Kapitel 53

In den Dörfern rund um den Berg erzählten die Großmütter an kalten Wintertagen denjenigen die zuhören wollten, wie einst eine Küchenmagd eine Königin rettete und wie am Ende alles gut wurde für das Land und die Leute im Reich und für den König, so wie es sich für ein gutes Märchen gehörte.

Es war einmal ein armes Mädchen, das von der Stiefmutter in den Wald geschickt wurde, um Kräuter zu pflücken. Ohne es zu merken, war es in der hereinbrechenden Dunkelheit vom Weg abgekommen. Da stolperte es plötzlich über ein Rehkitz, das, ebenso erschrocken über dieses unerwartete Zusammentreffen, blindlings die Flucht ergriff. Bertin, so hieß das Mädchen, schlug in ihrer Not denselben Weg ein und folgte dem kaum sichtbaren Pfad, den das Kitz genommen hatte. Durch dichtes Dornengestrüpp gelangte sie schließlich zu einer großen Lichtung. Erleichtert sah sie zum nachtblauen Himmel hinauf, dessen Sterne ihr freundlich zublinzelten. Müde und erschöpft wie sie war, ließ sie sich ins weiche Gras sinken und schlief auf der Stelle ein.
Fröhliches Vogelgezwitscher begrüßte Bertin, als sie von vorwitzigen Sonnenstrahlen, die sie an der Nase kitzelten, geweckt wurde. Der Morgentau war noch nicht getrocknet und hing klamm in ihrem Kittel. Um das Frösteln zu vertreiben, hüpfte sie ein paarmal auf und ab und schlenkerte kräftig mit den Armen. Da entdeckte sie auf einem Stein einen Krug mit warmer Milch und eine Schüssel mit süßem Kuchen, der herrlich duftete. Sie fragte nicht lange, dankte dem Herrgott für dieses köstliche Morgenmahl und aß mit gesundem Appetit. Es war lange her, dass sie so gut und so viel gegessen hatte. Die Stiefmutter meinte es nicht gut mit ihr; seit diese im Haus war, fristete sie ein kümmerliches Dasein als Küchenmagd. Der Vater schien sie vergessen zu haben; vielleicht erkannte er die in Lumpen gehüllte Tochter nicht mehr.
Als ihr Hunger gestillt war und sie nur noch aus Vergnügen an einem Stück Kuchen knabberte, sah sie sich genau um und wurde blass. Die Stelle, die ihr in der Nacht als rettende Lichtung im Waldesdickicht vorgekommen war, war in Wirklichkeit ein Hof, der von rosenbewachsenen Mauern eingerahmt war. Sie hatte die Nacht auf dem Hexenberg verbracht! In der Totenburg! Sie mochte sich gar nicht vorstellen, welche widerwärtigen Wesen ihr die Milch und den Kuchen hingestellt hatten, den sie leichtsinnigerweise so gierig verschlungen hatte.
Blitzschnell sprang sie auf und lief gehetzt am Gestrüpp entlang, dessen Rosen wie zum Hohn in verschwenderischer Pracht blühten. Umsonst! Sie konnte den Pfad, der sie hergeführt hatte, nicht finden. Die Dornen bildeten einen undurchdringlichen Wall. Gefangen! Die Stiefmutter würde sich schlimme Strafen ausdenken, weil sie so lange ausgeblieben war und überdies die befohlenen Kräuter nicht gefunden hatte. Bertin bedachte ihre ausweglose Lage und fing bitterlich an zu weinen. Ihr Schluchzen war zum Steinerweichen, doch die Rosen hatten ein hartes Herz und gaben den Weg nicht frei.
Wie sie so dasaß, ein heulendes Häufchen Elend, das schmutzige Gesicht von Tränenspuren durchzogen, der lumpige Kittel von Dornen zerfetzt, die bloßen Arme und Beine blutig gekratzt, noch nicht einmal Schuhe an den Füßen, raschelte es hinter ihr im Gebüsch. Erschrocken drehte sie sich um und sah einen König auf sich zukommen. Nicht dass sie jemals einen zu Gesicht bekommen hätte. Aber ihre Mutter war eine begnadete Erzählerin gewesen und so wusste sie genau, wie ein König auszusehen hatte.
Zartrot stieg Bertin die Verlegenheit in die Wangen, was man unter dem Schmutz kaum sehen konnte. Sein Anblick brachte ihre Seele zum Singen, und ihr reines Herz flog ihm zu, ohne dass einer von beiden es gewollt hätte. Sie liebte den König mit der ganzen Kraft ihres jungen Herzens und litt unsäglich unter der Trauer in seinen Augen, denn sein Herz gehörte seiner Königin, die tief unten im Berg in einer Gruft lag. Bertin, die nie um etwas gekämpft hatte, wuchs über sich selbst hinaus: um diese Liebe würde sie kämpfen. Einer Toten wegen wollte sich das Glück nicht versagen.
Sie ging fort, ließ ihn zurück und hielt sich im Wald verborgen, bis es dunkel wurde. Dann machte sie sich mit klopfendem Herzen auf den Weg. Eine flackernde Kerze in der einen, ein kleines Holzkreuz in der anderen Hand, stieg sie hinab in die unheimlichen Tiefen der Totenburg. Tapfer kämpfte sie sich durch armdicke Spinnweben, watete durch knietiefes Wasser und tat ihr Bestes, um die verschiedenartigen Höhlenbewohner zu übersehen und zu überhören. Mitternacht war längst vorüber als eine Ratte ihren Weg kreuzte und in einer unsichtbaren Felsspalte verschwand. Aufmerksam geworden nahm Bertin denselben Weg, tat drei Schritte in die undurchdringliche Finsternis hinein und ein Wunder geschah. Angelockt durch den Schein ihrer Kerze blitzten silberne Sterne auf.
Bertin fasste sich ein Herz und ging drei Schritte weiter, sah einen blauen Stein, darauf eine Gestalt und unterdrückte einen Aufschrei: Sie hatte die Königin gefunden. Nach einem langen, gewissenhaften Blick war sie ganz sicher: Die Königin war nicht tot. Sie wusste, wie Tote auszusehen hatten; was auch immer mit der Königin war, tot war sie nicht. Bertin bekreuzigte sich mehrmals. Was ging hier vor? Etwas war hier, das dem Pfarrer bestimmt nicht gefallen würde. Sicherheitshalber bekreuzigte sie sich abermals. Die Königin erinnerte Bertin in ihrer starren, gleichsam überirdischen Schönheit an die Statue der Jungfrau Maria in der Dorfkirche. Jemand, der der Heiligen Jungfrau so ähnlich sah, konnte nicht böse sein. Lange blieb Bertin stehen und sah ihre Rivalin nur an.
"Was soll ich nur tun?" flüsterte sie und zuckte erschrocken zusammen, als das Echo ihrer Worte wispernd in ihren Ohren widerhallte. "Was soll ich nur tun? Ihr liegt hier und rührt Euch nicht, doch der König trauert um Euch, es ist nicht recht, ihn zu binden. Gebt mir ein Zeichen oder gebt ihn frei. Sagt mir was ich tun soll, denn Ihr seid die Königin!"
In diesem Augenblick erschreckte Bertin eine vorbeifliegende Fledermaus. Sie stolperte rückwärts, Kreuz und Kerze fielen ihr aus der Hand. Die Kerze ging aus, doch das machte nichts. Bertin sah genug. Praktisch wie sie veranlagt war, bückte sie sich rasch und steckte Kreuz und Kerze in ihre Kitteltasche. Hier war beides überflüssig. Lauschend hob sie den Kopf und horchte auf das Flüstern. Etwas war verborgen, etwas, das es zu finden galt, etwas, das geradezu danach schrie, gefunden zu werden. Doch sie hatte keine Ahnung, wonach sie suchen sollte. Das Wispern und Flüstern, das sich emsig durch die Luft schlängelte, führte sie schließlich zu einem flachen Brunnenbecken. Bertin betrachtete skeptisch das bleigrau schimmernde Brackwasser. Nichts bewegte die Wasseroberfläche, aber Bertin hatte eine ziemlich genaue Vorstellung über das eklige Getier, das unter der Wasseroberfläche lauerte. Es kostete sie einige Überwindung, dort hineinzugreifen. Als sie es schließlich doch tat, glitt fast wie von selbst eine wunderschöne Kette in ihre Hand, und versprach ihr die Erfüllung eines Wunsches.
Den kostbaren Fund in der Hand, ging sie zurück zur Königin, die schon ungeduldig zu warten schien. „Du hast einen Wunsch frei!“ wisperte und flüsterte es in der Luft. „Du kannst sie verschwinden lassen!“ flüsterte die Eifersucht. Doch auf Bertin war Verlass. Die Eifersucht konnte ihrem reinen Herzen nichts anhaben. Erfüllt von der Liebe zu ihrem König tat sie das Einzige, was ihn glücklich machen würde. Sie kniete nieder, sprach ein Gebet an die Jungfrau Maria und legte der reglosen Königin die Kette um den blassen Hals. Mit zum Gebet gefalteten Händen stand sie neben ihr und wartete. Lange Zeit geschah nichts. Außer ihrem eigenen Atmen hörte Bertin kein Geräusch.
Etwas, das wie Donnergrollen klang, wurde immer lauter. Strahlend blaues Licht breitete sich in der Höhle aus. Die Luft glimmerte. Die geheimnisvollen Kräfte der Kette begannen zu wirken. Sie neutralisierten das Gift, das den Körper der Königin verseucht und ihre Seele vertrieben hatte. Ein leichtes Beben durchlief den Leib der Königin. Ihre Augenlider flatterten kurz, bevor sie sie mit einem Ruck aufriss und sich ebenso ruckartig aufsetzte.
"Liebes Kind, mein Dank sei dir gewiss!" Begütigend strich ihr die Königin übers Haar. "Du bist eine treue Seele. Ich werde nicht zulassen, dass du diesen Ort mit Trauer im Herzen verlassen musst. Das soll der Lohn nicht sein, den du für deine edle Tat bekommst." Etwas ungelenk vom langen Liegen erhob sich die Königin von ihrem steinernen Bett. Sie reckte und streckte sich ganz zwanglos und gähnte mehrmals heftig. Dann streckte sie sich noch ein wenig mehr, stellte sich auf die Zehenspitzen und pflückte einen der Höhlensterne, den sie Bertin in die Hand drückte. "Dies soll fortan dein Glücksstern sein. Hüte ihn gut."
Bertin betrachtete einigermaßen ratlos und ziemlich enttäuscht den grauen, unscheinbar aussehenden Stein. Nichts Außergewöhnliches konnte sie daran entdecken. Glücksstern! dachte sie empört. Das kommt davon, wenn man sich mit einer verzauberten Königin einlässt.
"Sei guten Muts, mein liebes Kind. Es scheint nur wenig zu sein, was ich dir gegeben habe, doch der Stein wird dich zeitlebens erfreuen. Glaube mir! Verborgene Kräfte wirken in ihm und er kann all deine Wünsche erfüllen. Doch wähle sorgsam und mit Bedacht."
Bertin sah die Königin, die mit einem zerschlissenen Gewand notdürftig bekleidet war und ziemlich hungrig aussah, zweifelnd an und dachte sich ihren Teil.
"Es Zeit für dich zu gehen. Dein Vater ist schon ganz krank vor Sorge über dein langes Ausbleiben. Fürchte dich nicht vor der Stiefmutter, sie wird dir nicht mehr schaden."
Bertin hoffte inständig, dass die Königin ihr tatsächlich einen Glückstern geschenkt hatte und tatsächlich über hellseherische Fähigkeiten verfügte und sich nicht nur etwas ausgedacht hatte, um sie loszuwerden. Für Bertin gänzlich unerwartet trat die Königin auf sie zu, flüsterte ihr etwas ins Ohr und beide lachten. Königin und Küchenmagd teilten fortan ein Geheimnis. Nun war alles gut und Bertin konnte frohgemut nach Hause gehen. Sie zündete die Kerze wieder an und machte sich auf den Weg und die Königin folgte ihr. In der rosenheckenumkränzten Lichtung wartete der König im sanften Mondlicht gerade so, als wüsste er, dass ein Wunder geschehen war. Er nahm die Königin beider Hand und beide geleiteten sie Bertin durch das Waldesdickicht zurück nach Hause, wo der Vater voll Sorge schon nach Bertin Ausschau hielt. Und auch alles andere traf ein wie von der Königin vorhergesagt und Bertins Leben war fortan voller Glück und Frohsinn.

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