Kapitel 14

Da war ein Licht, gleißend hell in der Ferne. Dunkel dräuten Wolkenberge am Horizont. Ein Ritter stand am Waldesrand. Unversehens bäumte sich die Dunkelheit auf, warf sich wild fauchend auf das leuchtend weiße Licht. Der Zusammenprall der beiden ließ die Welt erzittern, ein ewig währender Kampf entbrannte, unbegreiflich allen anderen. Der Ritter machte auf dem Absatz kehrt, hier hatte er nichts verloren, hier sollte er nicht sein. Ein beherzter Windgeist unbekannten Ursprungs griff ein und beendete den Kampf der Giganten.

Die Dunkelheit floh und zurück blieb ein weißes Schlachtross. Es scharrte ungeduldig mit den Hufen, dass die Steine nur so aufspritzten. Seine lange Mähne war verfilzt und gespickt mit abgebrochenen Zweigen. Der Kopf war bedeckt von einer Maske, in deren Mitte ein silberner Falke mit angelegten Flügeln und gesenktem Kopf an vergangenen Ruhm gemahnte. Die weiße Schabracke, bestickt mit grünen Mustern, war zerrissen und schmutzig. Nur der Sattel hatte sich die reine Farbe bewahrt. An dessen Knauf hing in einer losen Schlaufe ein blankes Schwert, dessen Schneide ein wenig leuchtete. Am Horizont ragte ein schwarzer Turm. Dorthin hatte sich die Dunkelheit geflüchtet und lauerte hinter schmalen Fensterschlitzen. Das Ross begrüßte ihn mit freudigem Wiehern. Kaum war er aufgesessen, galoppierte es los, dem Turm entgegen.

Ein Blick zurück offenbarte dem Ritter nichts weiter als ein weites Nichts. Vor ihm jedoch war ein massives Holztor, groß und mächtig, und geschlossen, natürlich. Rechts und links ragten schwarze Mauern in die Höhe, der Turm, den er aus der Ferne gesehen hatten. Der Ritter fröstelte und hielt sich am Schwertknauf fest. Der Himmel war schwarz, kein Stern war zu sehen. Er hob die Faust, um an das Tor zu klopfen. Die Torflügel schwangen lautlos nach innen auf. Er drehte sich einmal um sich selbst: hinter sich immer noch das Nichts, vor sich die Finsternis des Tordurchlasses. Das Glimmen des Schwertes war kaum ausreichend, den Boden vor seinen Füßen zu beleuchten, aber es spendete ein wenig Trost inmitten dieser Trostlosigkeit. Hier hatte er nichts verloren, hier sollte er nicht sein, war nur ein Zuschauer, nichts weiter. Er hatte damit nichts zu schaffen, es ging ihn nichts an.

Ein Blitz rammte sich knapp vor seinen Füßen in den Boden hinein. Erschrocken machte er einen Salto rückwärts, mitten durch ein albern kicherndes Gespenst, das eine Fackel hoch über sich hielt und dessen flackernder Lichtschein die Dunkelheit doch nicht erhellte. Wozu, fragte er sich, wozu braucht ein Gespenst eine Fackel?

Augenscheinlich geschah nichts, doch unbemerkt veränderte sich der Lauf der Geschichte genau in diesem Moment, den die böse Fee für ihren Auftritt auserkoren hatte. Als erstes schloss das Tor sich wieder, nicht lautlos wie zuvor, sondern mit einem dumpfen Tosen. Ein Wind kam auf und verwehte die Schleier der Fee, so dass hie und da ihr furchterregendes Antlitz zum Vorschein kam. Sie sah nicht nur gemein aus, sie war es auch und lachte gehässig über den Einen, der zur falschen Zeit und am falschen Ort war. Sie hielt einen riesigen Beidhänder, bereit, den todbringenden Schlag zu setzen. Sie stand regungslos, nur ihre Schleier tanzten im unfühlbaren Wind.
Niemals, das wusste der Ritter nur zu genau, könnte er gegen diese Furie bestehen. Wollte er nicht sterben, müsste er flüchten, doch seine Ehre duldete dies nicht, ebenso wenig wie seine Füße, die sich einfach nicht bewegen wollten. Seine Hände zitterten, doch er ging in Angriffsposition, so wie es ihm sein Meister einst gelehrt hatte. Er hatte eine Pflicht zu erfüllen, wie aussichtslos deren Erfüllung auch immer sein mochte. Die Fee wartete. Es gab kein Entrinnen.

"Die Welt gehört dem Tapferen", deklamierte in feierlicher Monotonie eine sanfte Stimme, "die Welt gehört dem Mutigen, die Welt gehört dem Glücklichen ..." Das Gesicht unkenntlich im Gegenlicht einer aufgehenden Sonne. Das Haar, lang und blond, verlor sich weit hinten am Horizont. Das Gesicht verschwand, und der Ritter blieb allein zurück. Die dunkle Fee war fort. Das Schwert war stumpf und grau und zentnerschwer. Schließlich ließ er es einfach fallen. "Die Welt gehört dem Edlen, die Welt …“ dröhnte es in seinem Kopf und im Rhythmus dieser Worte fand sein Körper Halt und Ziel. Seine Füße erwachten zu neuem Leben. Zentimeter um Zentimeter quälte er sich voran, den Blick starr auf das Tor gerichtet. Das Schwert hüpfte hinter ihm her wie ein Frosch, doch er war zu erschöpft, um darüber zu lachen. Er konnte das raue Holz des Tores schon unter seinen Fingern spüren, als die Dunkle Fee vor ihm aus dem Boden wuchs wie genmutiertes Unkraut. Es sah so lächerlich aus, doch ihre finstere Präsenz war es ganz und gar nicht. Er fühlte, wie sie ihn mit einem fürchterlichen Bann überzog und einen hinterhältigen Zauber wob.

Das Blut gefror ihm in den Adern und verwandelte sich in Wasser. Fleisch und Knochen wurden hart wie Holz. Seine Zehen begannen zu wachsen, wurden immer länger und immer dünner und bohrten sich mit Genuss in feuchtwarmes Erdreich. Irritiert spürte er winziges Getier um seine Wurzeln kreuchen. Seine Finger wurden lang und länger, gabelten sich und verzweigten sich. Er spürte, wie aus seiner verhärteten Haut, Blätter, Blüten und Dornen in verschwenderischer Fülle hervordrängten. Es war ein unglaubliches Gefühl. Er schloss die Augen und vergaß, was er einst gewesen war. Hingebungsvoll genoss er die einfachen Freuden des Lebens: die Wärme der Sonnenstrahlen, den erfrischenden Morgentau und das sanfte Rütteln des Windes. Entzückt lauschte er, wann immer Vögel, Schmetterlinge und anderes Getier sich in seinem Geäst niederließen um zu Plaudern. Er selbst hatte nichts zu erzählen; er war vollauf zufrieden damit, eine alte Steinmauer zu erklimmen.
Eines Morgens störte eine kleine Maus seinen Frieden, indem sie an seinen Wurzeln knabberte, an sich nicht ungewöhnlich, aber es kitzelte. Darüber wurde er tieftraurig, ohne zu wissen warum. Später am Tag schnitt die Tochter der Gärtnerin Rosenblüten von der Hecke, dabei verlor sie ihr Taschentuch. Ein drängender Impuls erwachte und er wollte ihr das Tuch reichen, er wollte mit ihr tanzen und lachen. Aber das war unmöglich, ganz und gar. Ein Falke stürzte herab, schnappte sich das Tuch und etwas veränderte sich. Bestürzt wurde er Zeuge einer grotesken Metamorphose. Seine Wurzeln und Zweige verkürzten sich in unglaublicher Geschwindigkeit bis sie wieder zu Füßen und Händen geworden waren. Holz wurde zu Fleisch, Wasser zu Blut und seine Haut wieder zart und elastisch. Der Ritter streckte und dehnte sich und war ausgesprochen froh darüber, seine Bewegungsfreiheit wiedererlangt zu haben. Was blieb war ein leichtes Bedauern darüber, die schützende Erde verlassen zu haben.

Schweißgebadet und schwer atmend warf Vince die Bettdecke zur Seite und sprang, entgegen sonstiger Gewohnheit, sofort aus dem Bett. Er betrachtete sich eingehend im Badezimmerspiegel. Etwas verknittert sah er zwar aus, doch sonst war alles, wie es sein sollte. Als er zurück kam ins Schlafzimmer blieb ihm fast das Herz stehen: Drei taufrische Rosenblätter lagen mitten auf dem Kopfkissen.
"Ich werd' verrückt!" schrie er, sprang in seine Kleider und flüchtete Hals über Kopf aus der Wohnung, um der Ungeheuerlichkeit in seinem Bett zu entgehen. Bevor er jedoch in Verlegenheit kam, ausführlich über diesen verworrenen Traum nachzudenken, steuerte er das kleine Bistro am Eck an, das für seine Croissants berühmt war.

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