Kapitel 38

Auf dem Heimweg von ihrer Stammkneipe, in die sie sich zu Ablenkungszwecken geflüchtet hatte, war Marianna nass geworden bis auf die Haut. Glück gehabt, tröstete sie sich, gestern wäre so ein Gewitter mein Ruin gewesen. Das Wasser rann regelrecht an ihr herunter und sie hinterließ nasse Fußabdrücke im Treppenhaus. Zu Hause nahm sie sich nicht die Zeit, erst in ihr Zimmer oder ins Bad zu gehen, sondern riss sich die klatschnassen Sachen noch im Flur vom Leib. Es dauerte länger, als ihr lieb war, denn sie verhedderte sich permanent, kam auch mal ins Taumeln und verursachte einen nicht unwesentlichen Lärm. Glücklicherweise schien sich niemand daran zu stören, denn keiner kam, um sich zu beschweren. Endlich hatte sie es geschafft. Das nasse Kleiderbündel mit spitzen Fingern vor sich hertragend, ging sie ins Badezimmer. Sie brauchte jetzt unbedingt eine heiße Dusche und keine Gedanken mehr an Alexander. Schluss damit! Der hatte in den vergangenen Stunden, trotz lauter Musik und reichlich Alkohol, viel zuviel Raum eingenommen. Vielleicht sollte sie ihn doch noch heute anrufen, um alles zu bereden. War er nicht selbst daran schuld, dass sie die Beherrschung verloren hatte? Dieser Bengel!
Eine halbe Stunde später ging es ihr sehr viel besser. Sie war zu ihrer Erleichterung weniger betrunken, als sie befürchtet hatte, fühlte sich wohlig, freute sich auf ihr Bett und war sicher, unverzüglich einschlafen zu können. Da klingelte das WG-Telefon und weil sie gerade davorstand, nahm sie ab.

"Ja?"
"Hier ist Elisabeth Grünberg ... Alexanders Mutter ... ich suche Alex ... Ist er ...?"
"Nein! Alexander ist nicht hier!"

Das ging nun wirklich zu weit. Mit Müttern wollte sie auf gar keinen Fall etwas zu tun haben. Wie alt war Alexander eigentlich, dass die Mutter hinter ihm hertelefonierte. Worauf hatte sie sich nur eingelassen? Alexander, der sich so unmöglich benahm, die Gräfin mit ihren klugen Ratschlägen, und jetzt auch noch eine besorgte Gluckenmutter. Das durfte doch alles nicht wahr sein! Aber die Frage, warum Alexander um diese Uhrzeit nicht zu Hause war, ließ ihr keine Ruhe. Er war doch vor ihr gegangen, wenn sie der Gräfin Glauben schenken durfte. Oder war das ein billiges Ablenkungsmanöver gewesen, derweil sich die beiden köstlich amüsierten, möglicherweise über sie lachten. Das würden die beiden bereuen, zumindest Alexander. Mit der Gräfin würde sie sich natürlich nicht anlegen, nicht wegen eines Mannes und wegen dieses Bengels schon gleich zweimal nicht. Da klingelte das Telefon erneut.

"Ja?"
"Marianna ...! Ich will ... ich will Dir ...!"
"Was willst Du denn? Weißt Du überhaupt, wie spät es ist?"
"Kurz vor neun ... Ich habe etwas mit Dir zu besprechen"
"Ja, ok. Mach's aber kurz, ich bin eben erst nach Hause gekommen und hundemüde … und sei so gut und sag Deiner Mutter, dass sie nicht mehr bei mir anrufen soll, wenn sie auf der Suche nach Dir ist. Wo warst Du überhaupt?"

Alexander antwortete nicht und kurz darauf ertönte das Freizeichen. Na warte, dachte sie empört. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Entnervt und gleichermaßen entschlossen, sich davon nicht unterkriegen zu lassen, setzte sie sich an ihren Arbeitstisch. Doch umsonst. Sie konnte sich nicht konzentrieren und krakelte hemmungslos unproduktiv zahllose Zettel mit Kringeln und Strichen voll und starrte zwischendurch immer wieder seufzend aus dem Fenster.
Lautes Klopfen ließ Marianna hochschrecken. Sie rieb sich die Schläfe, die ein wenig schmerzte von dem Kugelschreiber, auf dem sie gelegen hatte. Sie war tatsächlich eingeschlafen.
"Jetzt weiß ich endlich, warum Du so erfolgreich bist. Du arbeitest sogar im Schlaf!", schäkerte Eva frisch und fröhlich. (Nicht ganz so fröhlich und auch nicht ganz so frisch wie sonst, wie Marianna unbewusst registrierte.)
"Ha! Ha! Ha!" konterte Marianna, stand langsam auf und reckte sich. "Du brichst jetzt bestimmt gleich auf?" fragte sie nach einem Blick auf die Uhr. "Hast Du noch Zeit für einen Abschiedskaffee? Ich fahr Dich auch zum Busbahnhof, wenn Du möchtest. Ist doch bequemer, mit dem ganzen Gepäck! Wenn Du Kaffee machst, zieh ich mich schnell an und dann können wir auch gleich los. Ich parke auch ausnahmsweise direkt vor der Tür."
Eva hatte einen Job in so einer Art MittelmeerClub, worum sie im Augenblick von Marianna glühend beneidet wurde. Eva würde den lieben langen Tag in der Sonne sitzen, Kaffee trinken und dafür sorgen, dass die alten Leutchen sich nicht überanstrengten. Es war so ungerecht! Alle fuhren in Urlaub, nur sie hatte keine Zeit und würde überdies wochenlang alleine in der Wohnung aushalten müssen, denn auch Manfred hatte schon die Koffer gepackt und würde morgen abreisen.

Der nächste Tag war glücklicherweise ein Montag und glücklicherweise sorgten die Anforderungen ihres Berufsalltages schnell dafür, dass sie weder an ihren Neid auf Urlauber bekam, noch an Alexander denken musste. Erst als sie wieder zuhause in der verwaisten Wohnung war, schlichen sich diese Gedanken wieder ein. Wie schön wäre es doch, jetzt zu verreisen. Ein spontaner Kurzurlaub, vielleicht sogar mit Alexander? Sie wusste nicht so genau, was sie von Alexander eigentlich wollte, und wollte es eigentlich auch gar nicht wissen. Lass' die Finger davon, riet eindringlich die Stimme der Vernunft, Du hast keine Zeit für romantische Männergeschichten. Keinesfalls! So weit hat mich dieser Bengel also schon gebracht, dachte sie grimmig. Laut unnützes Zeug vor sich hinmurmelnd verbrachte sie einige Zeit damit, in der Wohnung hin und herzuwandern, in jedes Zimmer zu gehen und aus jedem Fenster zu sehen. Sie gab ihre Wanderung auf, als ein Entschluss in ihr gereift war. Wie es ihrer Art entsprang, sie war nun mal eine Frau der Tat, ging sie zum Telefon, um Vince anzurufen. Er würde vielleicht etwas von Alexander wissen, würde wissen wie es ihm geht, würde wissen, ob ..., was auch immer, schließlich waren die beiden miteinander befreundet. Vielleicht ergab sich dadurch ja irgendetwas, obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, was. Vielleicht ergab sich ja wenigstens eine Verabredung mit Vince! Sie hatte schließlich noch etwas gut bei ihm.
Gerade als sie zum Hörer greifen wollte, klingelte es. Sie hob ab und, oh Wunder, Vince war am anderen Ende der Leitung. Wenn das kein Zufall war! Nachdem er eine Weile angestrengt Konversation betrieben hatte, rückte er damit heraus, was ihm auf dem Herzen lag. Es ging ihm ausnahmsweise nicht um den Einstieg ins große Musikgeschäft, sondern er erkundigte sich, ganz unauffällig selbstverständlich, nach Eva. Marianna hatte Mühe, ein Lachen zu unterdrücken. So war das also!
"Eva ist seit gestern verreist," befriedigte Marianna seinen Wissensdurst und schmunzelte. "Ich weiß nicht, wann genau sie wiederkommt. Sie hat einen Job als SeniorenBetreuerin in einem Club irgendwo im Süden. Eine Adresse habe ich nicht, aber sie wollte sich melden. Sie schickt Dir bestimmt eine Postkarte. Eva schreibt gerne Postkarten. Du wirst schon sehen. Und was macht die Band, hat schon ein Produzent angerufen?" fragte Marianna und fühlte sich ein wenig wie ein übereifrig schnatternder Teenie. "Macht ihr eigentlich Sommerpause? Fährst Du eigentlich auch weg? Was machen die anderen? Was macht ... Alex?"
Aha, dachte Vince und schmunzelte. "Soweit ich weiß, ist Alex ebenfalls gestern abgereist. Ich muss gestehen, ich wusste nichts von seinen Reiseplänen. Seine Mutter sagte, zu einem Kommilitonen aufs Land. Ich dachte ..." aber er sagte dann doch nicht, was er dachte, denn er wusste ja von nichts. Versprochen ist versprochen!
"Was dachtest Du?" fragte Marianna etwas ungehalten, denn sie fühlte sich ertappt, als ihr das unterdrückte Lachen in seiner Stimme gewahr wurde.
"Och, nichts weiter. Nur so. Aber Du wolltest doch wissen, was die Band im Sommer macht, also Peter und Andreas ..." Vince erzählte lang und breit, bevor er ihr vorschlug, doch einmal zusammen ins Kino zu gehen. "... Ich ruf Dich die Tage an, jetzt wo wir beide so ganz verlassen sind ... Ich muss jetzt aber auflegen. Es klingelt an der Tür. Ich melde mich wieder."

Alexander war also verreist. Aufs Land! Wie schön! Diese Auskunft war es wert, würdig begossen zu werden. Sie mixte sich in der Küche einen kräftigen Vitamindrink. Doch es brachte ihr keine Erleichterung. Sie war überdreht durch den Schlafmangel und weder der Fernseher noch altbewährte Gruselheftchen verhalfen ihr zur nötigen Ruhe. Sie packte also ihre Tasche und machte sich auf den Weg ins Fitness-Studio. Sie war schon lange nicht mehr dort gewesen, und das, wo sie unnötige Geldausgaben schon immer verabscheut hatte.

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