Kapitel 46

Noch vier Tage, dachte Vince, noch vier lange Tage, und dann geht's ab zu Oma. Angesichts seiner derzeitigen Laune erschien ihm diese Aussicht wie das Paradies schlechthin. Unzufrieden mit sich und der Welt schlurfte Vince zum Supermarkt. Wäre es nach ihm gegangen, er hätte seine Wohnung nicht verlassen, nie wieder, doch die gähnende Leere in seinem Kühlschrank zwang ihn dazu. Unnötigerweise drängte ihm auf dem Rückweg die alte Frau von gegenüber ein Gespräch auf.
"... die Sommergrippe, es muss die Sommergrippe sein, ja, ja, so blass und schlecht wie Sie aussehen. Wenn Sie etwas brauchen, klingeln Sie bei mir, ich helfe gerne!" bot sie ihm an. Sein mürrisches "ich will nichts, und ich brauche nichts!" überhörte sie geflissentlich. "Meine Enkelin hatte das auch, tagelang konnte sie das Bett nicht verlassen und war nur schlecht gelaunt. Ja, ja, scheinbar sind nur die jungen Leute davon betroffen. Sie sah genauso schlecht aus wie Sie heute aussehen. Ja, ja, zu meiner Zeit, da gab es sowas nicht. Da war man im Sommer nicht krank. Da war man an der frischen Luft und arbeitete auf dem Feld, trank frische Kuhmilch, ging mit den Hühnern schlafen und stand mit ihnen auf. Ja, ja, damals ... Die Stadt macht die jungen Leute krank, das sieht man an allen Ecken und Enden. Ich weiß gar nicht, wohin das noch führen soll. Ich verstehe gar nicht, warum alle auf einmal in der Stadt wohnen wollen. Ich ..."
"Weil auf dem Land nicht für alle Platz ist", gab Vince barsch zurück und bereute sogleich seine Worte, als er das erschrockene Gesicht der alten Dame sah. Er zuckte die Achseln, deutete ein entschuldigendes Lächeln an und ging zügig an ihr vorbei, ohne ihr wie sonst, die Einkaufstüten abzunehmen. Heute war eindeutig nicht sein Tag.
"Was er nur hat, der junge Mann, er ist doch sonst so nett und zuvorkommend", wunderte sich Frau Waldmann, beschloss aber, ihm zu verzeihen. "Es muss die Grippe sein, genauso wie bei meiner Enkelin, da war sie auch so unfreundlich."

In seiner Wohnung angekommen, plagte Vince ein wenig das schlechte Gewissen. Ganz kurz war er versucht umzukehren, um Frau Waldmann die Tasche hochzutragen. Ließ es aber bleiben, weil er sich nicht aufraffen konnte. Ihm war so elend zumute. Es war sein Gemüt und keine Krankheit, was ihm eine Last war. Gestern war der Messestand, an dem er mitgearbeitet hatte, in letzter Sekunde fertiggeworden. Danach war er mit den anderen Arbeitern losgezogen und in den frühen Morgenstunden reichlich angetrunken nach Hause gewankt. Vielleicht ist es ja nur der Kater, beruhigte er sich. Doch nur zu genau ahnte er insgeheim, dass ihn etwas plagte, das sich nicht mit Kopfschmerztabletten und Vitamindrinks beheben ließ: Der Trübsinnhatte ihn voll im Griff.
Vince zog mit einem Ruck die schwarzen Vorhänge zu. Er hatte keine Lust, sich von einem strahlend blauen Sommerhimmel anglotzen zu lassen. Entnervt warf er sich aufs Bett und starrte zur Decke. Endlos oft drehte er sich mal auf die eine, mal auf die andere Seite. Irgendwann blieb sein Blick an dem Ritterpferd hängen, das Alexander seinerzeit gefunden und ihm überlassen hatte. Der könnte sich auch mal melden, dachte er mürrisch, ein schöner Freund ist das, zur Hölle mit ihm! Ich brauche keinen Freund! Vince war sich sicher, die Figur schon mehr als einmal weggeworfen zu haben. Aber er konnte sich genausogut irren. Es war ihm auch egal.

Er musste wohl eingeschlafen sein, denn anders konnte er sich nicht erklären, dass er in einem dunklen Burghof umherstolperte. Und kein Himmel weit und breit! Es war der Ort, den er nur zu gut kannte. Er drehte auf dem Absatz um. Nichts wie weg hier! Er hatte keine Lust auf Geisterkrieg und Totengeschrei. Doch es gab kein Entrinnen. Die hohen Mauern zerfielen sekundenschnell und absolut lautlos zu Staub. Schmetterlinge stoben so zahlreich auf, dass sie die Sonne verdunkelten, bevor sie in alle Himmelsrichtungen verschwanden. Und da stand sie wieder, die alte Hexe, die ihm soviel Unbehagen einflößte. Er wusste genau, dass sie nicht das war, was sie vorgab zu sein, aber er kam nicht hinter ihr Geheimnis. Die Schleierfrau mit den blutroten Krallen war sie jedenfalls nicht. Was wollte die Alte von ihm? "Lass mich in Ruhe! Geh weg!" schrie er heftig, doch sie rührte sich nicht von der Stelle. Es war etwas an ihr, das nicht weniger Angst in ihm auslöste, als es der Anblick der Schleierfrau getan hatte. Wo war sie überhaupt, die Schleierfrau? Selbst sie schien nichts mehr von ihm wissen zu wollen. Verräter! Allesamt waren sie Verräter! Die Alte griff in ihren Beutel holte all das heraus, was sie anzubieten hatte. Er wollte nichts davon. Und schon gar nicht von dieser alten Hexe. Er fühlte, wie sich ihr knochendürrer, von welker Haut ummantelter Finger in seine Rippen bohrte. Gewaltsam hielt er die Augen geschlossen, wollte sie nicht ansehen, nicht sie und nicht ihre Waren. Es nützte nichts. Selbst durch die geschlossenen Augenlider hindurch sah er den rubinroten Stein, den sie ihm mit zitternder Hand entgegenstreckte. Vielleicht sollte er ihn doch an sich nehmen, vielleicht handelte es sich ja um einen wertvollen Edelstein. Vielleicht? Vielleicht? Vielleicht? Zufällig sah er ihr in die Augen. Nein! Nein! Nein! Eine Falle! Es war bestimmt eine Falle! Er konnte nicht aushalten, wie sie ihn ansah. Er wollte kein Mitleid, kein Verständnis, kein gar nichts, von niemandem und schon gar nicht von dieser alten Hexe. Reflexartig schloss er die Augen, streckte die Arme nach oben, stieß sich kraftvoll vom Boden ab. Flatternd zischte der kometenartige Schweif, mit dessen Hilfe sich die Geister der malträtierten Kinder durch die Zeit bewegten, an ihm vorbei. Die schon wieder, dachte er entnervt, können die mich denn nicht in Ruhe lassen? Ich habe nichts verbrochen, kein Unrecht begangen, niemanden erschossen und niemanden verbrannt, ich bin unschuldig, ich habe zwar kein Herz zum Tausch, aber ich bin ... ich ... Da war er sicher. Aber er konnte sich genausogut irren. Es war aber egal. Es machte keinen Unterschied! Oder etwa doch? Verwirrung breitete sich in ihm aus wie klebriger Fruchtsirup angesichts des nicht vorhandenen Herzens. Das war etwas, womit er wirklich nicht gerechnet hatte. Er knöpfte bedächtig das Hemd auf. Hier war der Beweis. Was sie nur alle hatten? Das Herz war genau da, wo es hingehörte und schlug ordnungsgemäß ... pock … pock pock ... Da war er sich ganz sicher, aber er konnte sich genausogut irren. Er drehte sich um und beschloss, unverzüglich aufzuwachen. Schluss. Aus. Ende. Und tatsächlich, er wurde wach: richtig und wirklich. Da war er sich ganz sicher, aber er konnte sich genausogut irren.

Der Alptraum saß Vince noch lange im Genick. Wie ein fetter Blutegel schien er jedwede Antriebskraft ausgesogen zu haben. Es dauerte geraume Zeit, bis er den Entschluss fasst, duschen zu gehen. Das konnte sicher nicht schaden und würde sicher helfen. Umsonst, er schaffte es nicht. Phlegmatisch blieb er einfach liegen. Stumpfsinnig schaltete er den Fernseher an, zappte sich zigmal durch sämtliche Kanäle, bevor er die Fernbedienung in den Papierkorb schmiss. Diese dramatische Geste belustigte ihn dermaßen, dass er die Kraft fand, das Bett zu verlassen und ins Bad zu gehen. Er brühte sich sogar einen Kaffee, doch die kurze Euphorie, die daraufhin in ihm aufgeflackert war, ließ so schnell nach wie die erfrischende Wirkung der kalten Dusche. Der Kaffee wirkte scheinbar überhaupt nicht. Entnervt ließ er sich wieder aufs Bett fallen. Nachmittage allein und schlaflos in einem abgedunkelten Zimmer verbringen zu müssen, war etwas, wovor ihm graute, seit er sich erinnern konnte. Zuerst die Mutter, die Wert darauf gelegte, dass er Mittags schlief, später die Großmutter, obwohl er aus diesem, Alter längst heraus war.

Als er es nicht länger aushielt, flüchtete er sich in den Übungsraum. Auch wenn die anderen nicht da waren, es hatte immer noch geholfen, lästige Depressionsattacken abzuwehren, im wahrsten Sinne des Wortes fortzutrommeln. Er war deswegen schon mehr als einmal heilfroh gewesen, dass er den seinerzeit äußerst unsinnigen Schlagzeug-Kauf vorgenommen hatte. Es war nicht nur der Depressionsvertreibungszwecke wegen ein Schnäppchen gewesen, sondern es war auch ein äußerst gutes Schlagzeug, das er für wenig Geld auf dem Trödel erworben hatte. Eigentlich hatte er es gleich weiterverkaufen wollen, schließlich hatte er noch nie im Leben Trommelstöcke in der Hand gehalten und hielt sich überdies für ziemlich unmusikalisch, doch dazu war es nie gekommen. Noch während der Verkaufsverhandlungen kam er mit zwei jungen Männern ins Gespräch, die für ihre in Gründung begriffene Band einen Schlagzeuger suchten. Man kam überein, das Schlagzeug sofort zum Übungsraum zu transportieren, und noch bevor Vince Zeit gehabt hätte einzugestehen, dass er noch niemals hinter einem Schlagzeug gesessen hatte, war er engagiert. Zu seiner großen Erleichterung entdeckte er eine musikalische Ader, von deren Vorhandensein er nichts geahnt hatte, und innerhalb kürzester Zeit machte er sich mit seinem neuerworbenen Musikinstrument vertraut. Es wäre sicher übertrieben gewesen zu behaupten, er spiele grandios, aber für den Anfang genügte es durchaus, schließlich gab es reichlich Beispiele dafür, dass mit weniger Technik und Können ungeheuer viel Geld verdient werden konnte. Er entwickelte einen ungeheuren Ehrgeiz, nahm Unterricht und trommelte in seiner freien Zeit, was das Zeug hielt und gelangte überraschend schnell zu dem Punkt, wo er und die beiden anderen sehr zufrieden waren. Während dieser Zeit nährte er langsam, aber stetig den Traum, diese Band zu großem Ruhm zu führen und setzte durch, dass der Bandname geändert wurde: aus Pegasus wurde „cashflow“.
Irgendwann war ihm Alexander über den Weg gelaufen, mehr oder weniger sozusagen, denn ihre erste Begegnung verlief ziemlich dramatisch. Er musste ihn vor einer Horde marodierender Jugendlicher retten. Alexander kam Dank seines Eingreifens mit einem blauen Auge davon.
"Ich habe denen doch nichts getan," schniefte Alexander, krampfhaft darum bemüht, die Tränen zurückzuhalten. "Was wollten die denn nur vor mir?"
"Nichts, Mann!" gab Vince brüsk zurück, den die verdächtig glänzenden Augen von Alexander ziemlich peinlich waren. "Die haben dich ausgesucht, weil du schwächer bist, weil du alleine bist, weil du die falschen Klamotten anhast, weil du zur falschen Zeit am falschen Ort warst, weil du etwas hast, was sie wollen ... weil ... Es gibt keinen wirklichen Grund, sie tun es, weil sie es können, weil ihnen langweilig ist … was weiß ich ..." Begütigend schlug er ihm herzhaft auf die Schulter und ging seiner Wege.
Wie es der Zufall so wollte, trafen sie sich kurz danach im Übungsraum wieder. Alexander den Aushang gelesen, sich als Keyboarder beworben und wurde mit Begeisterung aufgenommen. Vince erkannte haarscharf, dass Alexander, obwohl er ein hervorragender Klavierspieler war, so einiges andere noch zu Lernen hatte. Also nahm er ihn unter seine Fittiche, ging zuweilen mit ihm aus und überredete ihn, ein Kampfsporttraining zu beginnen. Es dauerte nicht lange und zwischen den beiden unterschiedlichen jungen Männern hatte sich eine tiefe Freundschaft entwickelt. Alexander war tatsächlich der einzige richtige Freund, den Vince hatte.
Ein schöner Freund, dachte er schmollend, zur Hölle mit ihm! Unsinn, murmelte er mit zusammengebissenen Zähnen, alles Unsinn, ich hatte nur zu lange keine Frau mehr. Ist wie verhext, alle sind verreist ...
Als Vince sich wieder einigermaßen in Form getrommelt hatte, machte er sich auf den Weg. Irgendwo in irgendeiner Kneipe würde er schon irgendeine Frau finden, die ihm über die Nacht helfen würde.

Er nahm die Abkürzung durch den Park, wo sich allenthalben die Leute vergnügten. Vince zog ein verdrießliches Gesicht. Natürlich war es das einzig Richtige, bei diesem Wetter! Doch was sollte er allein auf einer Parkbank rumsitzen oder auf einer Wiese rumlümmeln. Um die laue Sommernacht tatsächlich ausnutzen zu können, brauchte man Gesellschaft, weibliche Gesellschaft! Einigermaßen unfroh schlenderte er gemächlich weiter.
Auf halbem Weg kamen ihm drei junge Frauen entgegen. Es war nicht so, dass ihm nur diese drei begegnet wären, aber sie weckten seine Aufmerksamkeit mehr als alle anderen. Sie unterhielten sich angeregt, lachten viel und nahmen keinerlei Notiz von ihm. Mit großspuriger Galanterie baute er sich vor ihnen auf.
"Na, was macht ihr drei denn so alleine, nachts im Park? Wenn nun der böse Wolf kommt? Sollte ich euch da nicht besser begleiten ...?"
Derart in ihrem Gespräch unterbrochen, erwachte auch bei den dreien der Jagdtrieb, was aber von den bunten Sommerkleidern geschickt verhüllt wurde. Sie blieben stehen und besahen sich den jungen Mann, der sie so heldenhaft vor bösen Wölfen beschützen wollte, ganz genau.
Von drei hübschen Frauen ins Visier genommen zu werden, war Vince nicht unangenehm, ganz im Gegenteil. Wenigstens keine Zicken, dachte er frohgemut, euch schickt der Himmel. Unversehens war er bester Stimmung, sagte noch dies und das und auch etwas übers Wetter, bevor er sie zu einem Drink einlud.
Während er so plapperte und nichts Böses dabei dachte, schritten die drei zur Tat. Nichts Zartes war mehr an ihnen, als die Frau in der Mitte ihn mit fester Hand am T-Shirt packte und ihn ganz nah zu sich heranzog.
Oh, oh, dachte Vince und seine Nackenhaare sträubten sich. Die Situation war ihm entglitten und eindeutig brenzlig. Brenzlige Situationen zu erkennen, darin hatte er genug Erfahrung.
"Hört mal Mädels", versuchte er es auf die saloppe Art. "Ich hab's nicht so gemeint. Ok, ok, wenn ich etwas gesagt habe, das euch nicht gefallen hat, entschuldige ich mich in aller Form!"
Überaus vorsichtig und betont langsam nahm er ihre Hand fort. Er hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass sie in widerstandlos loslassen würde. Äußerlich cool bleibend, atmete er innerlich auf. Höchste Zeit, das Feld zu räumen! Er machte einen Schritt zur Seite, noch ein Schritt und noch ein Schritt. Jetzt nur nicht losrennen! Er fühlte sich schon fast in Sicherheit, als eine von ihnen einen kurzen, aber umso schrilleren Schrei ausstieß. Er drehte sich unwillkürlich um und erstarrte. Das Gesicht zu einer wüsten Fratze verzogen, schob sie sich in aller Gemütsruhe etwas über die Finger, was Vince nur allzuschnell erkannte. Sie hob die Hand demonstrativ vor die Augen, überprüfte akribisch den Sitz des Schlagrings, schlug sich mit der geschlossenen Faust mehrmals in die geöffnete Hand. Es gab ein leicht klatschendes Geräusch, das Vince überhaupt nicht gefiel. Er war sich sicher, im falschen Film gelandet zu sein. Er war irritiert, wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Wäre er drei Männern gegenübergestanden, dann wäre die Sache eindeutig gewesen. Hätte nicht gut ausgesehen für ihn, das war klar, drei gegen einen ist immer schlecht. Aber so? Sich mit Frauen prügeln? Das ging nicht! Das konnte er nicht! Noch bevor er dieses Problem zu Ende bedenken konnte, wurde ihm die Entscheidung abgenommen. Sie holte aus, er parierte automatisch, aber nicht gut genug. Er war durch seine Überlegungen einfach zu abgelenkt gewesen. Eine geballte Faust knallte ihm an die Schläfe, und er taumelte. Die beiden anderen nutzen diesen Moment der Schwäche, bogen ihm die Arme auf den Rücken und zerrten ihn ins naheliegende Gebüsch. Also doch, drei gegen einen. Selbstkritisch gestand er sich ein, dass seine Chancen, mit heiler Haut davonzukommen, nicht allzugut standen. Er sollte Recht behalten, denn sie verstanden ihr Geschäft. Vince lag im Handumdrehen kampfunfähig am Boden und routiniert machten sie sich über ihn her.

"Was ist denn hier los?"
"Ach, das ist nur so ein wichtigtuerisches Männchen. Hat uns blödsinnig angebaggert. Hätte er nicht tun sollen."
Vince, kaum noch recht bei Sinnen, erkannte diese Stimme trotzdem. Rob! Was machte sie hier? Hilfe? Sie würde ihm garantiert nicht helfen, dazu kannte er das Spiel nur zu genau. Er kannte auch sie nur zu genau. Sie würde mitmachen, wenn es sich nicht um ihn handeln würde, und sie würde lachen!
"Na Kleiner, hast jetzt genug von dummen Sprüchen?"
Da raschelte es im Gebüsch, noch jemand kam hinzu. Noch jemand, der sah, was man ihm angetan hatte. Noch so ein schwachsinniges Weibsbild, noch so eine Furie.
"Das war doch der, der uns neulich fast die Tour vermasselt hat", sagte sie, tonlos fast die Stimme, aber umso gefährlicher. "Das war doch der, der uns die Bullen auf den Hals gehetzt hat."
"Verdammt, ich kenn euch überhaupt nicht!" presste er mühsam hervor und spuckte Blut aus.
"Immer mit der Ruhe! Wir werden schon rauskriegen, was du angestellt hast! Wenn wir mit dir fertig sind, wirst du wünschen, niemals als Mann geboren worden zu sein." Zur Bekräftigung ihrer Worte trat sie ihm brutal in Bauch und Rippen.
"Ich kenn euch nicht, ihr müsst mich mit jemandem verwechseln, hab euch nie zuvor gesehen, wie sollte ich euch da die Bullen auf den Hals hetzen? Was soll der Quatsch? Verdammt," kreischte er mit sich überschlagender Stimme, als er aus den Augenwinkeln eine Messerklinge aufblitzen sah. Er hatte Angst. "Lasst mich gehen! ... Bitte!"
"Ich kenne dich, das reicht!" hörte er noch, bevor eine ringbestückte Faust erbarmungslos an sein Kinn knallte und ihn in eine sekundenlange Ohnmacht beförderte.

"Schwestern! Zieht eures Weges! Dieser Mann gehört mir!" Eine schmale Gestalt, in einen weißen Umhang gehüllt, war lautlos aufgetaucht. Sie trug einen hellgrünen, bodenlangen Umhang und eine Art Ritterhelm, beides verziert mit einem silbernen Falken, der eigentümlich schimmerte und die Flügel ausgebreitet hatte wie im Flug. "Schwestern! Dieser Mann gehört mir!"
"Nichts da!" Schwester hin oder her, die vier waren nicht dazu bereit, zu verzichten. "Strafe muss sein! Ein übler Macho ist das, ein Macho und ein Verräter. Wir beschützen die Frauen im Park vor diesen Ratten." Sie unterstrich ihre Worte mit einem heftigen Tritt zwischen seine Beine und sah ungerührt zu, wie er sich übergab und ungelenk versuchte, seine Weichteile vor weiteren Tritten zu schützen. "Wir sorgen dafür, dass die Täter zu Opfern werden. Hinterrücks über Frauen herfallen und sie dann ins Gebüsch zerren, das ist doch alles, was die können ..."
"Is gut jetzt", griff Robina ein, Streit untereinander war das Letzte, was sie wollte. Wenn diese Frau mit dem ulkigen Federbusch auf dem Kopf und dem großen Schwert in der Hand ihn unbedingt haben wollte, sollte sie doch. "Wir gehen! Unsere Schicht ist noch nicht zu Ende und der Park ist groß. Also!"
"Aber dieses Schwein hat dich doch verpfiffen." Vince erhielt einen weiteren Tritt in die Seite.
"Da war nichts weiter. Mein Auto stand in der Feuerwehrzufahrt und der Hausmeister rief die Polizei", erklärte Robina unwirsch. "Wenn sie ihn unbedingt haben will … Sie wird schon wissen, was mit ihm zu tun ist."

Vince bewegte sich vorsichtig und stöhnte laut auf, als der Schmerz beißend durch seinen geschundenen Körper schoss. Mit zusammengebissenen Zähnen fluchend, gelang es ihm, sich aufzusetzen. Umständlich zog er seine Hosen hoch. So als sähe er einen anderen vor sich, betrachtete er apathisch die blutigen Furchen, die messerscharfe Fingernägel auf seinem Oberkörper hinterlassen hatten. Er schaffte gerade noch, den Kopf zur Seite zu drehen. Als nichts mehr hochkam, zog er abwesend eine ganze Weile an den Überresten seines T-Shirts herum, bevor es ihm gelang, es mit beiden Händen vor der Brust zusammenzuhalten. Außerstande zu weiteren Taten, blieb er einfach sitzen. Mit Worten hätte er nicht beschreiben können, wie er sich fühlte, nicht einmal die Gedanken dafür waren in seinem Kopf vorhanden.
Eine Bewegung dicht vor seinem Gesicht riss ihn aus der Lethargie. Er hob den Kopf und starrte eigentümlich blind auf die zierliche Gestalt, die reglos vor ihm stand. Ein greller Blitz schoss durch seinen Kopf. Er konnte nicht aushalten, wie sie ihn ansah. Er wollte kein Mitleid, kein Verständnis, kein gar nichts, von niemandem und schon gar nicht von ... Hastig streckte er abwehrend die Hände aus und ließ sie gleich wieder schmerzgepeinigt sinken. In diesem Moment kniete die Frau vor ihm nieder und strich ihm behutsam übers schweißnasse Haar.
"Keine Angst! Keine Angst! Alles wird gut!" flüsterte sie begütigend und mit einer Stimme wie Samt und Seide. "Alles wird gut!" Sie legte ihm ihren Umhang über die Schultern und streichelte ihm sanft über den Rücken.
Vince gab nach und ließ alles über sich ergehen. Mit gesenktem Kopf ließ er sich einhüllen von ihrer gnädigen Barmherzigkeit, von ihrem wohltuenden Mitleid und von ihrem heilenden Trost, der überreichlich aus ihren Händen floss. In seinem Kopf ballten sich Worte, die danach drängten, ausgesprochen zu werden. Salzige Tränen brannten auf seinen zerkratzen Wangen. Ein Schluchzen stieg empor. Es kam von weit unten, von da, wo er niemals vermutete hätte, dass da überhaupt etwas vorhanden sei. Es schüttelte seinen Körper, als es sich den Weg ins Freie bahnte. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so geweint zu haben, ja er konnte sich nicht daran erinnern, überhaupt jemals geweint zu haben.

Vince erwachte außergewöhnlich beschwingt und mit dem Gefühl, als sei ihm über Nacht eine zentnerschwere Last von den Schultern genommen worden. Er hatte außergewöhnlich gut geschlafen. Zwischenzeitlich hatte ein längst überfälliger Regenguss den Staub eines Jahrhundertsommers, der immerhin fast zweieinhalb Wochen gedauert hatte, gründlich abgewaschen. Vielleicht rührte sein Wohlgefühl ja daher. Ein strahlend klarer Morgen begrüßte ihn, als er die Vorhänge zurückzog. Tief sog er die frische Luft ein. Ein fröhliches Liedchen pfeifend ging er ins Bad. Als er in den Spiegel sah, erinnerte er sich. Die Augen blutunterlaufen, eines davon begann schon, sich blau-gelb-grün zu verfärben. Das Gesicht zerkratzt und verquollen. Blaue Flecken überall und über die Brust verliefen dünne Striemen wie von Peitschenhieben. Kein Traum! Doch so sehr er sich auch den Kopf zermarterte, er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, wie er nach Hause gekommen war. Wie war er in sein Bett gekommen? Wo war die Frau? Unsinnigerweise sah er in der Küche nach, lachte sogleich selbst über diesen dummen Einfall. Wo war sie? Wer war sie?

Gelenkt durch einen Erinnerungssplitter, der sternschnuppenartig aufleuchtete, ging er zum Bücherregal. Das ritterliche Schlachtross, das seit Wochen unerbittlich dort gestanden hatte, war verschwunden. Es war weg, so weg, wie er noch nie erlebt hatte, dass etwas weg war. Das Nichts an der Stelle, wo es gestanden hatte, war direkt greifbar. Und die Frau, die Frau mit der Federboa auf dem Kopf, sie war die Herrin dieses Schlachtrosses gewesen. Das war ganz klar, daran bestand gar kein Zweifel. Und sie hatte das Schwert getragen, dieses winzige kleine Schwert, das lange Zeit am Sattelknauf des Pferdchens gehangen hatte und irgendwann verloren gegangen war. Er erinnerte sich genau, wie Alexander es damals gefunden hatte und mit diesem streichholzgroßen Ding vor seiner Nase rumgefuchtelt hatte. Mit so was wollte er nichts zu tun haben. Niemals! Doch es kam noch schlimmer. Jetzt lag genau an derselben Stelle ein Armband mit einem herzförmigen Anhänger, auf dem so ein Engel eingraviert, der seine Ellbogen auf einer Wolke abstützte. Er nahm das Armband auf. Es war nicht zu fassen. Es war das Band, das er vor vielen Jahren von seiner Mutter geschenkt bekommen hatte. Er hatte es irgendwann einmal wütend weggeschmissen, als sich die anderen Jungs deswegen lustig gemacht hatten. Doch die Unglaublichkeiten hatten noch kein Ende. Ganz allmählich glitt etwas aus diesem Nichts heraus. Das Nichts verschwand und mit einem dumpfen Geräusch fiel ein roter Stein, unter dessen Oberfläche goldene Pünktchen tanzten, direkt in seine geöffnete Hand. Er hatte Mühe, seinen Schock darüber in Grenzen zu halten. Es war ein Alptraum, ein Alptraum, der Wirklichkeit geworden war. Warm und samtweich lag der Stein in seiner Hand. Die Frau mit der gütigen Stimme, war über Nacht bei ihm geblieben und nun erinnerte er sich wieder an ihre Worte:
"Ich bin gekommen, dir verdienten Trost zu bringen. Ich bin gekommen, dir den Stein zu bringen, den zu verwahren du bestimmt wurdest. Bei uns kann der Stein nicht länger bleiben, denn er vergiftet unser Land und zieht böse Mächte an. Doch sei unbesorgt, diese Mächte können dir nichts anhaben. Fürchte dich nicht, denn alles wird gut."

Ja, ja, flüsterte er mit grimmiger Erheiterung, alles wird gut werden. Wenn er sich nicht absolut sicher gewesen wäre, gestern Abend keinerlei Rauschmittel zu sich genommen zu haben ... nur zu gern hätte er es darauf geschoben. Aber so? Nun denn, dachte er nicht halb so leicht, wie er es sich einzureden versuchte. Ich weiß auch nicht ... Er legte den Stein ins Regal und sich selbst ins Bett. Er fühlte sich urplötzlich unendlich müde. Gemächlich glitt er in einen leichten Schlummer, wobei ihn verspielte Lichtwesen begleiteten. Sie bewachten seinen Schlaf und füllten sein Herz mit Frohsinn.

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