Kapitel 43

Es war ein Donnerstag abend, als Antonio sehr geheimnisvoll tat und Alexander ein Vergnügen ganz besonderer Art versprach. Wie immer, ging Antonio forsch voraus und Alexander, befangen und aufgeregt, hinterher. Antonio drückte einen gut versteckten Klingelknopf und kurz darauf öffnete sich eine unauffällig aussehende Tür. Er verhandelte eine ganze Weile mit dem Türsteher, bevor sich dieser schließlich herabließ, die beiden einzulassen.
"Der ist neu hier und kennt mich noch nicht", erläuterte Antonio, dem diese Verzögerung etwas peinlich war. Schließlich hatte er einen Ruf zu verlieren! Alexander nickte verständnisvoll und lächelte gutmütig. Bisher waren sie auf ihren Ausflügen in das Nachtleben der näheren und weiteren Umgebung noch an keinem Türsteher gescheitert.
Ein Vorhang aus Perlenschnüren trennte Eingangsbereich und Schankraum. Er war langgezogen, relativ schmal und karg möbliert. Auf der einen Seite befand sich der Tresen mit Barhockern davor und auf der anderen ein schmales Brett, gerade breit genug, um Aschenbecher und Gläser abzustellen. Barhocker und Wände waren mit Plüsch bezogen. Mattrötliches Licht ergoss sich darüber und verdeckte, dass alles dringend renovierungsbedürftig war, was aber niemand zu stören
schien, denn die Bar war gut besucht.
Aus der Menge stachen ein paar junge, kaum bekleidete Wesen beiderlei Geschlechts hervor. Sie saßen oder standen in aufreizenden Posen herum und verbargen ihre Langeweile nur unzureichend. Ein Lächeln holten sie nur dann hervor, wenn sie dafür einen Drink bekamen. Der Barkeeper polierte eifrig mit einem fleckigen Geschirrtuch über den Tresen. Ebenso unermüdlich war er darin, sich die Hände an einer ehemals weißen Schürze, abzuwischen. Sein schütteres, fettiges Haar, das bis über die Schultern reichte, umrahmte ein zerfurchtes Gesicht, das scheinbar nur aus einer Hakennase und dichten, zusammengewachsenen Augenbrauen bestand; es war aufsehenerregend hässlich. Die Drinks servierte er mit ausdrucksloser Miene und bestechender Überheblichkeit.
Am Tresen drängelten sich seriös aussehende Geschäftsleute, auf der Suche nach Ablenkung und Entspannung nach einem aufreibenden Tag. Sie tranken und rauchten, schweigsam oder redselig, ganz nach Bedarf. Zu begießen gab es immer etwas: einen Erfolg, einen Verlust oder einfach nur das Ende des Arbeitstages.
Alexander behagte die Umgebung nicht besonders, aber er machte gute Miene, als Antonio ihn einigen Bekannten vorstellte. Kaum eine halbe Stunde später verschwand Antonio mit einer Eroberung, nicht ohne sich vorher zu vergewissern, dass Alexander ebenso wohlversorgt war. Die hilfesuchenden Blicke ignorierte er verständnislos, denn er war sich ganz sicher, Alexander einen Gefallen getan zu haben.
Eingekeilt zwischen drei Geschäftsfrauen, die fast immer gleichzeitig redeten, entweder mit ihm oder untereinander und dabei gegen die Musik anbrüllten, saß er angespannt auf einem der Plüschhocker. Dabei behielt er den Ausgang im Blick, denn er hoffte, dass Antonio schnell wieder zurückkäme. Eine kleine Weile würde noch auf ihn warten, entschied er, und dann würde er gehen. Er trank sein Glas aus, und dann ein zweites und ein drittes. Schließlich tat der Alkohol seine Wirkung und er entspannte sich.

Der Geräuschpegel nahm jäh ab, als eine großgewachsene, sehr schlanke Frau durch den Perlenvorhang trat. Sie trug burschikose Kleidung, dazu Hut und Handschuhe. An diesem Ort wirkte sie fehl am Platze, weder Geschäftsfrau noch Animierdame, wurde sie von neugierigen Blicken bombardiert und jeder machte sich so seine Gedanken. Schließlich hatte man genug gesehen und der Geräuschpegel schwang wieder auf sein übliches Maß zurück.
Auch Alexander starrte sie an, wie alle anderen auch. Schnell sah er weg, als sich ihre Blicke begegneten und ihm wurde plötzlich kalt.
Dann stand sie vor ihm. Alexander wollte sie nicht ansehen, doch sie ließ es nicht zu, sondern fasste seine Gesicht am Kinn mit festen Griff drehte es hin zu ihr. Ihr exotisches Parfüm stieg ihm in die Nase und vernebelte seinen Verstand. Sie zog einen silbernen Flachmann aus der Tasche, schraubte ihn auf, nahm einen Schluck und drückte Alexander das Fläschchen in die Hand. Er nahm es automatisch und trank, auf ein Zeichen von ihr, alles aus. Als sie seine Hand nahm und ihn mit sich zog, folgte er ihr. Alexander wurde ganz heiß vor Verlegenheit, als ihm der Türsteher zuzwinkerte; es war ganz klar, was er dachte.
Die Fremde führte Alexander zu einem schmalen Klippenweg, den zu betreten schon bei Tageslicht ein riskantes Unternehmen war. Er sperrte sich ein wenig, doch sie zog ihn energisch mit sich und er stolperte hinterher. Weit unten donnerten monoton die Wellen gegen die Felsen, ein idealer Pfad für Selbstmörder und … Mörder. Er erinnerte sich gehört zu haben, dass vor nicht allzu langer Zeit der zerschmetterte Körper eines jungen Mannes unten in der Bucht gefunden worden war. Alexander beschlich eine unbestimmte Angst und es kostete ihn große Mühe, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Dennoch ließ er sich von der Frau mitzerren, kam nicht auf die Idee, sich zu wehren. Er stolperte mehrmals und wäre gestürzt, wenn die Frau ihn nicht festgehalten hätte. Als der Weg etwas breiter wurde, stieß sie unversehens einen raubtierhaft Schrei aus, riss Alexander an sich und presste ihre Lippen auf seinen Mund. Ihre Hände wussten genau, was sie tun mussten, und entlockten ihm jäh ein lustvolles Stöhnen. Wie ein Ertrinkender klammerte er sich an sie und überließ sich dem Feuer, das sie entfachte. Er fühlte sich wie von Eiswasser übergegossen, als sie sich abrupt zurückzog.
"Es darf nicht sein!" keuchte sie und rückte mit fahrigen Bewegungen die etwas in Unordnung geratene Kleidung zurecht. Widerspruchslos ließ er sich erneut mitzerren, als sie hastig weiterging. Stolperte er, quittierte sie sein Ungeschick mit einem heftigen Fluch.
Am Ende des Klippenweges, auf dem Parkplatz, stand eine große Limousine: schwarz mit mattdunklen Scheiben, die Tür stand auf. Die Frau drückte Alexanders Kopf nach unten, bugsierte ihn auf den Rücksitz und schlug von außen die Tür zu. Sie setzte sich auf den Beifahrersitz und der Wagen fuhr mit kaum wahrnehmbaren Motorengeräusch davon.

Alexander wurde unsanft auf die Beine gestellt. Im gleißenden Sonnenlicht kniff er geblendet die Augen zusammen. Ganz in der Nähe blökten Tiere, Zaumzeug klirrte leise, eine Stimme bellte Befehle. Eine leichte Brise kam auf, brachte einen Sandschleier zum Tanzen und ihn zum Niesen. Dennoch war er sich sicher, dass er nur träumte. Graugelber Sand erstreckte sich soweit das Auge blickte, großartig, erhaben, unendlich. Weit hinten am Horizont vereinte sich das sanfte Blau des wolkenlosen Himmels mit dem graugelben Sand.
Inmitten dieser herrlichen Wüste ragten die dunklen Zinnen der Festung Mutabor bedrohlich in den Himmel hinein. Grausiger Herr dieser Festung war der Edle Thumbor und sein Alchimist. Ein Zufall hatte es gefügt, dass sie sich die Ewigkeit untertan machten. Der Zufall hatte aber auch einen hohen Preis für diese Herrschaft festgelegt: sie waren Gefangene ganz besonderer Art.
Alexander hätte sich fürchten müssen, doch er tat es nicht, es war doch nur ein Traum. Dennoch hatte er unbändigen Durst, wollte aufstehen und zum Wasserhahn gehen. Da streifte ihm jemand das Hemd über den Kopf, zog ihm Hose und Schuhe aus, er sträubte sich, aber vergeblich. Jemand band ihm einen Strick um den Hals und zog in mit sich, Alexander stolperte hinterher. Den Kopf gesenkt, trottete barfuß durch den flimmernden Wüstensand. Die Sonne brannte vom Himmel herab, dörrte ihn aus und verbrannte seine Haut. Er stolperte immer häufiger, bis er nicht mehr aufstehen konnte.

Die Antagonista stand im Torbogen und beobachtete die Ankunft des siebten Auserwählten. Es hatte sehr lang gedauert, bis er gefunden worden war, nun endlich waren sie vollzählig. Sie beugte sich hinab, nahm ihm den Strick ab und umwickelte sein Gesicht mit schwarzen Stoffstreifen, nur der Mund blieb frei. Einer ihrer Krieger hob ihn hoch und trug ihn zur Halle der Bestie. Ein weiterer Krieger öffnete das Tor ein Stück, die Antagonista übernahm den ohnmächtigen Jungen und trat ein. Hinter ihr wurde die Tür geschlossen. Die Halle, einst ein Turm, hatte kein Dach, die oberen Stockwerke fehlten. Dennoch war es dämmrig, denn der Leib der Bestie verhinderte, dass das Licht ungehindert zu Boden fiel. Gemessenen Schrittes trat sie vor und legte ihre Last an der dafür vorgesehenen Stelle ab. Der Kreis nun war komplett, das Opfer konnte beginnen.
Die Antagonista verließ die Halle und begab sich in ihre Gemächer. Ihr Teil war getan. Später würden die Krieger die Opfer zu den Hütern bringen. Und noch später würde der Alchimist und seine Helfer das Madral einsammeln.

Alexander erwachte. Mit einem erstaunten Ausruf sah er sich um, denn ihn umgab der Luxus aus tausendundeiner Nacht. Er lag auf einem daunenweichen Diwan, gebettet in samtene Kissen, eingehüllt in ein Gewand aus edler Seide, das seiner Haut schmeichelte. Unzählige Kerzen tauchten den Raum in anheimelndes Licht und machten das Erwachen zu einem Genuss. Räucherwerk brannte in einem goldenen Becken und erfüllte die Luft mit Wohlgeruch. Winzige graue Vögel mit knallroten Schnäbeln flatterten im Geäst eines hellgrünblättrigen Bäumchens. Ihr aufgeregtes Gezwitscher unterstrich den monotonen Ton, den ein Knabe, angetan mit rotgrün gestreiftem Turban und rotblau gestreiften Pluderhosen, in konzentrierter Gleichmütigkeit einem Gong entlockte. Der Ton war leise und tief und brachte die Körperzellen zum Vibrieren. Eine Schale mit Früchten stand neben seinem Bett und eine Karaffe mit frischem Wasser. Es hätte das Paradies sein können, gäbe da nicht die Fessel an seinem rechten Fußgelenk. Ein schweres Eisenband umschloss seinen Knöchel. Das raue Metall hatte die Haut aufgescheuert und gerötet. Stellenweise war sie entzündet und bei jeder Bewegung wurde er daran erinnert, dass er nicht träumte, obwohl er es so gerne geglaubt hätte.
Eine hagere Frau mit freundlichem Gesicht fütterte und wusch ihn regelmäßig und behandelte seinen Körper mit einer faulig riechenden Flüssigkeit. Es schien eine gute Medizin zu sein, trotz des schlechten Geruches, denn seine Wunden verheilten schnell und vollständig.
Die Frau sang oft leise vor sich hin, blieb sonst aber stumm. Alexander sang auch manchmal, bis ihm die Worte ausgingen, bis er stumm wurde, bis er vergessen hatte, dass er jemals hatte singen, sprechen oder denken können. In seinem Kopf nistete eine gefräßige Leere, die jedweden Gedanken absorbierte. Der Unterschied zwischen Wachen und Schlafen war verschwunden. Zu wirklich waren seine Träume, zu traumhaft seine Wirklichkeit. Die Zeit floss in verflochtenen Windungen, schleuderte ihn an unaussprechliche Orte, wann immer es ihr beliebte. Manchmal hörte er im Traum sakral anmutende Gesänge, gesungen von greisen Mönchen in goldglänzenden Kutten. Manchmal träumte er von einem dunklen Verließ, wo Wasser an den Wänden herabfloss war und er von Ratten belagert wurde. Einzige Konstante in dem ganzen Durcheinander waren die Fesseln an seinen Füßen.

Sieben Makellose, vom Alter unberührte Körper, lagen nackt auf dem Boden ausgebreitet. Rauch stieg aus unzähligen Schalen empor. Die edlen Damen und Herren des Hofstaates machten sich an den jungen Leibern zu schaffen. Flackernder Kerzenschein verdeckte ihre Gebrechlichkeit nur unzureichend, als sie versuchten, mit ausgedörrten Geschlechtsorganen die rituelle Vereinigung zu vollziehen. Gemeinsam sollten die ekstatischen Schrei der Auserwählten und der Edelleute die Halle erfüllen, so war es vorgeschrieben, so wollte es die Bestie. Letztendlich waren es die Gehilfen des Meisters die dafür sorgten, dass zumindest das ekstatische Stöhnen der Auserwählten die Halle erfüllte. Für das Versagen der Edelleute mussten die Auserwählten bitter bezahlen: Wilde Krieger verprügelten sie mit brachialer Gewalt, wobei diese so umsichtig zu Werke gingen, dass keine Knochen brachen oder unheilbare Verletzungen eintraten. So unversehens wie es begonnen hatte, endete das Wüten. Behutsam umwickelten die sodann die Köpfe der Auserwählten mit schwarzem Stoff, trugen sie in den Turm der Bestie und ketten sie an die dort bereitstehenden Pfähle.

Er erwachte mit einem Aufschrei, als jemand ihn in ein Bett legte. Weiße Schleier tanzten vor seinen Augen. Sein Körper schmerzte bei der kleinsten Bewegung. Und doch glaubte er zu träumen, denn ihn umgab der Luxus aus tausendundeiner Nacht. Er lag auf einem daunenweichen Diwan, gebettet in seidenweiche Kissen, eingehüllt in ein Laken aus edlem Stoff, das ihn die Schmerzen seines geschundenen Körpers vergessen ließ. Sanfter Kerzenschimmer war eine Wohltat für seine Augen. Räucherwerk brannte in einem goldenen Becken und erfüllte den Raum mit dem vertrauten Duft nach Sandelholz. Er hatte Hunger und Durst, ihm war heiß und kalt zugleich.
Ein hagerer Mann half ihm, sich etwas aufzurichten und flößte ihm Wasser und Suppe ein. Das Laken rutschte weg und er sah, dass kaum eine Stelle seines Körpers nicht verbunden war. Was war nur geschehen? Ein scharfer Schmerz flammte auf, rüttelte an seinen Nerven und ganz vage erinnerte er sich daran, dass er schon einmal von solch einem Ort geträumt hatte.
"Was ... ist ... passiert? Wo bin ich? Ich kann mich nicht erinnern, ein Unfall ...?“, krächzte er mit eingerosteten Stimmbändern.
"Still!" befahl Aladin mit sanfter Stimme. „Sprich nicht, stell keine Fragen, denke nicht, bewege dich nicht, dann wird alles gut. Sorge dich nicht, denn du bist der Auserwählte. Eine schwere Zeit liegt hinter dir, doch bald werden deine Verletzungen verheilt sein, du bist jung und stark, du wirst schnell genesen. Der heilige Zorn der Edlen ist über dich gekommen. Doch ich danke dir, auch in ihrem Namen, dass du dich unterwirfst, denn durch das Opfer der Auserwählten fließt das Madral, das uns allen die Erneuerung bringt. Ich werde ich Josse nennen, das ist ein guter Name für einen Auserwählten, der vor seinem letzten Opfergang steht. Doch zuerst musst du völlig gesund werden und bis dahin werde ich für dich sorgen, und wenn es dir besser geht, werde ich dir die Festung zeigen, auf dass du dich an ihrer Schönheit erfreuen kannst.“
Er nickte ergeben und ohne zu verstehen und schlief wieder ein, so geschah es viele Male hintereinander. Nach jedem Erwachen fühlte er sich kräftiger, bis er eines Tages schließlich ohne Hilfe aufstehen konnte. Aladins Tränke und Salben hatten bewirkt, dass seine zum Teil recht schweren Verletzungen narbenlos verheilten waren. Lediglich ein heller Ring um seine Hand- und Fußgelenke gemahnte ihn zuweilen an vergangene Träume.

Mutabor war eine Festung mit gewaltigen Mauern und großen Hallen. Die Gänge, die sie verbanden, waren so beschaffen, dass fünf Kamele samt Reiter problemlos Platz fanden. Bewacht und gesichert wurde die Festung von Kriegern, nur wenig an der Zahl, aber sehr effizient. Schon lange war es niemand mehr gelungen, die Festung ohne königliche Erlaubnis zu verlassen.
Aladin und Josse durchstreiften die Festung stets allein und ohne jemand zu begegnen. Josse störte das nicht, er brauchte nur Aladin, der zaubern konnte mit Worten und Mutabor in einen wunderbaren Ort verwandelte, in einen Ort der Freude und immerwährenden Lustbarkeiten. Aladin kannte viele Geschichten über den Edlen Thumbóo und seinen Hofstaat, ja, über jeden, der in Mutabor lebte und eine war spannender als die andere.
In wolkenlosen Neumondnächten stieg Aladin mit Josse hinauf zum höchsten der Türme, zeigte zu fernen Sternen und erzählte, dass die Bestie einst von dort gekommen war.

Mit traurigem Gesichtsausdruck betrachtete Aladin ein letztes Mal seinen schlafenden Schützling; ihre gemeinsame Zeit war zu Ende. Niemals würde er sich daran gewöhnen, sie immer wieder zu verlieren. Doch es stand ihm nicht zu, das Schicksal in Frage zu stellen. Dieser war nicht der Erste, der übel zugerichtet zu ihm gebracht worden war, und würde auch nicht der Letzte sein. Es war eine Strafe, hatte die Antagonista ihm einst erklärt, und er fragte sich jedes Mal, was die jungen Leute sich wohl hatten zuschulden kommen lassen, dass sie derart hart bestraft wurden.

„Die Zeit des dritten Opfers ist gekommen“, deklamierte Aladin laut und weckte damit den Auserwählten. Vorbei war die Zeit der Vertraulichkeiten, der Vergnügungen und der farbenprächtigen Gewänder: Ein Sarong aus schwarzem Tuch, einen goldenen Reif im Haar, mehr bedurfte es nicht an diesem Tag.
„Was ist los? Was schaust du so komisch?“ fragte er verstört. „Ich habe Durst!“ fuhr er in leicht quengelndem Tonfall, denn ihm gefiel gar nicht, wie es heute Morgen zuging. „Und mir ist kalt!“
"Schweig still! Störe nicht die Zeit des Abschieds durch unbotmäßige Gelüste. Bald schon trennen sich unsere Wege. Du wirst eingehen in die dunkle Welt von Mutabor, während ich hier bleibe und getreulich dienen werde denen, die dir nachfolgen. Nur wenig Zeit bleibt uns noch, bevor ich dich der Obhut der Antagonista übergebe. Lass uns die Zeit schweigend verbringen. Ein Abschied wird nicht leichter dadurch, dass man ihn zerredet." So sprach Aladin, umarmte ihn wortlos und nahm ihn fest in die Arme.
Ein Gong ertönte, die Tür schwang auf. Aladin ließ ihn ruckartig los, schenkte ihm ein letztes Lächeln, bevor er sich abwandte, das auf dem Tisch bereitliegende Schwert aufhob und es ihm überreichte.
„Ein Schwert? Für mich? Aus … Plastik?“ fragte er und lachte laut, brach jäh jedoch ab. Plastik war etwas war, das nicht hierher gehörte.
„Es ist aus Holz“, antwortete Aladin, „und in den alten Legenden werden Bestien mit dem Schwert erschlagen. Deswegen führen die Auserwählten ein Schwert mit sich. Du weißt, dass ich dir das erklärt habe.“
Er nickte, weil ihm wieder alles einfiel.

„Trink!“ befahl die Antagonista und reichte ihm einen Kelch. Gehorsam trank er das brodelnde Gebräu bis zur Neige. Es schmeckte nach Zimt und Rosenwasser und brannte eiskalt in seiner Kehle.
„Du weißt, was du zu tun hast?“ fragte sie und er nickte bekräftigend.
Die Antagonista ging links, die Hand leicht auf seine Schulter gelegt, um ihn zu führen. Rechts trug er das Schwert, die Spitze vorschriftsmäßig nach hinten unten gerichtet. Seite an Seite betraten sie die Halle des Herrschers, wo sie empfangen wurden von Thumbóo und seinem Hofstaat. Allesamt trugen sie kostbare Gewänder, doch die Seide war rissig und stumpf vom vielen Gebrauch, auch ihre Gesichter waren verschlissen. Knotige, verkrümmte Finger umklammerten kostbare, aber leere Becher. In alterstrüben Augen glomm ein gieriges Feuer. Die Edelleute von Mutabor zischten mit zahnlosen Mündern und riefen nach Madral. Daneben standen Krieger mit ebenmäßigen Körpern und schönen Gesichtern, doch in ihren Augen glomm derselbe Wahnsinn wie bei den übrigen.
Dieser Anblick bewirkte, dass sich die Droge, die ihn bislang fest im Griff hatte, schlagartig verflüchtigte. Alexander sank auf die Knie, weil ihn eine Welle heftigster Übelkeit überkam, als die Erinnerung einsetzte
Die Krieger schlugen mit ihren Säbeln auf die Schilde, es war ein Rhythmus, den sie vorgaben und in den die anderen mit einfielen, mit Händen und Füßen, die kostbaren Becher fielen scheppernd zu Boden.
Die Erinnerung überkam ihn mit solcher Heftigkeit, dass Alexander abermals würgte. Das waren die Leute, die ihn erst vergewaltigt, dann verprügelt und am Ende an einen Marterpfahl gebunden hatten, ihn und die anderen.
Er übergab sich laut, was ihm einen heftigen Schlag auf den gebeugten Rücken einbrachte. Er wurde unsanft auf die Beine gestellt. Jemand fuhr ihm mit einem nassen Tuch grob übers Gesicht. Jemand drückte ihm das Schwert in die Hand. Jemand verband ihm die Augen. Alexander sackten die Knie weg, doch der feste Griff der Krieger, verhinderte, dass er umfiel.

Zeitgleich betraten sieben Kriegerpaare mit je einem Auserwählen zwischen sich die Halle. Manche der Auserwählten gingen aufrechten Hauptes und stolz im Wissen um ihre Aufgabe, andere halb getragen, alle jedoch mit verbundenen Augen. Die Krieger geleiteten sie zu einem Kreis aus hellem Sand, halfen ihnen, sich niederzuknien, legten ihnen die Hände um den Schwertknauf und lösten die Augenbinden. Ein Trommelwirbel begann und als er aufhörte, stießen die sieben Auserwählten ihre Schwerter auf den Boden wo sie zersplitterten; ein Zeichen der Demut gegenüber der Bestie. Und Alexander schrie auf vor Entsetzen, schrie, wie er niemals zuvor geschrien hatte.

Die Dunkelheit war keine Dunkelheit, sondern der gewaltige Leib der Bestie, umwogt von grau fließenden Schatten. Tentakeln schwangen hin und her, Kiefer schnappten, Greifarme fuhren ziellos durch die Luft, Schwanzspitzen zuckten unkontrolliert, Beine stampften auf den Boden. Schlagartig hörte der grausige Tanz auf, die Bestie streckte ihre Gliedmaßen ehrfurchtgebietend in die Höhe und verharrte still. Poren öffneten sich und sonderten eine Flüssigkeit ab.
Tränen nannten die Menschen diese Flüssigkeit und die Bestie, so sagten sie weinte, weil sie die Schmerzen der Auserwählten nicht aushalten konnten. Diese Tränen aber waren es, die ihnen körperliche Unversehrtheit schenken, denn damit ließ sich die Ewigkeit in einem alten Körper ertragen.
Obwohl es keine Tränen waren, stimmte die Vorstellung dennoch in gewisser Weise. Die Bestie sonderte die Flüssigkeit dann ab, wenn es Verletzungen emotionaler oder körperlicher Art zu heilen gab. Es handelte sich hierbei um einen der Bestie innewohnender Reparaturmechanismus, ohne den sie in der Fremde nicht so lange hätte überleben könne. Die Heilung gelang dadurch, dass verletzte Zellen in den gesunden Zustand ein Stück davor rückversetzt wurden. Das war etwas, das endlos funktionierte, zumindest bei der Bestie.
Mit der Zeit hatte sich in Mutabor ein aufwendiges Ritual herausgebildet, mit welchem die Bestie dazu gebracht wurde, die benötigten Mengen der Flüssigkeit, die Madral genannt, zuverlässig abzusondern. Nicht zu heilen vermochte das Madral jedoch den Einfluss der vielen Hundert Lebensjahre auf den Geist der Menschen.

Alexanders Schwert war nicht zerbrochen, noch immer umklammerte er den Knauf mit beiden Händen. Er hörte erst auf zu schreien als er spürte, wie etwas auf ihn tropfte. Der faulige Geruch war ihm vertraut.
Überdeutlich spürte er den Sand unter seinen Knien, den Schwertknauf in seinen Händen, die Masse des monströsen Lebewesens über ihm. Die anderen lagen reglos auf dem Boden, gut sichtbar auf dem hellen Sandkreis, ohnmächtig oder tot. Er fühlte mit Grauen, wie die Flüssigkeit in seine Haut eindrang, feinen Nadelstichen gleich. Der faulige Geruch und das grauenhafte Gefühl der ihn seinen Körper eindringenden Flüssigkeit schärfte seine Sinne auf abnorme Weise. Er spürte die Bestie, mehr und mehr, bis er schließlich restos ausgefüllt war davon. Hätte Alexander dies in Worte fassen müssen, wäre es nicht gelungen. Aber sein Gefühl war eindeutig: dieses Wesen fort wollte. Er fühlte, was er tun musste, um zu helfen und er fühlte Dankbarkeit, denn das Wesen hatte auf jemanden wie ihn gewartet. Er fühlte die Unmenschlichkeit dieser Kreatur mit erschreckender Klarheit, ihren Wille zum Überleben und vor allem den tiefen Wunsch, diesen Ort zu verlassen. Für ihre Umgebung oder gar für die Menschen und ihre Rituale interessierte sich diese Kreatur ebensowenig, wie sich die Menschen für Ameisen interessierten, die am Wegesrand vorüberwuselten.

Alexander, immer noch kniend, immer noch den Schwertknauf umklammernd, wurde gewahr, dass die Gehilfen des Meisters herankamen und die Anderen nach und nach aus dem Kreis wegschleppten. An deren Stelle wurden Wannen hingestellt, in die die Flüssigkeit hineintropfte. Als er sich an der Schulter gepackt fühlte wusste er, dass die Zeit gekommen war.
Er sprang auf die Füße, zog das Schwert aus dem Boden heraus, hob es hoch und stieß einen lauten Schrei aus, bevor er das Schwert nochmals und mit aller Kraft bis zum Knauf in den Boden rammte. Er fiel wieder auf die Knie, hielt den Schwertknauf fest umklammert wie zuvor. Er sah Leute sprechen, hörte aber nichts, er sah, wie sie ihn anfassten, aber er fühlte es nicht. Was er fühlte war einzig das Schwert, das sich ausdehnte, länger und länger wurde, weiter in den Boden hinabstieß, Schicht um Schicht, bis die Spitze endlich mit einem kaum spürbaren Ruck ein kaum wahrnehmbares Hindernis durchstieß.

Ein winziges Loch war es nur, doch es reichte, die Hülle, die die Bestie all die vielen Jahre geschützt hatte, zu zerstören. Zuerst unmerklich, dann schneller werdend, stiegen kleine Bläschen auf, schlängelten sich durch Sand und Stein nach oben, fanden die Beine der Bestie und glitten hinein. Wäre die Bestie ein Mensch gewesen, hätte sie vor Behagen geseufzt. Als die Auflösung der Blase unterirdisch abgeschlossen war und in der Luft weiterging, fanden weitere, unzählige Bläschen mit brodelndem Gewaber den Weg zurück in den Leib der Bestie. Es kam zu elektrischen Entladungen als die Zeit im Inneren der Hülle ungebremst auf die Zeit außerhalb traf. Gewaltige Energiemengen wurden freigesetzt und mit einem gewaltigen Blitz wurde die Bestie aus dem Schwerkraftfeld des Planeten geschleudert. Als der Sturm sich wieder legte, war Mutabor vergangen. Die Zeit war wieder eins und alles war wieder so, wie es sein sollte.

Der unnatürliche Zustand, der über 2000 Jahre gedauert hatte, war beendet. Mutabor, einst eine blühende Wüstenstadt zählte zu ihrer Hochzeit mehr als 15000 Einwohner. Als die unnatürliche Lohe des Turmbrandes die Bestie damals von den Sternen herabholte, überzog eine Hülle aus geronnener Zeit die Innere Festung von Mutabor und trennte den Zeitverlauf an dieser Stelle. Außerhalb verging sie wie gewöhnlich, innerhalb wurde sie angehalten.
Das äußere Mutabor war schon vor langer Zeit aufgegeben worden, nachdem das Wasser dort immer weniger geworden und schließlich versiegt war. Nun waren beide Hälften Mutabors wieder vereint, und nichts weiter war übrig als vereinzelte Mauerreste und Wüstensand.
Der unterirdische Fluss, der all die Jahre das Wasser für Mutabor gebracht hatte, ergoss sich nun in eine Senke und wurde zu einem kleinen See. Palmen, Kakteen und Stechgras schossen ringsumm in die Höhe und erreichten in Sekundenschnelle ihren ausgewachsenen Zustand; ein letzter Effekt der Wiedervereinigung der Zeitzonen. Dann kehrte Ruhe ein und alles war so, wie es sein sollte.

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