Kapitel 11

"Marianna!" Eva rüttelte sie heftig an der Schulter. "Marianna! Los jetzt! Du musst aufstehen! Es ist schon nach fünf! Du musst los! Es wird allerhöchste Zeit!"
Marianna räkelte sich noch ein wenig im Bett herum und gähnte herzhaft. Eigentlich hatte sie für ihren Geschmack noch längst nicht ausgeschlafen, trotzdem war sie sehr gut gelaunt. Sie sah auf die Uhr: Eva hatte recht, es war höchste Zeit. Sie duschte schnell und machte sich ausgehfein.
Zufrieden mit sich und ihrem Werk, gönnte sie sich einen Augenblick der Selbstbewunderung. Die sorgfältig ausgewählte Garderobe, vervollständig mit einem ausgefallenen Schmuckstück unterstrich auf raffinierte Weise ihre ausgeprägte Persönlichkeit. Sie konnte sich wieder einmal dazu gratulieren, dass es ihr perfekt gelungen war, saloppe Originalität und klassische Eleganz hervorragend zu kombinieren. Sie holte tief Luft, zwinkerte sich zu und vertiefte sie sich in ihre Augen, die in intensivem Stahlblau leuchteten und zog eine ihrer ausdrucksvollen Augenbrauen überheblich nach oben, bevor sie ihren energischen und zugleich sinnlichen Mund öffnete um sicherzustellen, dass sich kein Lippenstift an den makellosen Zähnen befand. Sie war außerordentlich zufrieden mit ihrem Spiegelbild, denn sie sah eine Frau, die feminin und selbstbewusst wirkte und gleichzeitig eine gehörige Portion kreativer Energie und wohlüberlegter Entschlusskraft ausstrahlte. (Hätte sie jemand in diesem Moment unziemlicher Eitelkeit verdächtigt, hätte sie dies energisch abgestritten.)
Bevor sie die Wohnung verließ, drückte sie Eva einen Kuss auf die Stirn. "Du bist ein Schatz! Was täte ich nur ohne Dich?" erklärte sie lachend. "Ich geh dann mal los, Bernhard wird schon warten! Ich hoffe nur, dass sich die Besprechung nicht so lange hinziehen wird!"

Bernhard von Mangold-Dürrenschnabel wartete in der Tat schon ungeduldig und wippte seit 15 Minuten mit dem Fuß, einzig sichtbares Zeichen seines Unmutes. Doch Marianna verzieh er alles. Sie war die Krönung seiner Lebensplanung.
Er hatte alles erreicht, was er sich vorgenommen hatte und nun wurde es allmählich Zeit, eine Familie zu gründen. Nach Abschluss seines Studiums hatte er sich ausschließlich um seine Karriere gekümmert und besaß nun alles, was nötig war. Er konnte einer Ehefrau alles bieten, was ein Frauenherz begehrte: ein großes Haus am Stadtrand, selbstverständlich mit Garten und Personal. Sein Posten als Direktor garantierte ein regelmäßiges Einkommen. Er achtete penibel auf gesunde Ernährung und gesunden Sport, rauchte nicht und trank wenig. Lediglich wenn er gegen sich selbst Schach spielte, gönnte er sich ein Glas Rotwein und einmal in der Woche trank er zwei Tassen Kaffee, und zwar immer sonntags, wenn er seine Mutter besuchte.
Vor drei Jahren hatte er nun die Frau getroffen, von der er sofort überzeugt gewesen war, dass sie die ideale Ehefrau für ihn sein würde. Marianna Meinhardt entsprach seinen Vorstellungen einer kultivierten, gebildeten Begleiterin, die trotz ihrer teilweise recht zwanglosen Lebensführung in der Lage und auch willens war, gesellschaftliche Konventionen zu akzeptieren und sich ihnen, wann immer es nötig war, zu unterwerfen. Sie war jung genug, um seinem Ego zu schmeicheln, ohne dabei kindisch zu sein, so dass er nicht fürchten musste, dass sie ihn durch unbedachte Worte oder Taten in der Öffentlichkeit blamierte. Er konnte sie also guten Gewissens in die Gesellschaft einführen. Er hatte seine Heiratspläne auch schon von seinem Finanzberater absegnen lassen und wartete jetzt nur noch auf eine günstige Gelegenheit, um Marianna einen formvollendeten Antrag zu machen. Er wollte sie noch das Projekt mit der Getränkefirma abschließen lassen, dann sollte sie sich aus dem Berufsleben zurückziehen und ihren Laden verkaufen, um nur noch für ihn und die Kinder dazusein. Es wurde sowieso allerhöchste Zeit, dass dieses Kommunenleben aufhörte.
Berndhard von Mangold-Dürrenschnabel war ein Mann, der wusste was er wollte und sich durch nichts erschüttern ließ; das hatte er zumindest immer gedacht. Dass dem nicht so war, hatte er völlig unvorbereitet erfahren müssen, und das auch noch ausgerechnet während einer wichtigen Vertragsverhandlung. Zum Glück hatten die anderen nichts von seiner Verwirrung gemerkt, doch seither geisterten alte Erinnerungen in seinem Kopf herum, ohne dass er ihnen Einhalt gebieten konnte. Es wäre so dringend notwendig gewesen, denn in einer derartigen Gemütsverfassung war es ihm unmöglich, Marianna einen Heiratsantrag zu machen. Es wäre nicht richtig gewesen, solange er die junge Frau, die er neulich zufällig gesehen hatte, nicht wieder aus seinem Denken verbannt hatte. Dabei war es gar nicht das Mädchen selbst, das ihm zu schaffen machte, sondern es war das, woran sie ihn erinnerte. Sie sah aus wie Erika damals ausgesehen hatte. Längst verschwunden geglaubte Sehnsüchte waren schlagartig erwacht und das mit einer Unbändigkeit, dass er fürchtete, den Verstand zu verlieren. Der Schmerz über Erikas Verrat tobte aufs Neue in ihm und das mit einer Heftigkeit, die ihm mit erschreckender Klarheit vor Augen führte, dass er Erika niemals wirklich vergessen hatte; genauso wenig wie er ihr jemals hatte verzeihen können, dass sie ihn verlassen hatte, um einen Bananenrepublikaner zu heiraten.

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