Kapitel 21

Eva lief voraus, Vince und Alexander hinterher, sich dann und wann augenrollende Blicke zuwerfenden. Es dauerte nicht lange, da verschwand Eva in einem Torbogen, durchquerte einen Hinterhof, einen zweiten und einen dritten.
„Was soll das denn werden?“ fragte Vince mürrisch, der längst das Gefühl hatte, irgendwie an der Nase herumgeführt zur werden. „Das ist nicht der Weg zur Agentur!“
„Nein, natürlich nicht!“ erwiderte Eva gelassen und warf einen demonstrativen Blick auf ihre Armbanduhr. „Wir werden hier einkehren, einen Drink nehmen und auf Marianna warten, sie ist gleich da?“
„Und warum können wir uns dann nicht in der Wohnung treffen?“ maulte Vince.
„Weil Marianna hier noch was zu erledigen hat!“ erwiderte Eva lakonisch und klingelte an einer unscheinbar aussehenden Tür.

Ein bulliger Türsteher öffnete und begrüßte Eva mit einem Küsschen, was ihr einen erstaunten Blick von Vince einbrachte. Es war eine von Mariannas Lieblingskneipen und Eva kam oft mit ihr her. Sammy, der Türsteher, war ein witziger Kerl und Mitinhaber. Die zweite Mitinhaberin war Marianna, was aber außer Eva keiner wusste und auch keiner wissen sollte.
Trotz der relativ frühen Uhrzeit war die Bar gut besucht. Eva steuerte zielstrebig auf den Tresen zu und begrüßte die Barfrau ebenfalls mit einem Küsschen. Sowohl sie als auch Vince ergatterten einen Barhocker. Alexander erwies sich als nicht forsch genug, so dass er mit einem Stehplatz vorliebnehmen musste. Obwohl Vince noch nie hiergewesen war, kannte er doch den einen oder die andere und überließ Alexander schon nach ein paar Minuten seinen Sitzplatz.

"Mit Vince kann man echt nirgendwo hingehen, er lässt einen immer gleich sitzen!" kommentierte Alexander. Bewunderung schwang mit, aber auch ein wenig Neid. "Man kann es sogar wörtlich nehmen ..." Dies war ein sehr langer Satz für den sonst so schweigsamen Alexander.
Eva nickte kommentarlos, während sie Vince hinterherschaute. Wie sollte es auch anders sein, turtelte er mit einer ausgesprochenen Schönheit herum. Dass ihr dieser Anblick einen Stich versetzte, machte sie wütend und verlegen zugleich.
"Sag mal, du hast doch ein Problem!" sagte sie zu Alexander um sich abzulenken. "Ein Problem mit Marianna. Du bist in sie verliebt! Und sie nicht in Dich. Hab ich recht?" Sie lächelte und fischte aus einem Schälchen mit gerösteten Sonnenblumenkernen etwas Rotes. „Da schau her, was macht denn ein Gummibärchen im Vogelfutter?“ sagte sie schelmisch, bevor sie es verspeiste.

Evas Worte schlugen bei Alexander ein wie eine Bombe. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er sie an und war unfähig, etwas darauf zu erwidern, obwohl er sich wünschte, ihre Feststellung leugnen zu können. Er fühlte eine ungewisse Panik in sich hochkreiseln, wurde abwechselnd blass und rot und wäre am liebsten auf der Stelle unsichtbar geworden. Eva hatte so einfach ausgesprochen, was er selbst kaum zu denken wagte. Er traute sich nicht, sie anzusehen. Unbehaglich rutschte er auf seinem Sitz hin und her. Schließlich griff er mit leicht zitternder Hand nach seinem Glas und nahm einen großen Schluck.
Um Evas Lippen spielte ein amüsiertes Lächeln ob seiner Verlegenheit, die ihn sehr jungenhaft wirken ließ, ihm aber sehr gut stand. Sie konnte verstehen, dass Marianna sich mit ihm eingelassen hatte, obwohl er so gar nicht ihren sonstigen Männergewohnheiten entsprach. Sachte legte sie ihm die Hand auf den Arm, um zu besänftigen, was sie aufgewühlt hatte, zwinkerte sie ihm verschwörerisch zu.
In diesem Augenblick erkannte Alexander (mit dem Gespür der Unglücklichen für die Tragödien anderer), wie es um Eva stand: Sie trug ebenfalls schwer an der Bürde einer unerwiderten Liebe. Was für ein Geheimnis wohl ihr Herz bergen mochte? Ihr Gleichmut verwunderte ihn, gleichzeitig beneidete er sie darum. Er wäre froh gewesen, ein wenig von ihrer Gelassenheit zu besitzen. Dann wäre es ihm vielleicht möglich gewesen zu akzeptieren, dass sein Erlebnis mit Marianna nicht wiederholbar war. Vielleicht wäre es dann sogar möglich gewesen, eine schöne Erinnerung daran zu bewahren, anstatt haltlos zu verzweifeln. Doch alles Wünschen nutzte nichts; es wollte ihm einfach nicht gelingen. Hilflos durchlitt er auch jetzt sämtliche Höllenqualen, die ihn zuverlässig immer dann überfielen, sobald sich Marianna sich in seine Gedanken schob, was in den letzten Tagen nur allzuoft geschah.

"Na, sag schon! Ist doch so? So was kann man doch ruhig zugeben!" Sie schnippte zackig mit den Fingern. Gebannt durch diese Geste, musste Alexander lachen.
Sein "Ja!" war kaum zu hören, so belegt war seine Stimme und so verlegen er selbst. "Ja! Es stimmt! Ich liebe sie! Ja! Ich liebe Marianna! So ist das! Doch sie ..." Gequält sah er Eva an. "Ich liebe sie, seit ich sie zum ersten Mal gesehen habe. Es war wie vorherbestimmt, als wäre es mein Schicksal.“ Er warf Eva einen weiteren gequälten Blick zu, bevor er fortfuhr, seine Worte mit Bedacht wählend, damit sie ihn auch verstünde. „Ich sah sie und spürte eine Leidenschaft in mir erwachen, ich war zu allem bereit, als sie zum ersten Mal berührte. Ich war bereit, mein Leben für sie zu geben. Gleichzeitig war ich verwirrt und schämte mich meiner begehrlichen Gefühle. (Eva riss ungläubig die Augen auf.) Es war nicht richtig, dass ich mich ihr sofort hingegeben habe. Dadurch beschmutzte ich das tiefe Gefühl, das ich für sie empfand." Alexander stockte für einen kurzen Moment und holte tief Luft. Dann sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus, als fürchte er, wenn nicht jetzt, nie wieder etwas sagen zu können. "Ich dachte, Liebe sei etwas anderes, etwas Stilles und Sanftes ... etwas Vernünftiges. Ich glaubte, Liebe sei, eine nette Frau zu finden, sie zu heiraten, Kinder groß zu ziehen und gemeinsam ein angenehmes Leben zu führen. Niemand hatte mir gesagt, dass die Liebe wie ein Wirbelsturm über mich kommen würde, der mich umwerfen würde. Ich warf alle Bedenken über Bord und ließ mich, ohne an die Konsequenzen zu denken, in diesen verhängnisvollen Taumel mit Marianna hineinfallen." Alexander presste die Hände vor die Augen. "Alles was in dieser Nacht geschah, wertete ich als Beweis ihrer Liebe. Das war ein gewaltiger Trugschluss, wie sie mir unmissverständlich klar gemacht hat. Unser erstes Beisammensein war bereits das Ende von allem! (Eva starrte ihn fasziniert an, hielt sich die jedoch die Hand vor den Mund, um nicht versehentlich zu lachen.) Und nun schäme ich mich, weil ich so schwach war und willig tat, was sie wollte. Ich hätte es nicht zulassen dürfen. Es ist ungehörig so etwas zu tun, ohne sich wirklich zu lieben." Er nahm noch einen Schluck und starrte eine ganze Weile zu Boden. "Weißt Du," er hob den Kopf und sah Eva mit tränenfeuchten Augen an, "ich glaube, sie tut so etwas andauernd. Mit jedem Mann, der ihr gefällt und der sich von ihr verführen lässt. Ich kann es nicht ertragen, dass sie so etwas tut. Sie sollte es nicht tun. Sie hat doch einen Freund! Wie kann sie dann mit anderen Männern …? Sie macht Vince schöne Augen und bestimmt noch tausend anderen auch. Aber an mir ist ihr nichts gelegen, an mir hat sie kein Interesse, sie hat mich genommen und dann fallen gelassen wie einen fauligen Apfel. Und ich war so dumm zu glauben, dass ich einzigartig für sie sei ..." Die Verlegenheit trieb ihm die Röte ins Gesicht. "Von mir wollte sie schon ... gleich danach nichts mehr wissen, ich habe es genau gespürt, obwohl ich es nicht wahrhaben wollte. Und dann hat sie mich mit völlig belanglosen Worten abgespeist. Ihr Benehmen war genau so, wie mein Vater einmal erklärte: Eine Frau begehrt einen Mann nur körperlich, für Romantik und Liebe hat sie keinen Sinn. Nur ich habe ihm das damals nicht glauben wollen.“ Er holte tief Luft, trank sein Glas leer und stellte es sachte auf den Tresen zurück, obwohl er es am liebsten mit aller Kraft zu Boden geschleudert hätte. „Ich hätte mich weigern müssen, doch ich konnte es einfach nicht. Sie hatte mich völlig in der Hand. Ich konnte nichts dafür, dass sie es mit mir getan hat. Ich konnte nichts anderes, als mich ihr hingeben ...! Wenn ich ihr nur NIEMALS begegnet wäre!" Alexanders Wortschwall versiegte von einer Sekunde zur anderen.

"Ich kann es nicht fassen! Ich glaube, Dir ist der Rhabarbersaft in den Kopf gestiegen. Was anderes kann's nicht sein, war wahrscheinlich zu gesund. Weißt Du eigentlich, was Du mir gerade erzählt hast? Das ist der größte Quatsch, den ich jemals gehört habe! Der reinste Irrsinn! Ich bin aufrichtig erschüttert!" rutschte es Eva heraus, und sie bereute es sogleich.
Beschämt sah Alexander zu Boden und bereute zutiefst, sich ihr anvertraut zu haben. Sie war auch nicht besser als Marianna. Auch sie lachte über ihn. Er wollte nur noch weg.
"Tut mir leid, war nicht so gemeint. Nun komm schon, sei nicht beleidigt. Ich weiß gar nicht was ich sagen soll. Dein Vater hat dir das mit den Frauen und den Männern so erklärt? Ich fasse es nicht, Du Armer!" entschuldigte sich Eva, nahm Alexanders Hand und streichelte sie bedächtig.
Er zögerte lange, doch das Bedürfnis nach einer verständnisvollen Freundin siegte schließlich. Er nahm ihre Entschuldigung an und sprach weiter: "Was soll ich bloß machen? Ich weiß gar nicht, was ich von allem halten soll. Ich glaube ich weiß gar nichts mehr ... Es ist alles so schrecklich!" Die Schultern hingen resigniert nach unten, sein Blick war außerordentlich verzagt. Er sah Eva so unglücklich und so bittend an, gerade als könne sie Marianna für ihn erringen und die Welt zu seinen Gunsten zurechtrücken. Er seufzte abgrundtief und ergreifend.
"Na! Immer mit der Ruhe! So schnell geht die Welt nicht unter! Dein Problem ist, dass Du zu lange auf Deine Eltern gehört oder zu viele Schundromane gelesen hast. Das Leben hat aus Marianna eine Kämpferin gemacht, hart gegen sich selbst und das Ziel immer vor Augen. Weißt Du, an Sonntagnachmittagen händchenhaltend durch die Wiesen schlendern und hingebungsvoll Sonnenuntergänge betrachten, das ist nichts für sie. Womit ich nicht sagen will, dass sie gar keine romantische Ader hätte, aber sie äußert sich halt irgendwie anders. Es kann sie auch keiner so ganz für sich alleine haben!" Eva sah ihn kopfschüttelnd und sehr besorgt an. Sie konnte nicht glauben, dass er wirklich ernst gemeint hatte, was er in den letzten Minuten vom Stapel gelassen hatte. Aber alles sprach dafür. Es war schier unglaublich!
"Ich will sie aber alleine für mich haben!" beharrte er mit kindlichem Trotz. "Ich meine, ja, ich will ... wenigstens nicht NICHTS für sie sein. Es bricht mir das Herz, wenn ich mir das vorstelle. Nichts weiter als ein Abenteuer unter vielen, womöglich noch weniger als das, das ertrage ich einfach nicht. Ich glaube, ich werde gehen, bevor sie kommt. Ich ertrage es ganz sicher nicht, sie heute zu sehen. Nein, ich ertrage es nicht. Verstehst Du das denn nicht? Sie verführt mich und tut danach so, als würde sie mich nicht kennen!"
"Was ja auch tatsächlich stimmt!" fiel ihm Eva energisch ins Wort. "Sie kennt Dich nicht und Du kennst sie auch nicht. (Aber ich liebe sie, rief er in Gedanken.) Und Du kannst heilfroh sein, dass sie nicht gehört hat, was Du mir erzählt hast. Wenn ich Dir einen guten Rat geben darf, tu es auch niemals! Behalt es für Dich, erzähle es Deinem Tagebuch oder mir, aber niemals Marianna! Sie würde es nicht verstehen." Eva sah Alexander streng an, er nickte prompt und sie fuhr fort. "Marianna ist eine wundervolle Frau, die man achtet und respektiert und auf die man sich zu jeder Zeit fest verlassen kann. Aber sie ist einfach keine Frau mit der man stundenlang händchenhaltend und wortlos schmachtend auf einer Parkbank am Seeufer sitzen kann. Solchen Firlefanz kann MANN heutzutage allenfalls noch von traumhaften Märchenprinzessinnen erwarten. Und vor allem, Deine Vorstellungen von „Tugend & Keuschheit“, damit könnte man allenfalls ein mittelalterliches Stiftsfräulein erfreuen, meinst Du nicht auch? Du warst doch schon mal im Kino, nicht wahr? Du warst auch schon mal auf einer Party, nicht wahr? Selbst Du, der Du offensichtlich kaum aus dem Haus und unter Leute kommst, solltest mitbekommen haben, dass an dem, was Dir Deine Eltern eingetrichtert haben, etwas Grundlegendes nicht stimmt. Du kannst heilfroh sein, dass Du Vince ..." Sie kam nicht dazu, den Satz zu beenden, denn unversehens war ihr entglitten, was sie hatte sagen wollen. "Also, wo waren wir stehengeblieben? Du kennst Marianna nicht und sie Dich auch nicht. Also! Du kannst sie doch nicht zwingen wollen, sich in Dich zu verlieben? (Alexander schüttelte betrübt den Kopf.) Am besten ist, Du wartest einfach mal ab, was sich in Zukunft so entwickelt. Du kannst ja ab und an bei uns vorbeikommen. Aber versprich dir nicht allzu viel davon. Marianna kann es nicht leiden, wenn sich ein Mann in ihr Leben drängt. Sie kann da sehr eigensinnig sein!"
"Du hast gut reden! Wirklich! Wenn sie mich eben nur ... ich meine, wenn ich eben nur wüsste, ... ob ich ihr auch etwas bedeute. Aber wahrscheinlich hast Du recht ..." erwiderte Alexander zögernd, nach wie vor ziemlich trübselig, doch Dank Evas klugen Worten zeigte sich ein blasser Hoffnungsschimmer am Horizont.
"Ach, Quatsch! Du darfst Dich da echt nicht so reinsteigern! Versuche, das jetzt einfach durchzustehen und warte erstmal ab. Im Ernst, das ist wirklich das Beste! Und wer weiß? Vielleicht kann es ja irgendwann mehr werden? Du darfst jetzt nur nicht gleich aufgeben! Auf keinen Fall! Aber lassen wir das jetzt ..." Eva entschied, dass es Zeit für einen Themenwechsel war. "Sag mal, was machst du denn sonst so, außer in Marianna verliebt zu sein und in einer Band zu spielen?"
Alexander sah sie zuerst irritiert an, aber als er merkte, dass sie ihn nur ein bisschen aufziehen wollte, spürte er plötzlich ein ganz herzliches Gefühl für sie und am liebsten hätte er sie umarmt, was er sich aber nicht traute.

Bald waren sie in ein angeregtes Gespräch vertieft. Ab und zu lachten beide fröhlich und ausgelassen. Sie fühlten sich wohl und stellten fest, dass sie sich ganz gut leiden und wunderbar miteinander reden konnten. Plötzlich stockte Alexander mitten im Satz. Eva, die mit dem Rücken zum Eingang saß, musste sich nicht umzudrehen um zu wissen, dass Marianna soeben den Raum betreten hatte. Eva schüttelte den Kopf: absolut hoffnungslos!
Starr saß Alexander da. Seine ausgelassene Fröhlichkeit war verschwunden und hatte einem verdächtigen Glitzern in seinen Augen Platz gemacht. Gebannt starrte er Marianna an und verschlang sie fast mit seinen Blicken. Sie sah hinreißend aus, viel schöner, als er sie in Erinnerung hatte. Noch während Marianna sich orientierend umsah, erschien Vince mit einem charmanten Lächeln, flüsterte ihr etwas ins Ohr, küsste sie sanft auf die Wange, nahm sie an der Hand und zog sie hinter sich her zu Eva und Alexander.
"Na, Ihr zwei!" begrüßte Marianna die beiden munter, "unterhaltet Ihr Euch gut? Hoffentlich hat es nicht zu lange gedauert?“ fragte sie der Form halber. „Tut mir leid, ein unvorhergesehener Termin." Eva grinste nur vielsagend, Alexander verzog keine Miene, so dass Vince das Wort ergriff.
"Ach Quatsch! Gar kein Problem! Auf eine schöne Frau warten wir doch gerne ... nicht wahr, Alex!?" wandte er sich an den Freund, doch dieser reagierte immer noch nicht. Vince sah ihn kurz stirnrunzelnd an, bevor er sich wieder an Marianna wandte. Er legte sich mächtig ins Zeug, und sie hörte brav zu. Währenddessen legte er seinen Arm besitzergreifend um Mariannas Schultern, was diese aber nicht duldete.
Alexander, der die beiden genauestens beobachtete, ließ es zu, dass ein hoffnungsvoller Funke in ihm aufglomm. Wollte sie vielleicht doch nichts von Vince? Eine Sekunde später erlosch dieser Funke sofort wieder als er mitansehen musste, wie Mariannas Blick selbstvergessen und wohlgefällig über den Körper seines Freundes glitt. Er hätte aufschreien mögen vor Schmerz, als er das Feuer erkannte, das in Mariannas Augen aufflackerte. Rasende Eifersucht packte ihn mit eisernem Griff und ließ ihn nicht mehr los. Wie betäubt stand er auf und ging hinaus. Eva ihrerseits hatte ebenfalls genug vom Anblick des heftig flirtenden Paares, und sie verabschiedete sich zügig. Es hielt sie keiner auf.

Draußen stand Alexander in einer dunklen Ecke und starrte dumpf vor sich hin. Die Lippen zusammengekniffen, die Augen groß und tränenfeucht, die Arme eng vor der Brust gekreuzt, der Jammer quoll ihm aus allen Poren. Überwallt von verstehendem Mitleid, zog sie ihn spontan an sich und tätschelte ihm den Rücken. "Ey, ey! Mach doch nicht so ein Gesicht! Nur nicht aufregen, was soll denn das?" Nicht ganz uneigennützig stachelte sie ihn an: "Du wirst doch jetzt nicht kneifen wollen? Willst Du etwa schon aufgeben und ihm kampflos das Feld überlassen. (Jetzt ein Wort des Bedauerns, und er würde anfangen zu weinen, da war sie sich ganz sicher.) "Vince weiß wohl nicht, dass Du ... und Marianna, hm? Also, wegen dem würde ich mir an Deiner Stelle nun wirklich keine Sorgen machen. Sonderlich ernst kann der es doch bestimmt nicht meinen? Was denkst Du? Du kennst ihn doch, oder? Ist doch Dein Freund, da weißt Du doch wohl am besten, wie er ist! Gib mir mal Deine Nummer. Ich ruf' Dich auf alle Fälle an, morgen oder so. Und am besten gehst Du jetzt wieder zurück und unterhältst Dich ganz normal mit den beiden. Dein Freund redet doch eh nur von „DER BAND“. Wenn ich es richtig einschätze, wird er ihr noch stundenlang etwas vorschwärmen und Marianna gründlich langweilen! Also Kopf hoch! Was der kann, kannst Du doch schon lange! Ich muss jetzt gehen, aber Du schaffst das schon! Tschüss, bis dann!" Noch ein letzter aufmunternder Blick, noch ein letzter freundschaftlicher Kuss und Eva war verschwunden.

Nachdenklich schaute Alexander hoch zu dem bisschen Himmel, das der Hinterhof freigab. Ziemlich verloren fühlte er sich, jetzt nachdem Eva ihn verlassen hatte. "Echt, ey! Die hat gut reden!" brummelte er trotzig vor sich hin und stampfte mit dem Fuß. Dann nahm er all seinen Mut zusammen, ging wieder hinein. Eine Sekunde später blieb ihm auf der Stelle das Herz stehen. Angewurzelt stand er da und musste zusehen, wie sich Vince und Marianna hingebungsvoll küssten. Das darf doch einfach nicht wahr sein! Nein! Nein! Nein! Er drehte sich auf dem Absatz herum und rannte wieder hinaus.
Doch Vince hatte ihn dennoch gesehen, hatte gesehen wie Alexander hereinkam, die Augen weit aufriss und dann wieder nach draußen rannte. Er löste sich von Marianna und sah sie mit bedauerndem Blick an. "Tut mir leid, ich muss los, ich muss mal nach Alex schaun," sagte er leise zu Marianna. "Er ist in letzter Zeit so komisch. Wart mal kurz! Bin gleich wieder da!"
Marianna ihrerseits hatte eine plötzliche Eingebung. Ihr war mit einem Mal klar geworden, dass sie die beiden zumindest heute nicht mehr zu sehen bekommen würde.

"Hey Alex! Bleib gefälligst stehen!" brüllte Vince. "Wo rennst Du denn hin? Was ist denn nur in Dich gefahren? Echt ey, mannomann! Bleib stehen!"
Alexander stoppte kurz, drehte sich um und schrie lauthals zurück: "Lass mich bloß in Ruhe! Ich will NIE WIEDER was mit Dir zu tun haben! Ich dachte immer, Du bist mein Freund! Ich hasse Dich! Ich will Dich NIE wiedersehen!" Sprachs und rannte wie von Teufeln gehetzt weiter.
"Mann, ey! Warte gefälligst! Willst Du mir nicht wenigstens sagen, was los ist? Ich weiß überhaupt nicht, was eigentlich in Dich gefahren ist. Sonst machst Du doch nicht solche Sachen!" Vince konnte sich überhaupt nicht vorstellen, was das zu bedeuten hatte und rannte deshalb zügig hinter ihm her. Es dauerte nicht lange, da hatte er Alexander eingeholt. Heftig nach Atem ringend und mit bebenden Schultern lehnte dieser mit geschlossenen Augen an einer Hauswand. Tränen liefen ihm die Wangen herunter. Vince wusste nicht, was er tun sollte. Unschlüssig trat er einen Schritt auf ihn zu. Noch nie zuvor hatte er einen Mann weinen sehen und ihm war ziemlich unbehaglich zumute. Was war bloß mit Alexander los? Vielleicht eine Familientragödie? Vorsichtig und überaus verlegen legte er ihm die Hand auf die Schulter. "Mannomann! Echt ey! Sag mir jetzt endlich, was los ist. Ich habe wirklich keine Ahnung! Nun, sag schon, was ist denn passiert?"
Statt zu antworten fiel ihm Alexander lediglich laut aufschluchzend um den Hals. Reflexartig umarmte Vince ihn. Doch gleich darauf zog er sich wieder zurück, weil er sich so eigenartig dabei fühlte. Nichtsdestotrotz überkam ihn eine Welle heftigen Mitleids für seinen Freund. Er wusste zwar immer noch nicht, was Alexander zu diesem Gefühlsausbruch veranlasst hatte, aber es musste etwas Entsetzliches geschehen sein. Zaghaft streichelte er ihm über den Kopf. Alexander schluchzte noch immer hemmungslos. Peinlich berührt, fummelte er ein zerknülltes Papiertaschentuch hervor und versuchte unbeholfen, Alexander die Tränen abzuwischen. "Na, komm! Sag schon, was ist denn? Was ist denn um Himmelswillen passiert?"
Endlich fand Alexander seine Stimme wieder und fing zu reden an, zusammenhangslos zwar, dafür umso leidenschaftlicher. Und Vince erfuhr, was Alexander tonnenschwer auf der Seele lag und ihm das Leben schwermachte.

"Mannomann, Alex! DAS ist ja echt der Oberhammer! Das gibt's ja nicht! Du und Marianna! HA! Das ist ja genial! Das hätt ich nicht besser hingekriegt ...!" erwiderte Vince leichthin, den Ernst der Lage völlig verkennend. "Gut gemacht! Echt ey! Jetzt lass Dich nicht so hängen! Den Frauen darf man nicht nachrennen! Und dieses Gefasel von der einzig wahren Liebe, das vergiss mal schnell wieder! Das ist doch nur was für hysterische Weiber, die sonst nichts Besseres zu tun haben! Du weißt doch, im Leben eines Mannes gibt es viel Wichtigeres!" Lachend klopfte er ihm auf dem Rücken herum.
"Du verstehst überhaupt nichts! Gar nichts! Ich dachte, dass du mein Freund bist, ich dachte, dass Du ... mich verstehst!" entrang es sich von Alexanders Lippen unsagbar bitter, verletzt über die Reaktion des Freundes. "Weißt Du denn überhaupt, was Liebe ist? Ich glaube nicht! Soll ich es Dir sagen?" fuhr er Vince mit einer Heftigkeit an, die ihn selbst erstaunte. "Ich sags Dir! Hör gut zu! Liebe bedeutet, dass man nichts zurückhält, Liebe bedeutet, dass dein Herz überquillt vor Freude, dass die Befriedigung der Sinne allen Kummer auslöscht. Liebe bedeutet, sich zu verschenken, sich aufzugeben und nur für den anderen dazusein. Das kannst Du nicht, wirst es niemals können. Du benimmst dich wie ein ... was weiß ich ... Du benutzt die Frauen doch nur zu Deinem Vergnügen. Du wirst Dich niemals einer Frau unterwerfen und ihr dienen können! Ach, was verstehst du denn von großer, überwältigender Leidenschaft, von dem tiefen Bedürfnis eines Männerherzens nach Liebe und Geborgenheit? Du wirst niemals erfahren was es heißt, geborgen zu sein im Wissen um die gegenseitige Liebe." Alexander machte eine Pause und sah resigniert an den Nachthimmel hinauf. "Wer weiß, ob ich es jemals erfahren werde?"
"Wo hast Du bloss diesen Oberschwachsinn aufgeschnappt? Das klingt ja wie ... ich glaube, Du hast zu viele schlechte Filme gesehen." Vince war ausgesprochen fassungslos und begriff nicht, dass es Alexander ernst meinte, sehr ernst sogar. "Ich glaube, Dir hat das viele Alleinsein nicht gutgetan. Sei froh, dass Du jetzt mich hast. Es wird Zeit, dass Du die Welt und das Leben kennenlernst, und zwar so, wie es wirklich ist. Es ist alles ganz anders, und das mit der Liebe und dem Herz und der Seele, das ist alles ein Oberquatsch ... Ja! Ein Oberquatsch! Genau! Sieh Dir doch Marianna an! Die weiß auch, wo's langgeht, sonst hätte sie es niemals so weit gebracht."

Stumm und feindselig standen sich die beiden Freunde eine ganze Weile gegenüber. Doch als Vince Alexander so ansah, genau ansah, war ihm, als käme in seinem Inneren etwas ins Rutschen, als löse sich ein Knoten, der jahrelang festgezurrt gewesen war. Er ahnte, dass Alexander in gewisser Weise Recht hatte, wenn auch nur in gewisser Weise. Doch auch in seiner Brust schlug ein zärtliches Herz. Er zeigte es nur nie, obwohl es ihn schon das eine oder andere Mal danach gedrängt hätte. Und gerade jetzt fühlte er so etwas wie eine Warnung aus der Zukunft, die ihm zurief, dass er sich entscheiden werden müsse, dass er aufhören müsse, sein Herz und seine Seele mit Füßen zu treten, nur weil sein männlicher Stolz sanfte Gefühle nicht duldete. Erschüttert zog Vince Alexander nun noch einmal fest an sich. Ein Gefühl, das er nie zuvor gespürt hatte, keimte zaghaft in ihm auf. Etwas, das er nie zuvor hatte wahrhaben wollen. Er fand keine Worte dafür. Dunkel ahnte er, dass er unbewusst genau danach gesucht hatte, wenn er im Grunde genommen innerlich unbefriedigt, leichtfertig und gedankenlos von Bett zu Bett gehüpft war. Verstohlen rieb er sich die Augen. Ein kostbares Gefühl, das der Freund in ihm erweckt hatte, regte sich. Vince schluckte schwer, doch getreu dem altbewährten Motto beherrschte er sich. Doch ein klein wenig neidisch wurde er nun auf Alexander, der sich so hemmungslos seinem Unglück hingeben konnte. Und es erfüllte ihn mit Stolz, dass dieser sich ausgerechnet ihm so vorbehaltlos anvertraut hatte, obwohl er doch mit ein Grund für Alexanders Unglück war. Vince war zutiefst dankbar für dieses Vertrauen, das Alexander ihm geschenkt hatte. Er schwor sich in dieser Sekunde, dass er ihn nicht enttäuschen würde. Es verstand sich daher von selbst, dass er ihm bei Marianna nicht in die Quere kommen würde. Er drückte Alexander noch einmal. Ich glaube, ich habe zuviel getrunken, oder irgendwas war im Bier, was da nicht hineingehörte, meldete sich der Mann in ihm. Doch diese Stimme war in diesem Moment nicht stark genug und so legte er, ganz und gar ausgefüllt von diesem neuen Gefühl, schützend den Arm um den Freund. „Wir Männer halten zusammen“ verkündete diese Geste und so machten sie sich auf den Heimweg.

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