Kapitel 40

Eva hatte den Aufwand, den die Betreuung der ihr anvertrauten Reisegruppe kostete, bei weitem unterschätzt. Die Gruppe bestand aus ganz besonders unternehmungslustigen Ruheständlern, die keinesfalls etwas verpassen wollten und sich dafür ausgerechnet die heißeste Jahreszeit ausgesucht hatten. Sie hatte das Programm seinerzeit nicht ohne ein gewisses Schmunzeln gelesen und selbstverständlich nicht im Traum daran gedacht, dass es tatsächlich komplett eingehalten würde.
Noch vor dem Frühstück ging es los mit gymnastischen Übungen am Strand. Danach wurden die Sehenswürdigkeiten und Wochenmärkte der näheren und weiteren Umgebung abgeklappert. Nach einem leichten Mittagessen, wobei auf das "leicht" der allergrößter Wert gelegt wurde (Eva hatte der verständnislosen Küchenchefin nur mühevoll klarmachen können, dass Salat und Obst völlig ausreichend waren), folgte man klugerweise den einheimischen Gepflogenheiten und hielt eine ausgedehnte Siesta. Aller Umtriebigkeit zum Trotz wollte keiner der rüstigen Rentner das Risiko eingehen, einen Sonnenstich oder Hitzschlag zu bekommen und dadurch den Urlaub zu gefährden. Vor dem Abendessen ging man zum Schwimmen und nach dem Abendessen schließlich stürzten sich die alten Leute mit einem selbst für Eva unglaublichen Elan ins Nachtleben und machten sämtliche Diskotheken der Umgebung unsicher. Eine kleine, etwas heruntergekommene Bar ganz in der Nähe, in die sich normalerweise keine Touristen verirrten (das einheimische Personal sprach kein ausländisch), entwickelte sich mit der Zeit seltsamerweise zur Lieblingsattraktion. Es verging kaum ein Tag, der nicht seinen Ausklang in dieser Bar fand. Nach der ersten Woche zog sich Eva Schlag Mitternacht in ihr Zimmer zurück. Ihr bekamen die durchtanzten und durchzechten Nächte längst nicht so gut wie den sportlichen Rentnern. Ihrer Jugend zum Trotz, hatte Eva eindeutig mehr Schönheitsschlaf nötig als diese.
Während sie ihren weitreichenden Pflichten als Betreuerin nachging, blieb Alexander weitgehend sich selbst überlassen und mimte deswegen den Beleidigten, so dass Eva sich eingestehen musste, einen großen Fehler gemacht zu haben. Es war keine sehr gute Idee gewesen, ihn mitzuschleppen. Sehr zu ihrem Bedauern, wusste Alexander so gar nichts mit sich anzufangen, sondern lag stundenlang blödsinnig am Strand herum, wo er sich prompt einen feisten Sonnenbrand holte. Eva verordnete ihm einen Tag Bettruhe und seither lümmelte er den lieben langen Tag nur noch unter dem Sonnenschirm auf der Terrasse herum. Ihn an den diversen Gruppenaktivitäten teilnehmen zu lassen war völlig unmöglich, da sein mürrisches Gehabe schon auf der Fahrt hierher einigen der Senioren unangenehm aufgefallen war. Sie wollte wahrlich nicht ihren Job riskieren, indem sie ihre Chefin mit der Nase auf Alexanders Anwesenheit stieß, nur weil sich möglicherweise jemand über einen jugendlichen Griesgram beschwerte, der ihrer persönlichen Begleiterin ständig hinterhertrottete.
Wann immer sie ihr Apartment betrat, fand sie einen überllaunigen Alexander vor, der demonstrativ in die Luft oder in den Fernseher starrte und sie deutlich spüren ließ, dass er ihr die Schuld an seinem Elend gab. Eva ärgerte sich zunehmend darüber, dass er so gar nicht zu schätzen wusste, was sie für ihn getan hatte. Schließlich hatte sie ihm zu einem Urlaub verholfen, der so gut wie umsonst war. Mehr konnte sie beim besten Willen nicht für ihn tun. Er musste doch einsehen, dass sie zum Arbeiten hier war und nicht seinen persönlichen Unterhaltungsclown mimen konnte. Einige Male war sie schon drauf und dran gewesen, ihn einfach vor die Tür zu setzen. Sollte er doch sehen, wo er bliebe. Letztendlich brachte sie es nicht übers Herz und versuchte, sein miesepetriges Verhalten mit Verständnis und Fassung zu ertragen.
Als sie ihn eines Tages überraschte, wie er mit einem Stöckchen auf vertrocknetes Gestrüpp einschlug, eine qualmende Zigarette in der anderen Hand und eine fast leere Weinflasche auf dem Tisch, platzte ihr der Kragen. Er benahm sich schlimmer als ein hoffnungslos gelangweilter Fünfjähriger. "Was machst Du denn da? Das darf doch nicht wahr sein!" Sie tippte sich an die Stirn und sah ihn zornig an. "Du solltest etwas Vernünftiges mit Deiner Zeit anfangen, mein Lieber, und zwar sehr schnell. Sonst fliegst Du raus, und zwar auf der Stelle! Und waschen könntest Du Dich auch mal wieder!"

Wider Erwarten wurde Alexander daraufhin erstaunlich aktiv. Sehr zur Freude der Hotelgäste und zur ganz besonderen Freude des Hoteldirektors, verausgabte Alexander sich fortan allabendlich für eine verschwindend geringe Gage in der hoteleigenen Bar. Unter Alexanders fachkundiger Anleitung war ein Flügel, der dort unbenutzt in einer dunklen Ecke gestanden hatte, hervorgeholt, entstaubt und gestimmt worden. Die "Piano Bar" hielt nun wieder, was der Name versprach.
Alexander war der Flügel schon gleich nach der Ankunft aufgefallen, doch er hatte dessen Vorhandensein absichtlich und eisern ignoriert, obwohl es ihm in den Fingern gejuckt hatte. Er war unglücklich und basta! So ein Flügel hätte ihn nur davon abgelenkt.
In der Bar gab es jedoch nicht nur einen Flügel, sondern auch einen flotten Barkeeper, so wie sich das gehörte. Er hieß Antonio und nahm Alexander unter seine Fittiche. So kam es, dass Alexander nach Dienstschluss von einem eifrigen Antonio in die Geheimnisse der örtlichen Diskotheken, Bars und Nachtclubs eingeweiht wurde.
Das Verhältnis zwischen Alexander und Eva entspannte sich wieder und beide waren heilfroh darüber. Sie hatten sich angewöhnt, gemeinsam zu frühstücken und sich bei dieser Gelegenheit ihre Erlebnisse zu erzählen. Eva ging danach zur Arbeit und Alexander ins Bett.

Eines Morgens jedoch, es war drei Tage vor dem geplanten Rückreisetermin, erschien Alexander nicht. Sie dachte sich nichts weiter dabei, es war nicht das erste Mal und es gab keinen Grund, sich zu beunruhigen. Als Alexander jedoch nicht wie gewohnt in der Pianobar aufspielte, begann sie, sich Sorgen zu machen. Nach dem Gespräch mit einem feixenden Antonio war sie nicht mehr besorgt, sondern nur noch wütend. Was fiel diesem Kerl eigentlich ein, wegen einer Frau, die ihm ein paar Drinks ausgegeben hatte, einfach alles sausen zu lassen? Eva war aufrichtig enttäuscht von Alexander und beschloss, ihm kein Wort mehr zu glauben, falls er es jemals wieder wagen sollte, sie mit seinen abstrusromantischen Moralgeschichten vollzulabern. Männer! Erst rumjammern von wegen ewiger Liebe & Treue und dann mit der Erstbesten auf & davon!

Als Alexander am nächsten Tag immer noch nicht aufgetaucht war, willigte Antonio widerstrebend ein, nach Alexander zu suchen. Man (und frau schon gar nicht) sollte sich keinesfalls in die Liebensabenteuer anderer einmischen, wie er Eva wortreich erklärte. Eva ließ sich davon nicht abschrecken. Ihre anfängliche Entrüstung war zunehmend ernsthafter Sorge gewichen. Irgendetwas stimmte nicht, da war sie sich ganz sicher.
Antonio kannte so gut wie jeden und so dauerte es nicht lange, bis er jemand gefunden hatte, der sich daran erinnerte, dass Alexander die Bar am Arm einer Frau verlassen. Ein anderer hatte beobachtet, wie beide in einem Auto davongefahren waren, das an einer Stelle geparkt hatte, die bei den einheimischen Jugendlichen wegen seiner abgelegenen Lage beliebt war. Danach war er nicht wieder gesehen worden.
Eva schaltete daraufhin die Polizei ein und gab eine Vermisstenanzeige auf. Die Polizisten waren höflich und zuvorkommend, doch es war unübersehbar, dass sie ihre Sorge nicht teilten.
Eva war zum ersten Mal auf dieser Reise richtig ratlos. Was war bloß geschehen? Dass Alexander irgendwo hinging, ohne sich von ihr zu verabschieden, konnte sie sich nicht vorstellen, auch wenn der Polizeibeamte, eindeutig grinsend, davon ausging. Aber wer um Himmels willen sollte Alexander entführen und vor allem warum um alles in der Welt ausgerechnet ihn?
Sie hätte beinahe angefangen zu weinen, als sie seine Sachen zusammensuchte und in die Tasche packte. Ganz oben auf legte sie seine Brille, die er nur aufsetzte und wenn er sicher war, dass ihn keiner damit sah. Sie lächelte schmerzlich als sie zum letzten Mal die Tür hinter sich ins Schloss zog. Antonio hatte im Flur auf sie gewartet. Aufmerksam reichte er ihr ein Taschentuch und legte brüderlich den Arm um sie. Dann nahm er ihr die Tasche aus der Hand. Er würde sie aufbewahren, bis Alexander wiederkam.

weiter
No Internet Connection