erinnerungen verdeckte hatte, lüftete sich. Er wusste nun, was er war, wusste nun, dass er es annehmen konnte oder nicht. Er erkannte, dass die Entscheidung allein bei ihm lag, dass er es in der Hand hatte, ob er den heutigen Tag überlebte oder nicht. Es lachte hart. Um zu überleben brauchte er das Blut eines anderen Menschen. Nur ein einziges Mal, dann nie wieder. Er spürte ganz genau, wessen Blut er brauchte. Es war das Blut derjenigen Frau, der er versprochen war, die ihn vertrauensvoll liebte. Durfte er dieses Vertrauen um den Preis seines eigenen Lebens verraten? Würde sie ihm seinen Verrat, diese blutige Untat jemals verzeihen können? Im gleichen Augenblick wurde ihm klar, dass dies Fragen waren, denen er sich nicht zu stellen brauchte. Das Leben, das so klar vor ihm gelegen hatte, würde es für ihn nicht mehr geben. Ganz egal, wie seine Entscheidung ausfiel, er war verdammt.
Es war völlig finster, als er ins Dorf zurückkehrte. Der Mond schien seinem Vorhaben wohlgesonnen zu sein, denn er hielt sich hinter dunklen Wolken verborgen und blitzte immer nur lang genug hervor um sicherzugehen, dass er nicht vom Weg abkam. Er wusste nicht, was er fühlte, als er an ihrer Tür klopfte. Als sie ihm strahlend lächelnd öffnete und sich an ihn schmiegte, wäre er am liebsten wieder geflüchtet, wie schon einmal, aber sein unseliges Bedürfnis war stärker.
"Ich habe so auf dich gewartet", flüsterte sie zu seiner völligen Überraschung und küsste ihn mit einer Hingabe, die er bei ihr bisher noch nicht erlebt hatte. Angesteckt von ihrer Leidenschaft fielen auch bei ihm sämtliche Hemmungen, und ohne nachzudenken ergab er sich der Leidenschaft. Als er aus seinem Rausch erwachte, lag sie mit geschlossenen Augen neben ihm. Die kleine Narbe am Hals war kaum zu sehen. Sachte hauchte er einen sanften Kuss auf ihre blassen Wangen und fühlte ihren Puls. Sie hatte es überlebt. Sie würde weiterleben. Ihn jedoch würde sie nie mehr wiedersehen. Er hoffte nur, dass aus dieser Verbindung kein Kind hervorgehen würde, das mit diesem Fluch belastet sein würde. Es war Zeit für ihn, sich seiner Vergangenheit zu stellen und diejenige, die zu seiner Geburt gekommen war, zu suchen.

Michael hatte sich in Sichtweite der Burgmauern im Wald verkrochen. Dort fand ihn Mara, die hinausgegangen war, weil sie seine Anwesenheit spürte. Sie brachte ihn zu Calyban. Außer ihr und Calyban lebte keiner mehr vom alten Geschlecht. Schwarzgewandete Ritter hatten fast alle ihrer Art ausgerottet, nur wenig war gerettet worden aus dieser Zeit. Einzig zwei Kinder überlebten, Ysybe und Calyban. Ysybes Lebenswille jedoch war gebrochen, um ihrer gemeinsamen Tochter willen hielt sie durch, bis diese der mütterlichen Fürsorge nicht mehr bedurfte. Dann legte sie sich hin und starb.
Calyban und Mara, Vater und Tochter, lebten im Südturm, leidlich komfortabel, aber weitgehend unsichtbar für die übrigen Burgbewohner. Nur Mara zeigte sich ihnen, dann und wann, um sie zu erinnern, dass sie hier nur geduldet waren.
Der Urgroßvater des jetzigen Grafen, ein einfacher Hauptmann namens Hinrich, hatte die Burg für sich reklamiert und von Calyban die Hand seiner Tochter Mara gefordert. Sie hatte ihm nachgegeben, denn gegen die Soldaten, die dieser mitgebracht hatte, konnten sie sich nicht zur Wehr setzen. Sie wollte es auch nicht, denn es sprach nichts dagegen, die Burg mit neuem Leben zu füllen. Doch Hinrich war ein rücksichtloser Herr, der Mara gleich nach der Hochzeit in den Turm verbannte und die Burg mit den Sprösslingen seiner vielen Gespielinnen füllte. Diese ließ er gegeneinander antreten, und letztendlich gewann der hinterhältigste den Grafensitz. So war es geschehen, dass Graf Hinrich von Rothenstein eine Schreckensherrschaft errichtete, in der Burg und in der gesamten Grafschaft, die von seinen Nachkommen fortgesetzt wurde.
Calyban erklärte Michael, dass es an der Zeit sei, die Schreckensherrschsaft der Grafen von Rothenstein zu beenden. Michael lachte freudlos auf. Und wie sollte das gehen? Mara war eine alte Frau, Calyban ein noch älterer Mann und er selbst trotz alledem nichts weiter als ein Bauernjunge, der allenfalls den Dreschflegel zu handhaben wusste.

Doch nicht mit Waffengewalt sollte die gräfliche Familie vertrieben werden, sondern mit List, nun, da sie zu dritt waren, würde es gelingen. Michael nickte. Er würde tun, was die beiden ihm auftrugen, ob es ihm passte oder nicht, denn das war es, was man ihn im Dorf gelehrt hatte. Er hoffte nur, dass die beiden listenreicher waren als er, dann davon verstand er so gar nichts..
Mit klopfendem Herzen und weichen Knien betrat Michael neben Mara, deren kleine, zarte Hand kaum wahrnehmbar auf seinen Arm lag, den Burgsaal durch einen Seiteneingang. Ungefähr zwei Handvoll Kinder tobten wild umher. Ungefähr gleich viel Personen saßen zu Tisch und wirkten an der riesigen Tafel ein wenig verloren. An der Stirnseite thronte der Graf. Michael traute sich nicht, jemand anzusehen, sondern richtete den Blick starr auf das Wappen, das am anderen Ende der Halle groß und mächtig an der Wand hing. Ein Wappen, in dessen Namen schon viel Unheil begangen worden war, ein Wappen, das unübersehbar auf der Vorderseite des roten Umhanges prangte, den Mara ihm besorgt hatte.
Endlich blieb Mara stehen. Er ahnte, dass sie jetzt vor Graf Laszló angekommen waren. Weder der Graf noch die anderen hatten von ihrem Eintreten Notiz genommen, was Michael nicht verstehen konnte, denn die Präsenz von Mara schien den ganzen Raum zu erfüllen. Er bewegte den Kopf ein wenig und sah sich unauffällig um. Neben dem Grafen auf der einen Langseite der Tafel, saß die Gräfin, gegenüber, links von ihm, der älteste Sohn. Michael erkannte auch die anderen und erinnerte sich an deren Namen. Mara hatte ganze Arbeit geleistet, als sie ihm alles beigebracht hatte, was es zu wissen gab. Man aß, trank, lachte und grölte ungeniert. Plötzlich hatte Michael das Gefühl, als ginge ein Vorhang auf; den anderen schien es genauso zu gehen. Jeder hielt inne mit dem, was er gerade tat. Von einer Sekunde zur anderen wurde es still. Der Graf und sein Sohn Paul wurden blass, einzig die Gräfin bewahrte Haltung. Sie stand auf und verneigte vor Mara.
"Altgräfin ... ", besann sich der Graf und verbeugte sich ebenfalls. "Seid gegrüßt, Ehrwürdige Ahnherrin. Was verschafft uns die Ehre Eures Besuches? Nehmt Platz und esst mit uns." Mit einer energischen Handbewegung wollte er seinen Sohn Paul aufscheuchen, der mit grimmigem Gesicht dasaß und der Altgräfin keine Beachtung schenkte.
Paul hatte die alte Vettel noch nie leiden können und nahm sich das Recht heraus, sie das merken zu lassen. Seinen Vater konnte sie wohl aus der Fassung bringen, aber doch nicht ihn! Alte Weiber hatten sich nicht in die Amtsgeschäfte einzumischen. Aller aufrührerischen Gedanken zum Trotz senkte er den Kopf, als er ihren Blick auf sich spürte. Graf Laszló war auch nicht so ehrerbietig wie er sich gab. Er dachte wie sein Sohn, doch er konnte es sich nicht leisten, seine Abneigung gleichermaßen zur Schau zu stellen. Trotz ihres Alters war sie jemand, vor dem man sich sehr in Acht nehmen musste. Das eine Mal, als er gewagt hatte, ihren Anordnungen nicht zu folgen, hatte er ihren Zorn leibhaftig zu spüren bekommen. Das war ihm eine demütigende Lehre gewesen und seither spielte er den Unterwürfigen, wenn sie, was zum Glück selten vorkam, ihn in einer ihr wichtigen Angelegenheit aufsuchte.
"Seid gegrüßt,", erwiderte Mara, Macht und Würde ausstrahlend. "Ich bringe der Familie ein verlorenes Kind. Das ist Michael, der Sohn deiner ersten Gräfin, die von uns allen hoch geachtet wurde. Das Kind wurde nach der Geburt geraubt, wie wir alle wissen, und nun ist es wieder hier, um seinen Rang in dieser Familie wieder einzunehmen.“ Ihre klare Stimme war nicht nur in der Halle zu hören; sie erreichte jeden noch so abgelegenen Winkel der Burg und verkündete die Botschaft. "Er steht unter meinem besonderen Schutz. Nehmt in freundlich auf und behandelt ihn mit der ihm gebührenden Achtung, denn bedenkt, er ist der zukünftige Graf!" Hoheitsvoll beugte sie leicht das Haupt zum Zeichen, dass die Audienz beendet war und zog sich zurück, als wäre sie nie dagewesen.
Im Saal herrschte nach wie vor gebannte Stille. Die Entscheidung war gefallen. Michael musste bleiben, ob es ihm passte oder nicht.
"Bastard!" zischte Paul und ließ sich demonstrativ wieder auf seinen Platz fallen; er würde nicht nachgeben, das war klar.
Die Gräfin bedeutete Michael, nehmen ihr Platz zu nehmen. Von ihrer Vorgängerin hatte sie nur Gutes gehört und auch der junge Mann machte einen guten Eindruck. Sie hoffte, dass er lange genug am Leben blieb, um tatsächlich die Grafschaft nach Graf Laszlós Tod zu übernehmen. Sie kannte ihren Sohn, dessen hitziges Temperament und dessen locker sitzendes Messer, das schon viel Unheil angerichtet hatte. Doch schon seit vielen Jahren hatte sie keinen Einfluss mehr auf ihren Sohn.
Michael rührte Essen und Wein kaum an. Er senkte den Kopf und versuchte zu ignorieren, was auf ihn einprallte: die unverhohlene Neugierde, das hemmungslose Getuschel und vor allem den Hass in Pauls Augen. Einzig die Fürsorglichkeit der Gräfin ließ er durch; er brauchte sie so sehr, denn er fühlte sich so verlassen wie nie zuvor in seinem Leben. Trübsinnig starrte er vor sich hin. Er bemerkte nicht, dass sich die Gespräche der anderen bald schon wieder auf die alltäglichen Dinge richteten, die allen wichtig und vertraut waren. Sein Unterbewusstsein reagierte jedoch auf eine Stimmungsänderung im Saal, und er sah hoch.
Paul marschierte gerade Richtung Ausgang und blieb breitbeinig wippend vor dem Tor stehen. Es wurde Zeit für den allnächtlichen Ausflug in die Schenke zu den willigen Mädchen. Zur Überraschung aller forderte er Michael zum Mitkommen auf. Als die Gräfin ihn zum Bleiben nötigte, schlug Pauls hinterhältiges Grinsen in offene Verachtung um.
"Verehrter Stiefbruder", begann Paul übertrieben höflich und verbeugte sich, "versteck dich nur hinter Weiberröcken ... doch wer ein richtiger Mann ist, der kommt mit mir hinaus in die Nacht ..." Er spuckte ein gemeines Lachen aus, wirbelte seinen roten Umhang gekonnt um die Schultern und donnerte hinaus; drei seiner treuesten Anhänger hinterher.
So sehr Michael es sich auch wünschte, seine Einsamkeit mit körperlicher Nähe zu besänftigen, so war dies nicht möglich. Die Angst, den unseligen Fluch weiterzutragen, war viel zu groß. Schicksalsergeben senkte er den Kopf, zog die Kapuze darüber und umklammerte den Weinbecher mit beiden Händen.

Der Graf ließ nach einem letzten Schluck den Becher fallen und winkte nach seinen Dienern, um sich in seine Kammer tragen zu lassen. Damit war die Tafel aufgehoben. Entweder man ging auch oder schlief wo man war. Die Gräfin und die anderen Frauen hatten sich längst zurückgezogen. Michael war allein. Allein. Verlassen. Einsam. Und die Verzweiflung hatte leichtes Spiel mit ihm. Sie stieß ihn hinab in eine kalte, schwarze Hölle, wo Hoffnungslosigkeit und Trübsinn ihn mit hämischer Heiterkeit willkommen hießen. Die Nacht verging, der Morgen näherte sich und mit ihm die Sonne, die Michael erlösen wollte. Doch sie kam zu spät. Merkwürdige Dinge waren geschehen und Michael war nicht mehr der, der er einst gewesen war.
Helles Tageslicht flutete in die Halle, als Türen und Fensterläden mit Getöse geöffnet wurden. Dienstboten beseitigten geräuschvoll die Spuren der durchzechten Nacht und weckten dadurch die Schläfer am Tisch, die sich murrend verzogen. Einzig der Mann mit der Kapuze, den Kopf in die Hände gestützt, bewegte sich nicht.
"Michael!" rief die Gräfin beim Hereinkommen. "Warum hast du die Nacht hier verbracht? Du hast bestimmt Hunger! Komm in die Küche! Es gibt frische Milch und Kuchen!" Lachend lief sie herum und scherzte mit den Dienstmädchen. Um diese Zeit, wenn der Graf und Paul noch schliefen, konnte sie ungezwungen fröhlich sein. Sie beendete ihren Rundgang, kam zur Tafel zurück und verstummte mitten im Satz. Nicht Michael saß dort, sondern ein alter Mann, der ihm allerdings ein wenig ähnlich sah. Aber vielleicht lag das nur an dem Umhang und der Kapuze. Vielleicht lag das auch nur daran, dass sich hier alle irgendwie ähnlich sahen. Und dass er von hier war, war unzweifelhaft, denn die Burg war gut bewacht. Kein Fremder hätte sich einschleichen können. Die Gräfin bekreuzigte sich.
"Wer bist du? Was hast du mit Michael gemacht?"
Der Alte hob schwerfällig den Kopf, stand mühevoll auf und deutete eine unbeholfene Verbeugung an. "Michael ist fort", verkündete er mit krächzender Stimme, bevor er mit gebeugtem Rücken davonschlurfte.
"Halt!" rief die Gräfin mit befehlsgewohnter Stimme. "Halt!" rief sie nochmals. "Was hast du hier zu suchen, Alter? Wer bist du? Wo ist Michael?"
Der Alte blieb stehen, drehte sich um und sah sie an. "Fragen! Fragen! Fragen!" krächzte er bösartig. "Immer nur Fragen und nie eine Antwort! Suchen! Suchen! Suchen! Ich muss suchen!" Er spuckte auf den Boden und schlurfte weiter. Am Tor drehte er sich um und sah die Gräfin nochmals an. Es huschte sogar etwas wie ein Lächeln über sein Gesicht. "Ihr habt ein freundliches Wesen. Gedankt sei Euch dafür. Ihr seid nicht wie die anderen! So will ich Euch eine Antwort geben: Ich bin Hóol, der Knecht, und Michael, der Erbe, ist fort!"
Zurück blieb der rote Umhang, der Michael gehört hatte. Die Gräfin nahm ihn an sich und betrachtete ihn gedankenversunken eine Weile, bevor ihre Pflichten sie wieder riefen und von ihrer Grübelei über den verschwundenen Michael und den wunderlichen alten Mann ablenkten. Es dauerte nicht lange und sowohl Michael als auch Hóol waren vergessen.

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