Kapitel 56

Nach zeitloser, stummer Leidenschaft, die sich wild und entschlossen zeigte, bedeckte er ihr Gesicht zum Abschied mit unzähligen kurzen Küssen.
"Wer bist du?" wollte sie wissen.
Er sah sie an und sah sie doch nicht. Sein Körper war noch bei ihr, doch seine Gedanken waren längst fort, bei der Schlacht, furchtlos und siegessicher.
"Wohin gehst du?" wollte sie wissen.
Das Lächeln, das er ihr schenkte, galt nicht mehr ihr. Er hatte sie schon vergessen.
"Wo bin ich?" wollte sie wissen, doch da war niemand mehr, der die Frage hätte beantworten können.

Sie erwachte und war allein. Sie würde ihn nie wiedersehen. Was blieb war einzig der Nachhall vergangener Lust und eine leichte Sehnsucht.
Sie trat zum Fenster und sah hinaus. Die hoch am Himmel stehenden Sonnen waren so blass, dass sie keine Sonnenbrille brauchte; doch ihr Licht war stark genug, die Reflektoren der filigranen Silbertürme zum Leuchten zu bringen. Nur um überhaupt etwas zu tun, öffnete sie ein Fenster und trat auf den schmalen Balkon. Bizarre Paradiesvögel flogen zeternd auf, als ein Actalisander blubbernd vom Flugfeld abhob und zischend davonflitzte. War er da drin? Sie versenkte sich in den Anblick des glitzernden Schweifes, den das Flugzeug am Himmel hinterließ. Was anderes gab es nicht zu tun. Er war fort! Es war vorbei!
Ein leises Summen erklang. Sie wollte niemanden sehen. Es klingelte. Ärgerlich wandte sie sich um und ging wieder hinein. Es zischte leise und eine verschwommen aussehende Gestalt trat aus einem flimmernden Lichtkreis ins Zimmer. Wer auch immer angekommen war, es interessierte sie nicht. Unwillig seufzte sie über die Störung und drehte der Person den Rücken zu, sah wieder aus dem Fenster, sah einen Wald aus blaugrünen Kugelbäumen. Jeder vernünftige Gedanke war fehl am Platz.
Sie spürte sich am Arm gepackt, doch es war viel zu beschwerlich, sich gegen die unwillkommene Berührung zu wehren. Dann spürte sie das Eindringen einer feinen Nadel in ihre Haut, spürte, wie die eisige Flüssigkeit schockartig Ordnung schaffte. Sie drehte sich um. Die Gestalt war nun deutlich sichtbar. Ein Name erhob sich wie eine sprudelnde Fontäne aus der Tiefe ihres Geistes, sank zurück und wurde vergessen. "Wach auf! Schnell! Wir haben nicht viel Zeit! Wach auf!“ hörte sie jemand sagen, verstand es aber nicht. Einem Gewittersturm gleich tobte der Neutralisator durch ihre Nerven. Er zerrte künstlich errichtete Blockaden nieder und brachte eingeschlafene Synapsen wieder in Schwung. Dann war es vorbei.

Marianna riss die Augen auf und sah in Augen, die unergründlich fremd waren. Verständnislos starrte sie auf die Person vor ihr, die aussah wie ein Mensch und doch keiner war. Mink! Ein freudiger Schreck ging ihr durch und durch. Doch es war nicht Mink. Es war Irín. Instinktiv ging sie einen Schritt zurück. Mit Irín wollte sie auf keinen Fall allein sein. Sie war sich sicher, Irín würde ihr bei der erstbesten Gelegenheit ein Messer in den Rücken rammen. Marianna stand mit dem Rücken zur Wand. Nur mit Mühe schaffte sie es, sich aufrecht zu halten. Jetzt nur nicht hinfallen, nur nicht ohnmächtig werden. Auf keinen Fall! Sie traute Irín alles zu, wirklich alles!
"Keine Angst! Es ist gleich vorüber! Du wirst dich gleich besser fühlen. Tut mir leid, doch es ist keine Zeit, für einen langsamen Übergang." Sie hörte Iríns beruhigende Worte, die sie seltsamerweise glaubte. "Später wird noch Zeit genug sein, alles zu begreifen. Jetzt hör mir gut zu und vergiss nichts von dem, was ich dir sagen werde!"
"Aber ... was ist denn los?" fragte Marianna.
"Es ist Krieg!" antwortete Irín und streifte ihr das schillernde Vandai ab. Für das was sie vorhatte, musste Marianna ordentlich gekleidet sein und hielt ihr ein winziges Bündel hin. "Zieh das an! Los, beeile dich!"
Und tatsächlich, Marianna begriff mit einem Mal. Ohne zu zögern, schlüpfte sie in den silberweißen Vandix, eine Art Overall, der sich wie eine zweite Haut um sie schmiegte. Sodann zog sie den Vandai wieder über und verschloss ihn sorgfältig.
„Lass niemand sehen“, ermahnte Irín, „was du unter dem Mantel trägst, hörst du? Außenweltler tragen normalerweise keinen Vandix!“ Dann band Irín ihr etwas ans Handgelenk. "Du weißt, was das ist?"
Marianna betrachtete das Armband mit dem matt schimmernden Sensorfeld. „Eine Art tragbarer Computer, ein Fendaca?“ erinnerte sie sich. Eine andere Ausführung der Einheit klebte hinter ihrem rechten Ohr.
"Die Patrouille ist unterwegs. Sie werden gleich hier sein. Sie sammeln alle Außenweltler ein und bringen sie zum Cedec, das ist unser Raumhafen, wenn du dich erinnerst. Es ist Krieg. Alle Außenweltler werden in ihre Heimat zurückgeschickt. Während des Krieges dürfen sie sich nicht auf Domoran aufhalten. Auch du müsstest Dormoran wieder verlassen ..." Sie bedachte Marianna mit einem für domoranische Verhältnisse ungewöhnlich wütenden Gesichtsausdruck. "... doch das geht nicht."
"Warum denn nicht?" fragte Marianna leichtsinnig. Sie hatte kein Problem damit. Die Sache mit Mink war vorbei.
"Weil es zu spät ist!" fauchte Irín. "Ich habe dich hergeholt, als wegen der Kriegsvorbereitungen schon keine Aufenthaltsgenehmigungen mehr erteilt wurden. Du bist illegal hier, verstehst du? Illegal! Ich habe es für Mink getan. Du hast ihm den Kopf verdreht. Er wollte dich haben, also habe ich dich geholt. Ganz einfach! Dann hat er sich aus dem System ausgeklinkt und die Zeit vergessen! Ich konnte ihn nicht lokalisieren, viel zu spät hat er sich bei mir gemeldet. So etwas hätte nie passieren dürfen, nicht in dieser Situation. Mittlerweile ist der Hafen vollständig kontrolliert. Für dich führt kein Weg mehr fort von Domoran. Du musst dich verbergen, bis der Krieg vorbei ist. Ich habe dafür einen geeigneten Ort ausgewählt, dort musst du hin. Aber zuerst gehst du mit der Patrouille zum Cedec. Aber du musst von dort unverzüglich verschwinden, weil du nicht registriert bis. Deswegen begibst von dort aus mit dem Oripan unverzüglich zum Yyaný-Da. Ich habe dir davon erzählt, du erinnerst dich hoffentlich? Das ist einer unserer höchsten Türme und in seiner obersten Etage befindet sich ein besonderes Zentrum. Ich habe einen Schlüssel dafür. Wenn du da hineingelangst, bist du vollkommen sicher. Auf direktem Wege kannst du aber nicht dorthin, denn dein Weg darf nicht verfolgbar sein, das würde selbst jetzt auffallen.“
"Warum kann ich nicht einfach hierbleiben? Wenn keiner weiß, dass ich hier bin, sucht mich doch auch niemand. Warum muss ich mit der Patrouille mitgehen? Was ist, wenn die meine Genehmigung sehen wollen?" fragte Marianna mit einer gewissen Arglosigkeit, wofür sie sich von Irín einen verächtlichen Blick einfing.
"Das Intril-Zentrum wird während des Krieges versiegelt, was bedeutet, dass die Lebenserhaltungssysteme abgeschaltet werden, da die Energie anderweitig benötigt wird. Deswegen wird es gründlich abgesucht. Sie würden dich auf jeden Fall finden, falls wider Erwarten nicht, dann würdest du sterben. (Marianna hatte durchaus den Eindruck, dass Irín nichts dagegen hätte, sollte es so kommen.) Zunächst ist es das Sicherste, wenn du dich von der Patrouille zum Cedec bringen lässt. Sie fragen nicht nach Genehmigungen. Sie schaffen einfach die Leute raus, für mehr ist keine Zeit. Vor der Abreise wird natürlich kontrolliert, was wir bei dir verhindern müssen, damit nicht bemerkt wird, dass du illegal hier bist. Illegale gelten in Kriegszeiten automatisch als Spione und werden dem Kelinat überstellt. Das darf nicht geschehen. Du wirst den Cedec unverzüglich mit einem Oripan verlassen. Dessen Benutzung wird zwar registriert, aber es wird kein Alarm ausgelöst, denn der Orpian führt hierher zurück, das ist unauffällig, denn noch sind reguläre Patrouillen zwischen hier und dem Hafen unterwegs. Du weißt doch hoffentlich noch, was ein Oripan ist?"
„Eine Art zwischendimensionaler Tunnel, mit dem man sich schnell von einem Ort zum anderen bewegen kann?“ fragte sie unsicher, und Irín nickte. Mariannas fragte sich, was wohl geschehen würde, wenn sie sich an die vielen fremden Dinge nicht mehr erinnern würde?
"Hör zu!“ sagte Irín streng, „ich habe herausgefunden, dass man einen Oripan weit vor dem Zielpunkt verlassen kann, wenn man unverzüglich nach dem ersten Schritt eine Rückwärtsdrehung macht und dann einen Schritt zur Seite.“
"Wie", warf Marianna ein, "soll das denn gehen? Das gibt es doch gar nicht!"
"Eben darum!" antwortete Irín. "Es ist eine Anomalie, die durch die Gegenbewegung hervorgerufen wird mit dem Ergebnis, dass der Oripan sein Ziel zwar erreicht, aber leer ist. Das habe ich mehrfach getestet. Du suchst dir also einen geeigneten Platz und öffnest den Oripan, trittst ein, machst einen Schritt, dann eine Rückwärtsdrehung und dann den Schritt zur Seite. Hast du das verstanden?" Marianna nickte, wenn auch recht zögerlich. "
„Wo du letztendlich ankommen wirst, kann ich jedoch nicht hundertprozentig vorhersagen. Das hängt von der Drehung und der Schrittlänge ab. Mit Sicherheit wirst du ins Ventréen-Zentrum gelangen, ich habe den Radius entsprechend konfiguriert. Sicher ist das aber nicht. Wenn nicht, dann musst du selbst einen Weg ins Ventréen finden. Dabei musst du möglichst viel zu Fuß gehen, was für dich bestimmt kein Problem ist. Die Oripan-Wege sind überwacht. Du darfst den Oripan also nur benutzen, wenn du einer Patrouille begegnest. Im Ventréen befindet sich der Yyaný-Da-Turm. Dort musst du hin. Dort bist du sicher.“ Marianna schaute verwirrt und ungläubig zugleich. „Also nochmal: die Patrouille kommt, du gehst mit. Im Cedec suchst du unverzüglich eine Stelle, wo keiner sieht, dass du einen Oripan öffnest. Dann machst du den ersten Schritt hinein, dann die Rückwärtsdrehung, dann den zweiten Schritt zur Seite. Dann bist du wieder draußen. Irgendwo im Ventréen … oder wo auch immer. Du ziehst unverzüglich den Vandai aus und ziehst die Vandix-Haube über den Kopf. Ein flüchtiger Blick wird nicht erkennen, dass du keine von uns bist. Heute wird keiner genau schauen, alle werden es eilig haben. Und dann machst du dich auf dem Weg. Hier sind der Schlüssel und ein systementkoppelter Navigator.“ Sie hängte Marianna beides an einer Kette um den Hals steckte beides unter den Vandix. „Und achte unbedingt darauf, dich immer in die gleiche Richtung zu drehen!“
Irín sprach so schnell, wenn man überhaupt von Sprechen reden konnte, dass Marianna trotz des Simultan-Sprachmittlers hinter ihrem Ohr ihre ganze Aufmerksamkeit auf Irín richten musste. So kam sie aber nicht in Verlegenheit über Dinge nachzugrübeln, die sie beim besten Willen nicht verstand, noch nicht oder nicht mehr?
"Es wird gleich eine Patrouille hereinkommen. Vergiss nichts von dem, was ich dir gesagt habe. Sei vorsichtig und lasse dich nicht erwischen! Auf gar keinen Fall! Und rede mit niemand! Warte im Yyaný-Da auf mich!" Sie aktivierte ihren Oripan und verschwand.

Nur wenige Sekunden danach glitt die Tür auf. Die Patrouille war angekommen. In den schwarzen Vandix-Anzügen sahen sie gefährlich aus. Marianna, Iríns Ermahnungen beherzigend, blieb einfach stehen, dachte an die bizarren Vögel vor dem Fenster, an die blaugrünen Kugelbäume und ging gefügig mit, als sie sanft am Arm gefasst und hinausgeführt wurde.

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