Kapitel 39

Gleich zu Beginn der Reise ließ die wasserstoffblonde Rentnerin vor Alexander ihre Rückenlehne zurückschnappen. Ihrem Beispiel folgend, drückte er auf den Knopf an seinem Sitz und lehnte sich ein wenig zurück. Sofort brummte es übermäßig laut von hinten vor: "Na, hörnse mal, junger Mann, so geht das aber nicht ...!" Natürlich brachte Alexander die Lehne sofort wieder in eine senkrechte Position. Seine Nebenfrau sah ihn missbilligend an und öffnete knisternd ein Wurstbrotpäckchen. Sie war sehr dick und in schreiendes Pink gehüllt. Sie hatte ihren massigen Arm fest auf der Armlehne verankert und sah ihn äußerst misstrauisch an, sobald er seinen Körper auch nur einen Millimeter in ihre Richtung verlagerte. Ihr wohlgefüllter Proviantbeutel stand auf dem Boden zwischen ihnen, was Alexanders Bewegungsmöglichkeiten zusätzlich einschränkte. Alle halbe Stunde kramte sie in diesem Beutel herum und förderte ein Leberwurstbrot zutage. Als sich bei ihm der Hunger meldete, stieg sein Wunsch nach einem dieser aufdringlich riechenden Leberwurstbrote ins Unermessliche. Proviant einzupacken hatte er in der Aufregung vergessen. Fast bewegungsunfähig, hungrig und durstig und ohne Aussicht auf Besserung oder Ablenkung, überrollte Alexander eine gewaltige Welle Selbstmitleides. Er wollte auch essen und trinken, er wollte auch seine Rückenlehne zurückkippen. Überdies fror er erbärmlich, denn sowohl er als auch die Klimaanlage des Busses waren auf Hitzewelle eingestellt. Der einzige warme Pullover, den er überhaupt dabeihatte, lag unerreichbar im Laderaum des Busses.
Trübsinnig brütete er vor sich hin. Wie gern wäre er jetzt zu Hause. Er nahm sich fest vor, seinen Eltern zu schreiben, sobald er angekommen war. Vorausgesetzt natürlich, er würde nicht vorher verdursten oder erfrieren. Wie hatte er sich bloß dazu durchringen können, diese Reise ins Ungewisse mitzumachen! Er musste wirklich von allen guten Geistern verlassen gewesen sein! Er bereute es bereits zutiefst, sich auf dieses waghalsige Abenteuer eingelassen zu haben. Allein Marianna und Eva hatte er es zu verdanken, dass er in diesem Reisebus gelandet war, eingepfercht zwischen diesen rücksichtlosen Alten. Sowohl Marianna als auch Eva hatten ihn dazu gebracht, Dinge zu tun, die er von sich aus niemals getan hätte. Und Vince war nicht besser. Hatten seine Ratschläge auch nur irgendetwas geholfen? Vince war doch nichts weiter als ein unzuverlässiger Alkoholiker. Nie wieder wollte er etwas mit ihm zu tun haben. Alle hatten sie ihn verraten! Am liebsten wäre er auf der Stelle umgekehrt. Schließlich kam er zu der Erkenntnis, dass es das Beste sein würde, sich gleich nach der Ankunft eine Rückfahrkarte zu kaufen. Es reichte! Er drehte den Kopf und sah sich um. Alle anderen, der Busfahrer ausgenommen, schliefen und träumten sich ihrem sonnigen Ferienziel entgegen. Es war einfach ungerecht! Stumpfsinnig starrte er aus dem Fenster.

Er erwachte als der Bus an einem Rasthof anhielt. Mühsam quälte er sich aus seinem Sitz und spürte dabei schmerzhaft er jeden Knochen. Eva begrüßte ihn fröhlich. Sie sah wunderbar frisch und erholt aus. Kein Wunder, dachte Alexander mürrisch und bemühte sich nicht um Freundlichkeit, die hat da vorne ja auch genügend Platz und garantiert einen ausreichend großen Vorrat an Schokoriegeln und Mineralwasser. Mit unnachgiebig grimmigen Gesichtsausdruck folgte er ihr und ließ sich von ihr bedienen. Das war nur mehr als gerecht. Als er satt war, ging es ihm wieder besser und er entschuldigte sich schnell bei Eva. Sie war ihm nicht böse deswegen, sondern lachte nur und gab ihm den dringenden Rat, sich mit ausreichend Reiseproviant seiner Wahl einzudecken.
Wie er so dasaß, fiel sein Blick auf ein ungeniert turtelndes Liebespärchen ein paar Tische weiter. Dieser Anblick fuhr wie ein Dolchstoß in sein Herz. Zu lieben und geliebt zu werden, das war doch das größte Geschenk, das das Leben zwei Menschen machen konnte. Auch er hatte geliebt. Wie töricht war er gewesen, sich einzubilden, dass Liebe automatisch Gegenliebe nach sich ziehen müsste. Wie töricht war er gewesen, sich einzubilden, dass er nun nie mehr allein sein würde. Es war so bitter! Nicht um Liebe war es Marianna gegangen, sondern nur um die Befriedigung ihrer Lust. Sie erst hatte sein Begehren geweckt, das fortan mächtig und zwingend nach ihr verlangt hatte. Mit ihrer widerwärtig berechnenden Art hatte sie natürlich sofort erkannt, was sie mit ihm anstellen konnte, und seither trieb sie ihr raffiniertes Spiel. Zärtlich und abweisend zugleich, band sie ihn innerhalb kürzester Zeit unlösbar an sich. Sie hatte ihn mit ihrer verführerischen Weiblichkeit geködert und ihn vergessen lassen, dass er das, was sie so großzügig anbot, niemals hätte annehmen dürfen. An ihre letzte Begegnung würde er immer nur mit Scham und Entsetzen zurückdenken können. Doch er war zu jung und zu unerfahren gewesen, um ihr grausames Spiel zu durchschauen. Nichts als Kummer und Leid hatte Marianna ihm gebracht. Und doch: er sehnte sich trotz alledem schmerzhaft nach ihr und vermisste sie mehr denn je. Er verzehrte sich geradezu nach ihr und wurde ganz wild vor Verzweiflung bei dem Gedanken, dass er sich mit jedem Kilometer weiter von Marianna entfernte, und das, obwohl sie seine Liebe mit Füßen getreten hatte.

Eva, die ihm ansah, was ihm durch den Kopf ging, setzte sich neben ihn und nahm ihn mitfühlend in den Arm.
"Es ist alles so schrecklich!" jammerte er. "Am liebsten würde ich sterben. Wenn ich sie doch nur vergessen könnte, sie und alles was geschehen ist! Alles vergessen und nie wieder dran denken will ich. Mir ist so elend. Sie lässt mich einfach nicht los. Manchmal glaube ich, daran ersticken zu müssen."
Ein abgrundtiefer Seufzer entrang sich seiner Brust und Eva erkannte, dass sie nichts, aber auch gar nichts für ihn tun konnte. Also verdrückte sie sich wieder und ging los, um die Senioren zum Aufbruch zu mahnen. Sehr viel länger hätte sie es ohnehin nicht neben Alexander ausgehalten. Die unermessliche Trostlosigkeit, die ihn umgab, hatte die Ausmaße eines Zirkuszeltes und die Undurchdringlichkeit einer Bleiwand. Die Gefahr, dass davon etwas auf sie abfärbte war viel zu groß. Sie wollte sich keinesfalls dazu verführen lassen, ebenso mutwillig in ihrem eigenen, durchaus auch liebeskummermäßig belasteten Herzen herumzustochern. Das galt es auf jeden Fall entschieden zu verhindern.

Allmählich änderte sich Landschaft und Wetter; der sonnige Süden mit seinen Versprechungen rückte näher. Ungehindert von Wolken, strahlt die Sonne von einem paradiesisch blauen Himmel herab. Wohlgefällig musterte Eva das friedliche Behagen auf den Mienen der ihr Anvertrauten. Sie setzte ihre Sonnenbrille auf und genoss die kraftvollen Sonnenstrahlen, die liebkosend über ihr Gesicht glitten. Sie ertappte sich bei dem Gedanken, dass es schön wäre, wenn sie diesen Augenblick zusammen mit Vince erleben könnte. Süße Sehnsucht hatte sich eingeschlichen, und ihr junges Blut jagte, getrieben von einer wilden Melodie, heftig pulsierend durch ihre Adern. Einige köstliche Sekunden lang gab sie sich diesem Gefühl hin, bevor sie es resolut unterdrückte und jede weitere Erinnerung an diesen Mann aus ihren Gedanken strich. Sie hatte anderes zu tun, als dem süßen Rauschen ihres Blutes zu lauschen und einem Mann hinterherzuschmachten; das war etwas für liebesromanlesende, frustrierte Hausfrauen. Vor allem wenn die Liebesglut dieses Mannes noch nicht einmal dazu ausgereicht hatte, in ihrem Beisein wachzubleiben. Es wäre ihr wahrscheinlich nicht so schnell gelungen, hätten nicht in diesem Moment quäkende Stimmen nach ihr gerufen.

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