Kapitel 28

Es klingelte Sturm. Vince öffnete die Wohnungstür und sah direkt in ein kalkweißes Gesicht, aus dem grellgrüne Augen und rotglänzende Bäckchen überdeutlich hervorstachen. Überrascht trat er einen Schritt zurück. Vor ihm stand eine junge Frau, wenn auch etwas unzeitgemäß gekleidet: rotes Dirndlkleid, auf dem Kopf eine rote Haube, an den Füßen schwarze Lackschuhe. Ein rotglänzender Kirschmund verzog sich zu einem einladenden Lächeln, als sie ihm graziös ein Körbchen mit grünglänzenden Äpfeln vor die Nase hielt.

"Versuchen Sie einen, garantiert ökologischer Anbau. Wenn Sie einen Augenblick Zeit haben ...", säuselte Rotkäppchen und trat einen Schritt näher.
"Bleiben Sie wo Sie sind!" Vince hatte die Lage sofort erkannte und reagierte energisch. "Ich kaufe nichts und ich brauche nichts, keine Ökoäpfel, keine Lebensversicherung, kein Zeitschriftenabo, keine Fahrkarte in den Himmel oder was auch immer Sie mir andreh'n wollen. Ich hab keine Zeit und auch kein Geld!"
"Nein, nein, es ist nicht so, wie Sie denken", flötete Rotkäppchen und trat, seinen Einwänden zum Trotz, noch einen Schritt näher heran. (Vince überkam eine heimelige Erinnerung, als ein Hauch "GrünerApfelShampoo" seine Nase streifte.) "Ich verkaufe nichts. Ich verschenke etwas." Sie griff in den Korb, nahm einen Apfel heraus. "Hier, der ist für Sie, ganz allein für Sie und ganz umsonst. Nehmen Sie ihn doch. Er ist köstlich! Er wird Ihnen garantiert schmecken!"
"Also gut. Wenn es unbedingt sein muss. Geben Sie schon her", antwortete Vince. Einem Kirschmundlächeln hatte er noch nie widerstehen können. Die Zusicherung, weder etwas bestellen, kaufen oder bezahlen zu müssen, tat das übrige.
"Essen Sie den Apfel sofort! Gönnen Sie sich einen märchenhaften Genuss", forderte sie ihn auf. "Beißen Sie herzhaft zu und genießen Sie dieses einzigartige Geschmackserlebnis. Jetzt!"
"Ja, ja, ja!" Vince nickte einigermaßen unwillig und biss in den Apfel. (Was diese Werbefritzen sich so alles einfallen lassen ...) "Ich hab jetzt aber wirklich keine Zeit mehr. Ich muss gleich weg und muss noch telefonieren. Also, tschüss dann und ... danke für ... den ... Apf ..."

Haltsuchend griff Vince nach dem Türrahmen, doch es war zu spät. Mit einem mächtigen Knall rumste er zu Boden und rührte sich nicht mehr.
"Das ging ja schnell! Gute Arbeit!" Befriedigt über den Zustand des jungen Mannes beugte sich Rotkäppchen hinab, fühlte seinen Puls und tätschelte ihm die Wange. "So ist's recht. Schön schlafen!" Auf einen Wink von ihr erschien eine zweite Frau, die auf dem oberen Treppenabsatz gewartet hatte. Sie trug einen großen schwarzen Aktenkoffer in der Hand und eine Wolfmaske auf dem Kopf. Es war ihnen wichtig, sich für jeden Auftrag entsprechend herauszustaffieren, es war sozusagen ihr Markenzeichen.
Rotkäppchen und die Wölfin schleppten ihr Opfer zurück in die Wohnung und legten ihn aufs Bett. Das Apfelkörbchen wurde im Koffer verstaut, dem sie zuvor eine komplette Picknickausrüstung entnommen hatten. Sie mussten schließlich noch eine Weile hier ausharren und wollten keinesfalls irgendwelche Spuren hinterlassen. Nach einem Rundgang durch die kleine Wohnung machten sie es sich auf dem Balkon gemütlich. Es war einer der angenehmsten Aufträge, die sie in letzter Zeit so ausgeführt hatten.
"Zeit, zu geh'n!" mahnte Rotkäppchen als sie wieder einmal auf die Uhr sah. "Zeit, den jungen Mann aufzuwecken!"
Flugs wurde die Picknickausrüstung in den schwarzen Koffer verfrachtet und stattdessen eine große Spritze herausgeholt. Fachmännisch injizierte Rotkäppchen das Gegenmittel. Während sie darauf wartete, dass der junge Mann erwachte, trug die Wölfin den Koffer nach unten.
"Das sollst Du doch nicht tun! Keine persönlichen Kontakte! Das weißt Du doch!" tadelte die Wölfin, die just in dem Moment zurückkam, als Rotkäppchen sich in eindeutiger Absicht dem jungen Mann näherte. Sie lachte, war die Ermahnung doch nicht ernst gemeint. "... immer das gleiche mit Dir ... wenn der sich jetzt bei unserer Auftraggeberin beschwert ..."
Dann nahmen sie ihn in ihre Mitte, verfrachteten ihn zuerst nach unten, dann ins Auto und dann zum Veranstaltungsort, wo sie ihn weisungsgemäß auf seinen Einsatz warteten.

Vince erwachte quälend langsam und sah lange Zeit nichts weiter als schaumige Nebelwellen, die sich allmählich teilten und lichteten und den Blick auf ein Schlagzeug freigaben. Er erinnerte sich vage daran, dass er etwas Wichtiges, etwas sehr Wichtiges sogar, erledigen musste. Was bloß? Aus dem Nebel schälten sich die Gestalten seiner Freunde heraus. Sie winkten ihm aufgeregt zu. Sie schienen auf ihn zu warten.
"Los jetzt!" flüsterten ihm Frauenstimmen rechts und links in die Ohren. "Jetzt kommt Dein Einsatz! Du bist dran! ... Ha! Ha! Ha!" Noch während er überlegte, wo er sie schon einmal gehört hatte, fühlte er einen heftigen Stoß. Er stolperte auf die kleine Metalltreppe zu, die zur Bühne hinaufführte. Sie war unsäglich wacklig. Der Schweiß lief ihm über die Stirn, als er die drei Stufen endlich erklommen hatte. Mühsam die Richtung haltend, torkelte er auf das Schlagzeug zu. Irgendwie schaffte er es, sich auf den kleinen Hocker zu setzen, ohne runterzufallen und nach den Trommelstöcken zu greifen, die ihm irgendjemand hinhielt. Doch kaum hatte er angefangen zu spielen, wurde es erneut dunkel in seinem Kopf.

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