Kapitel 50

Nach dem Essen machte man es sich bei Kaffee und Cognac in der Bibliothek gemütlich. Ein Feuer im großen Kamin und Kerzenbeleuchtung sorgte für die entsprechende Stimmung. Satt und zufrieden harrte man der Dinge, die da kommen sollten.
Derweil führte Hugo Grünberg das Wort. Man lachte unter seiner Anleitung über jedweden Blödsinn, den er zum Besten gab. Lang und breit ließ er sich auch darüber aus, dass man ihn mit einem "dämlichen Familienhistörchen" unterhalten wollte und ließ keinen Zweifel daran, dass er sich darüber "an höchster Stelle" zu beschweren gedachte. Doch statt eine andere hoteleigene Vergnügungsmöglichkeiten in Anspruch zu nehmen, von denen reichlich angeboten wurden, hatte er sich zu den Bachs auf ein Sofa gequetscht.
"Ich erhebe mein Glas auf die 'Märchenstunde mit unserem sehr verehrten Graf Daracula'", höhnte Hugo Grünberg und wuchtete sich hoch, wobei er beträchtlich ins Schwanken kam, was von den anderen geflissentlich übersehen wurde. "Mir persönlich wäre ja ein Märchen mit einer Gräfin viel lieber, nicht wahr, meine Freunde, nicht wahr ... Liebste Diana," er beugte sich ein wenig nach vorne, "für eine Märchenstunde mit Ihnen würde ich jede Gräfin sausen lassen! ... Ein dreifach Hoch auf den Graf und die Frauen!" Hugo Grünberg stand noch, das volle Glas in der Hand, als das Auftauchen eines distinguierten Butlers ihn jäh aus dem Konzept und zum Schweigen brachte. Darüber selbst verdattert, plumpste er aufs Sofa.

Der Butler kündigte feierlich das Erscheinen seines Herrn an. Man sah sich feixend an und wusste nicht so genau, was man davon halten sollte. Als nach anfänglichem Zögern Ruhe eingekehrt war, öffnete der Butler die Tür. Ein stattlicher Mann, dessen Anblick die Herzen der Frauen sofort höherschlagen ließ, betrat den Raum. Mit einer umwerfenden Geste nahm er sein schwarzes Cape ab und ließ es in die Arme des dienstbereiten Butlers gleiten. In diesem Moment waren alle bereit zu glauben, dass der Fürst der Vampire leibhaftig vor ihnen erschienen war.
"Graf Michael Dragomir zu Rotenstein", stellte der Butler ungerührt vor und zerbrach damit den Zauber des Augenblicks.
Elegant verbeugte sich der Graf und drehte sich zur Wand um. Ein leichter Druck an der richtigen Stelle genügte, um den Mechanismus in Gang zu setzen. Geräuschlos glitt das Wandpaneel zu Seite und gab den Blick auf ein bis unter die Decke reichendes Bücherregal frei. Mit liebevoller Geste griff er ein dickes, sehr alt und wertvoll wirkendes Buch heraus. Den Rücken zierte ein kunstvolles Wappen, die Ecken waren mit goldenen Beschlägen besetzt, die den Einband aus Goldbrokat und rotem Samt festhielten. Er verbeugte sich noch einmal, bevor er in dem großen Ohrensessel neben dem Kamin Platz nahm. Wie durch Geisterhand erlosch in diesem Augenblick die Beleuchtung, die Flammen im Kamin schliefen ein und anheimelnde Dunkelheit breitete sich aus. Ein enormer Kerzenständer neben dem Sessel des Grafen, dessen mächtige Kerze der Butler soeben angezündete, war nunmehr die einzige Lichtquelle.
"Guten Abend," begrüßte der Graf sein Publikum, "ich freue mich sehr, dass Sie gekommen sind, um mir zuzuhören. Ich verspreche Ihnen, dass ich Sie nicht mit historischen Details langweilen werde. Ich will Ihnen auch keine Märchen erzählen, sondern berichten von einer Episode, die sich wirklich und wahrhaftig vor vielen Jahrhunderten zugetragen hat." Der Klang seiner Stimme zog die Anwesenden in seinen Bann und keiner wagte mehr, sich zu bewegen, zu räuspern oder gar zu husten, da keiner riskieren wollte, den Graf zu stören. Selbst Hugo Grünberg, der sonst zu allem seine großspurigen Kommentare abgab, verhielt sich ruhig.
"Zunächst möchte ich Sie mit einer Besonderheit in meiner Familie bekanntmachen. Einer Laune der Natur war es zu verdanken, dass viele meiner Vorfahren - vor allem für damalige Verhältnisse - sehr alt wurden. Was zu Anfang ein segensreiches Wunder war, entwickelte sich im Lauf der Zeit zu einem bösen Fluch. Dazu kam, dass sie, wie viele andere Feudalherren in dieser Zeit, üble Raubritter waren. Dies zusammen mit dem Umstand, dass sie scheinbar ewig lebten führte dazu, dass die unterdrückten Bauern mit beachtlicher Hartnäckigkeit überaus blutrünstige Geschichten in Umlauf brachten. Allesamt handelten sie von ruchlosen Ritualen, die, tief versteckt im Bergesinnern, stattgefunden haben sollen. Rituale, die brave, gottesfürchtige Menschen in seelenlose Monster verwandelten, sie zu weißhäutigen Wiedergängern mit raubtierhaften Eckzähnen machten, die außer Feuer und Holzpfählen nichts fürchteten. Ich denke Sie wissen alle, was geschieht, wenn ein Vampir damit in Berührung kommt. Sehen Sie mich an und ich frage Sie: Sehe ich aus wie ein Monster ohne Seele?" Neckisch blinzelte er ihnen zu und seine Zuhörer waren zufrieden. "Wie lange so ein ungewöhnliches Leben letztendlich andauerte, wusste keiner so genau, denn darüber gibt es in der Familienchronik seltsamerweise keine Aufzeichnungen. Allerdings gibt es Berichte über Kinder, die mit auffällig langen Eckzähnen geboren wurden. Von Erwachsenen mit einem ungewöhnlichen Gebiss ist allerdings nichts verzeichnet; möglicherweise verlor sich dieser Makel mit dem Alter. Doch es könnte unter Umständen zu denken geben. Nun, wie dem auch sei ... Ich denke, Sie wissen, wozu lange Eckzähne gebraucht werden." Der Graf machte eine Pause und richtet den Blick auf seine Zuhörer. "Sehen Sie mich an, und ich frage Sie: Sieht man mir an, dass ich schon einige Jahrhunderte mein Unwesen treibe?" Der Schalk, der in seinen Augen aufblitzte, strafte seine Worte Lügen. "Nun, dem ist natürlich nicht so. Wie Sie sich schon gedacht haben werden, geht mein Alterungsprozess ordnungsgemäß vonstatten. Angela und Gundis, Zwillingstöchter der legendären Gräfin Regine, sind nachgewiesener Maßen die einzigen, die die Hundert überschritten haben, wenn auch nur um zwei Jahre. Abgesehen davon waren meine Vorfahren alles in allem ziemlich normal. Ich bin mir sicher, dass sie in ihren Särgen in der Familiengruft ordnungsgemäß vermodert sind."
Ein leichter Schauer durchrann die Anwesenden, als sie an die endlosen Reihen aus Steinsärgen dachten, die sie im Inneren des Berges besichtigt hatten.
"Garantieren kann ich für Ihre ungetrübte Nachtruhe natürlich trotzdem nicht hundertprozentig. Wer weiß, ob sich nicht in unerforschten Kellergewölben fledermäusige Untote verborgen halten und nur auf SIE und auf IHRE Halsschlagader gewartet haben. Die Gefahr, solchen Biestern zum Opfer zu fallen, ist nach meinem Dafürhalten nicht sehr groß, denn soviel ich weiß, bin ich der letzte Spross derer zu Rotenstein und, alles in allem, fühle ich mich ziemlich normal. Zu gegebener Zeit werde ich sicher Kinder haben, die sicherlich genauso normal sein werden." Der Graf hielt inne und senkte den Blick. Seinen Mund umspielte ein kaum wahrnehmbares Lächeln, versonnen und traurig zugleich, was seine Wirkung nicht verfehlte.
Keine Frage, jede der anwesenden Frauen hätte nichts dagegen gehabt, Mutter seiner Kinder zu werden.

Traumverloren sah sich Eva, Hand in Hand mit dem Grafen, stolz und glücklich das ausgelassene Toben der Kinder beobachten. Sie sah, wie er sie zärtlich umarmte und küsste, bevor er sich quietschvergnügt dem Spiel seiner Kinder anschloss. Sie sah sich ins Haus zurückkehren, einen Korb mit frisch geschnittenen Rosen in der Hand. Wohlig kuschelte sie sich tiefer in den Sessel. Das Leben war so schön. Ihr war, als sei soeben eine Sonne aufgegangen, eine Sonne, von deren Vorhandensein sie bisher nichts geahnt hatte und deren warmes Licht nun umso heller erstrahlte. Das Räuspern des aufmerksamen Butlers, der unauffällig umherging und Wünsche erfüllte, noch bevor sie ausgesprochen wurden, brachte Eva wieder zurück. Über sich selbst erstaunt, schüttelte sie den Kopf. Was war das nur für ein Unsinn? Der Graf war doch gewiss kein Mann für sie, auch wenn sein Anblick sie entzückte, so wie alle anderen Frauen in diesem Augenblick auch. Alles nur Show, ganz sicher. Sie setzte sich aufrecht in den Sessel, doch die Sonne, die er in ihrem Herzen hatte aufgehen lassen, erlosch nicht.

"Wie dem auch sei, fest steht auf jeden Fall, historisch beweisbar, dass die Rotensteins und jene in aller Welt berühmt-berüchtigte Familie Dracula einst gemeinsame Wurzeln hatten. Fest steht auch, dass die unglückselige Verquickung von Wahrheit, Dichtung und Familienzwist letztendlich dazu führte, dass im 16. Jahrhundert die Burg von aufgebrachten Dorfbewohnern angezündet wurde und fast vollständig ausbrannte. Von diesen unerfreulichen Dingen will ich Ihnen jedoch nicht berichten, sondern ich werde Ihnen die Geschichte von zwei jungen Menschen erzählen, die zur Zeit dieses unseligen Ereignisses auf der Burg zusammentrafen. Eine Liebesgeschichte also, und ich will beginnen mit den Worten: Es war einmal vor langer Zeit, als das Wünschen noch geholfen hatte, Wunder zu bewirken …" Der Graf lachte unbekümmert und mit offenem Mund. Durch die vorhergegangenen Erläuterungen aufmerksam geworden konnte man nicht übersehen, dass seine Eckzähne, bei genauem Hinsehen versteht sich, ziemlich spitz und ziemlich lang waren. Man musste allerdings zugeben, dass an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit ein flüchtiger Blick auf seine Zähne niemals etwas Auffälliges entdeckt hätte.

weiter
No Internet Connection