Kapitel 35

Ein unvorhergesehener Donnerschlag ließ einen goldenen Traum zersplittern. Die Zufriedenheit auf Vince' Gesicht verflüchtigte sich. Den Nachhall noch im Ohr schreckte er hoch und sah sich verwirrt um. "Eva? Wo bist Du? Eva?" murmelte er schwerfällig in die Dunkelheit hinein. Er wollte sich aufrichten, was ihm allerdings nicht gelang. Er war und blieb der Gefangene einer bleischweren, unüberwindlichen Müdigkeit.

Wie um ihn zu verhöhnen, kreischten drei weiße Möwen schadenfroh eine lächerliche Melodie. Dunkle Wolkenfetzen trieben unheilschwanger über einen glutroten Himmel und verknoteten sich zu einem undurchdringlichen Wall. Im Schutz der Dunkelheit rotteten sich die Geister der unschuldigen Kinder zusammen. Sie versammelten sich vor den Leichen der erschossenen Dorfbewohner. Diese erhoben sich und stimmten ein schrilles Klagelied an. Fluchend hielt sich Vince die Ohren zu. Nach einer unglaublich langen Litanei brach zu seiner unglaublichen Erleichterung der Kontakt zu den schreienden Seelen ab. Fröhlich zwitschernd verschwanden sie zusammen mit den Kindergeistern in einer besseren Welt. Endlich! Und endlich war Ruhe! Doch wie lange? "Die Stille wird nicht von langer Dauer sein!" prophezeite in feierlicher Monotonie eine Frau, deren Haar wie eine Fontäne aus hellem Silber in schwindelerregende Höhen schoss.
Da sah die Dunkelheit ihre Zeit gekommen und erhob sich aus dem Sumpf, um die Herrschaft über die Welt anzutreten. Doch nur kurze Zeit konnte sie herrschen, denn nur allzu bald kam das strahlende Licht herbeigeschwebt. Wie schon Jahrtausende zuvor, prallten die beiden unheilvollen Krieger mit wilder Wucht aufeinander. Sie spuckten gleisende Blitze und sonderten giftige Atompilze ab und brachten die Welt zum Erzittern. Starr vor Staunen ob dieser gnadenlosen Pracht blieb er einfach stehen und sah diesem gewaltigen Reigen zu, bis sich mit einem Mal alles änderte. Eine unglaublich schöne Stimme kristallisierte sich aus diesem Chaos hervor. Sie kam aus dem reißzahnbewehrten Maul einer unglaublich hässlichen Frau mit Krähenaugen und Krallenfingern und stahl sich hinterlistig in seine Ohrwindungen. Zuerst merkte Vince nichts von ihrem Vorhandensein, doch dann hätte er sich fast übergeben, als er begriff, was sie von ihm verlangte. "Küss' die Königin!" sang sie ohne Unterlass. "Küss' die Königin!" Nicht schon wieder, dachte er, nicht schon wieder! Er hätte nun wahrlich nichts dagegen gehabt, eine Königin zu küssen oder sonst irgendeine Frau, vorausgesetzt, sie wäre weder zu jung noch zu alt gewesen. Doch diese hier, sie konnte nur die Königin eines völlig verwahrlosten Kakerlakennestes sein, war nicht nur alt, verdreckt und stinkend, sie war mindestens so widerwärtig wie das Froschungeheuer mit den Maikäferflügeln. Angeekelt sah er minutenlang zu, wie in der Mitte ihres verschrumpelten Leibes ein weißglühendes Herz unheilkündend pulsierte. Das schaurige Pulsieren wurde nur unmerklich abgedämmt durch die zerschlissenen Fetzen, die sich die alte Vettel um ihren Leib gebunden hatte. Als er genug gesehen und seinen Verstand wiedergefunden hatte, machte er, dass er wegkam. Schuld an allem war das Froschungeheuer. Damit hatte alles angefangen! Es hatte diesen rotglänzenden Stein bei sich gehabt, der jetzt zwischen den verschrumpelten, gichtgekrümmten Fingern der Alten klemmte. Er würde sich hüten, ihn noch einmal anzufassen. Er war sich ganz sicher, überaus sicher sogar, dass er damit nichts, aber rein gar nichts zu tun haben wollte. Er musste vom Weg abgekommen sein, denn anders konnte er sich nicht erklären, warum er mit einem Mal in einem dunklen Wald herumstolperte. Er blieb nicht lange allein. Aus dem mit giftig aussehenden Pilzen bewachsenen Waldboden kroch gemächlich die Kakerlakenkönigin hervor; sie schien keine Eile zu haben. Wenn sie ihm nicht so viel Unbehagen eingeflößt hätte, wer weiß, vielleicht hätte er sie dann sogar zertreten. Kopfschüttelnd musterte er sie, während sie näherkroch. Jemand musste sie gewaschen, zum Friseur, in ein Kosmetikstudio und in ein Fachgeschäft für arabische Bekleidung gebracht haben, denn sie sah zwischenzeitlich ganz manierlich aus. Wenn nicht diese Augen gewesen wären, diese Augen, die überquollen vor herzergreifendem Mitleid. Was wollte sie nur von ihm? Er wusste genau, dass sie nicht das war, was sie vorgab zu sein, aber er kam nicht hinter ihr Geheimnis.

Der Sonntag ging schon wieder seinem Ende entgegen, als es Vince endlich gelang, sich aus der zähen Umklammerung seiner Alpträume zu befreien. Aufatmend erwachte er aus einem Schlaf, der alles andere als erholsam gewesen war. Mit unendlicher Behutsamkeit öffnete er die Augen. "Verdammt!" fluchte er mürrisch, als er auf die Uhr sah. "Schon so spät! Das gibt's doch nicht!" Er erschrak nicht zu Unrecht, als ihn jäh die Erinnerung überflutete. Eva! Der verpatzte Auftritt! Er war sich nicht sicher, ob er das jemals wieder in Ordnung bringen können würde. Kurzentschlossen angelte Vince nach dem Telefon. Er würde sie anrufen und sich bei ihr entschuldigen: länger warten würde nichts besser machen. Doch in der WG schien keiner zuhause zu sein und auf den Anrufbeantworter wollte er nicht sprechen, Evas Nummer hatte er nicht. Auch Alexander ging nicht ans Telefon. Nun denn, dachte er sich, was nicht zu ändern ist, ist eben nicht zu ändern. So schnell war Vince nicht zu beunruhigen. Und noch während er überlegte, was er jetzt tun sollte, schlief er wieder ein, ohne dass er es merkte.

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