Kapitel 59

Sie landeten in einem Käfig von enormen Ausmaßen. Die Wände bestanden aus Gittern, der Fußboden bestand aus undurchsichtigem Material, das beim Gehen leicht federte. Ein schmaler Flur wurde flankiert von vergitterten Räumen, jedoch gab es keine Türen. Diffuses Licht kam von irgendwo her, eine Lichtquelle ließ sich nicht erkennen. Außer den Geräuschen, die Marianna und Irín machten, war es still. Niemand war zu sehen und es war gespenstisch ruhig.
"Los", flüsterte Irín und zog an Mariannas Hand. "Geh voraus. Suche den Ausgang! Du hast mehr Übung darin, zu Fuß zu gehen!"
Marianna war versucht, sich an die Stirn zu tippen, ließ es aber doch, als sie die absolute Ernsthaftigkeit dieser Forderung erkannte. Sie machte ein paar ziellose Schritte in eine Richtung, dann in die andere und blieb ratlos stehen.
"Los geh schon!" befahl Irín ungewöhnlich laut. "Suche den Ausgang. Du musst ihn finden. Ich habe diesen Ort ausgesucht, weil ich hier sicher sein konnte, bei unserer Ankunft keinem zu begegnen. Es ist ein unbenutztes Relikt aus der Vergangenheit. Ich habe keine Gebrauchsanweisung für diesen Ort und der Navigator kann ihn nicht lokalisieren. Du musst den Weg suchen." Sie packte Marianna unsanft am Arm und schüttelte sie heftig. "Wir bleiben hier für den Rest des Lebens, wenn du den Ausgang nicht findest!"
Marianna fügte sich und folgte dem Gang um mehrere Ecken bis zu seinem Ende. Dort gab es ein Fenster, undurchsichtig vor Schmutz und Teil einer Tür. Sie rieb mit dem Ärmel ein kleines Guckloch frei. Auf der anderen Seite war eindeutig draußen und sie waren eindeutig höher als der Boden. Langsam drückte sie den Griff. Erst zog sie, dann drückte sie. Die Tür ging nach außen auf. Vorsichtig öffnete sie einen Spalt und spähte hinaus und zog dann die Tür schnell wieder ins Schloss und trat einen Schritt zurück.
„Wenn die Treppe nicht runtergefallen wäre, könnten wir jetzt rausgehen, aber das wäre wohl zu einfach gewesen,“ sagte sie zu Irín, „wir müssen weiter runter, ist zu hoch zum Springen.“
„Gut“, antwortete Irín, „geh voran und mach schnell!“
Die Anlage war rechteckig, die Wände bestanden aus Gittern, verschiedenfarbig bemalt. Marinna ging zurück bis zu einer Kreuzung. Dort schloss sie die Augen und versuchte den richtigen Weg zu erfühlen, dann schüttelte sie den Kopf und ging nach links. Das kann gar nicht gutgehen, dachte sie und bog rechts ab. Vielleicht doch, dachte sie, als sie nach der 4. Abbiegung eine Treppe nach unten fanden. Sie stiegen hinab. Marianna schloss wieder die Augen, stellte sich einen Ausgang vor und wie sie ihn fand nach der nächsten Treppe. Diese Methode schien grad so gut zu sein, wie jede andere. Bald schon fand sich eine weitere Treppe und ihrem Gefühl nach müssten sie nun auf der Höhe sein, wo die Außentreppe noch funktionstüchtig sein könnte. Schließlich gelangten in einen Gang, von dem aus sie durch mehrere Gitter hindurch eine Tür sehen konnten. Und tatsächlich, einmal um die trennenden Gitter herumgegangen standen sie vor der Tür, die sich ebenso wie die obere nach außen öffnen lies. Vorsichtig kletterten sie die marode Treppe hinab, Irín ging als erste, dann kam Marianna hinterher.

Irín übernahm die Führung, außerhalb des Käfiggebäudes funktionierte der Navigator und ihre sonstigen Hilfsmittel wieder. Aus Sicherheitsgründen gingen sie wieder zu Fuß, doch es war nicht weit bis zur Versammlungshalle des Kelinats. Sie waren niemand begegnet auf dem Weg dorthin und auch in der Halle waren sie allein. Nur ein Bodenfahrzeug hatten sie gesehen, das sich jedoch von ihnen entfernte. Marianna war über diesen Umstand sehr erfreut und konnte Iríns Sorgen nicht teilen.
„Es müssten viel mehr Leute hier sein!“ erklärte Irín. „Hier im Bezirk CalapIrín halten sich normalerweise über tausend Domorai auf, männliche Domorai. CalapIrín ist die einzige Domäne, wo nur männliche Mitglieder der Gesellschaft zugelassen sind. Die müssen doch irgendwo sein. In die Schlacht gezogen können sie nicht sein. Die Regierung und die Mitglieder des Kelinats nehmen nicht an Kriegen teil; wenigstens nicht normalerweise. Wo sind sie bloß?"
"Ach, sei doch froh, dass uns keiner belästigt", wollte sie Marianna beruhigen. "Die werden alle in ihren Regierungsbüros sitzen und fleißig regieren ... Sei froh, dass keiner unterwegs war ... Stell dir doch mal vor ... die hätten uns doch verhaftet ... oder etwa nicht?"
"Du verstehst nicht. Die meisten Gebäude, an denen wir vorbeikamen, sind versiegelt. Das heißt, sie sind unbenutzt, unbewohnt, leer und das schon eine ganze zeitlang. Das kann gar nicht sein."
"Das wird schon seine Gründe haben. Ich bin jedenfalls froh darüber."
"Es ist sehr beunruhigend, dass so viele Gebäude leerstehen, das kann nicht sein", beendete Irín dieses Thema. "Doch still jetzt. Wir warten hier, bis sie kommen. Dann sehen wir weiter."

Nach Iríns Informationen würden sich der Kelinat demnächst versammeln. Irín würde sich unter sie mischen, und einem der Kelin-Meister vortragen, was geschehen war. Er würde eine Untersuchungs-Kommission einberufen, denn ein Kelifer durfte erst dann eingeleitet werden, wenn keinerlei Zweifel an der Schuld des Verurteilten bestand. Irín holte aus dem Rucksack zwei rote Roben und Gesichtsmasken, einmal für sich und einmal für Marianna, und befestigte an ihrer Robe ein silbernes Abzeichen. "Das ist die Amtstracht eines Kelin-Meisters", erläuterte sie ungefragt.
Irín erschrak zutiefst, als drei Kelin, zwei Lehrlinge und ein Meister, im Versammlungsraum auftauchten. Sie kamen zum falschen Zeitpunkt und aus der falschen Richtung. Da war sie sich ganz sicher. Sie kannte den Ablauf ganz genau. Warum waren es nur drei? Was ging hier vor? Der Meister, von den beiden mehr getragen, als dass er selber ging, schien uralt zu sein und hätte längst nicht mehr amtieren dürfen.
Sie aktivierte ein Fendaca in der Nische und verschaffte sich Zugang zum Kelin-Archiv. „Nein!“ rief sie und fuhr mit gesenkter Stimme fort. „Das kann nicht wahr sein, das darf nicht sein, das ist ungesetzlich!“ Marianna nickte und wartete auf eine Erklärung. „Das Militär hat ein beschleunigtes Prozessverfahren durchgesetzt und der Kelinat hat diesem Ansinnen zugestimmt. Wir sind zu spät gekommen. Der Kelifer ist schon eingeleitet. Das hätte niemals passieren dürfen, niemals hätte der Kelinat zustimmen dürfen. Das ist ungesetzlich.“ Sie atmete einmal geräuschvoll aus und trat aus der Nische heraus und ging direkt zum Kelin-Meister und seinen Lehrlingen.
Von der Nische aus konnte Marianna sehen, ohne gesehen zu werden. Trotzdem machte sie sich klein und bewegte sich nicht. Vor Aufregung biss sie sich auf die Lippen, hielt die Luft an und sah zu, wie Irín und der Meister kommunizierten. Irín gestikulierte lebhaft, der alte Meister nickte verstehend, mehrmals hintereinander und dann brach er zusammen.
Irín hatte vorgetragen, was sie über den Kriegseinsatz herausgefunden hatte. Erst hatte er ihr nicht geglaubt, natürlich nicht, aber andererseits war er froh, dass es einen Grund gab, den Massen-Kelifer zu stoppen. Ihm war die Art, wie das Militär die Beschleunigung des Verfahrens angeordnet hatte, nicht recht gewesen. Aufgrund seiner langjährigen Erfahrung schien es ihm unmöglich, dass so viele Domorai an einem kriegerischen Hochverrat beteiligt gewesen sein sollten. Noch niemals zuvor in der Geschichte hatten Militär und Regierung sich über die Kelifer-Regeln hinweggesetzt. Er bedauerte sehr, dass er sich nicht hatte durchsetzen können, doch außer ihm gab es nur noch Meister Nolk, einen Kelifer-Rat, bestehend aus mehreren Meistern, gab es schon lange nicht mehr. Und Meister Nolk hatte sich den Argumenten der anderen gebeugt, er war der eine, der zugestimmt hatte.
Die beiden Lehrlinge knieten neben dem alten Meister, hielten seine Hand und warteten auf Anweisungen. Irín musste handeln. Nichts war nach Plan verlaufen. Sie war zu spät gekommen. Doch sie würde nicht aufgeben, noch nicht, noch war Hoffnung, noch war ein wenig Zeit. Sie nahm die Brosche des Meisters, ihre war schließlich nur ein Imitat. Dann rief sie eine medizinische Versorgungseinheit herbei, und schickte den Meister und seine Lehrlinge in einen Ruheraum. Sie konnte keine Zeugen brauchen, wenn sie den Versuch machte, in die Halle einzudringen, um den Kelifer selbst zu stoppen. Kelin-Wissen war nicht Teil des Systems, zumindest hatte sie nichts darüber gefunden, lediglich den Hinweis, dass es in althergebrachter (was auch immer das bedeuten mochte) Weise weitergegeben. Den einzigen Kelin-Meister, den es jetzt noch gab, war Nolk. Welch grausame Ironie des Schicksals. Er war der derjenige, der damals ihre Tat mit ungebührlicher Härte angeprangert hatte. Nun hatte er für die Prozessbeschleunigung gestimmt. Würde ausgerechnet er ihr glauben?
Die wenigen Sekunden, die Irín gedankenversunken und tatenlos herumstand, riefen Marianna auf den Plan. Sie fühlte, dass Irín Unterstützung brauchte. Sie spähte aus der Nische hervor. Keiner war zu sehen. In die schützende Robe gehüllt, huschte sie schnell an Iríns Seite.
"Was ist passiert?" fragte sie leise.
"Ich bin zu spät gekommen," flüsterte Irín tonlos, "viel zu spät. Der Kelifer ist schon eingeleitet. Wir müssen in die Halle, nur von dort aus kann man den Transfer noch aufhalten, wenn überhaupt. Doch ich kann nicht hinein. Es gibt nur einen, der es kann und der würde mir nicht glauben. Doch ich muss ihn rufen, es ist die letzte Chance für die Soldaten.
"Wo ist die Halle? Vielleicht finden wir ja einen Weg. Jemand, der dir nicht glaubt, nützt jetzt gar nichts. Los ..." Marianna schüttelte Irín heftig am Arm, "... lass uns dorthin gehen und sehen. Den anderen kannst du immer noch holen."
Angestachelt durch Mariannas Enthusiasmus schüttelte Irín ihre Verzweiflungsstarre ab und rannte los. "Hier ist es!" Irín deutete auf eine Wand aus groben Steinen, in deren Mitte sich ein Metalltor befand. "Der Eingang zur Halle. Den Öffnungs-Code kennen nur Kelin-Meister." Sie deutete resigniert auf die blinkende Sensorfeld des Fendabonic.
Marianna war hinlänglich verblüfft. Sie kam sich vor, als stünde sie vor einer mittelalterlichen Burg. Wand und Tor standen in krassem Gegensatz zu der filigranen domoranischen Architektur, die auch in CalapIrín überwog; abgesehen von dem Gitterkäfig, der sich in einem fensterlosen, grobschlächtigen Bauwerk befunden hatte. Aber sie hatten ja auch keine ausgiebige Besichtigungstour unternommen, es mochte ja sein, dass hier verschiedene Baustile aufeinanderprallten.
"Und wieso machst du keinen Oripan?" fragte Marianna.
"Weil die Halle abgeschirmt ist," antwortete Irín. "Man kommt nur durch dieses Tor hinein und auch wieder hinaus."
Irín trat vor das Fendabonic seitlich des Tors und tauchte ihre Hand in das Feld, doch sie konnte die System-Tür nicht öffnen.
"Ja los, nochmal," forderte Marianna auf, die unruhig neben ihr stand und sich immer wieder umdrehte. "Oder kannst du das System nicht knacken?" fragte Marianna ungläubig. "Du kannst doch sonst auch alles mit diesem System anstellen."
"Natürlich könnte ich, aber es geht nicht, das System ist hier besonders geschützt, wenn ich es jetzt nicht richtig mache, wird es mich töten. Und es gibt keinen anderen Weg, keine andere Verbindung," erklärte Irín.
"Verdammt!" fluchte Marianna und, einen Versuch war es wert, schlug mit der Faust gegen die Tür. Natürlich passierte nichts, es wäre auch zu schön gewesen. Aber etwas anderes war ihr aufgefallen. Gleich neben dem mächtigen Torrahmen ragten schwarze Griffe aus der Wand, halbkreisförmig angeordnet. Wenn sie nicht alles täuschte, war das eine Art halbes Rad, ein Handrad, das in einer Ritterburg dazu dienen mochte, Zugbrücken oder Falltore zu öffnen. Vielleicht war das ja der Nottoröffner. Ohne Zeit zu verlieren mit langatmigen Erklärungen oder Fragen packte sie zu. Nichts! Das verdammte Ding bewegte sich nicht. Sie beugte sich vor, besah sich alles genau und entdeckte rechts neben der Radachse einen kleinen Bildschirm mit Lautsprecheröffnungen an der Seite und ein paar Knöpfe und darunter eine Art Leiste.
"Komm ", rief sie aufgeregt. "Ich habe hier etwas Merkwürdiges entdeckt. Weißt du was das ist?"
"Nie gesehen, aber ich habe davon gehört. Das muss ein uraltes System sein. Ich habe keine Ahnung wie das funktioniert", antwortete Irín matt.
Die Leiste erinnerte Marianna an die Einschuböffnung ihres alten Videorecorders. Mit dem Zeigefinger drückte sie drauf und aus der Öffnung glitt eine kleine Tastatur, eine ganz normale Tatstatur mit Zeichen drauf, die sie allerdings nicht lesen konnte. Rechts oben war ein runder Knopf, auf den sie ohne zu zögern drückte. Es piepte und auf dem schwarzen Bildschirm begann ein kleiner weißer Strich zu blinken.
"Ich fasse es nicht", rief sie baff. "Das sieht aus wie der Start-Bildschirm eines DOS-Programmes." Reflexartig drückte die größte Taste.
Es piepte nochmals und über den Bildschirm lief eine Reihe von Strichen und Punkten, mit denen Marianna allerdings nichts anfangen konnte. "Los, sag schon, was steht da!" Fast hätte Marianna angefangen zu hüpfen vor lauter Aufregung
"Willkommen im Sicherheitssystem von CalapIrín, Sitz des Obersten Ministerrats der Glorreichen Siebten Republik. Bitte geben Sie das Passwort ein."
"Und", drängelte Marianna aufgeregt, "kennst du dich damit aus? Kannst du das knacken? Es kann nicht so schwer sein, da wo ich herkomme knacken andauernd irgendwelche Leute die Passwörter anderer Leute."
"Ja", antwortete Irín nach ungefähr zehn Sekunden. "Ich glaube, ich kann es." Sie legte ihre Fingerkuppen auf den Bildschirm, doch nichts geschah.
"Du musst auf die Tasten drücken, du musst irgendwas eingeben, überleg doch, was könnten die für ein Passwort haben, irgendwas; die Leute denken sich immer irgendwas Dummes oder Geschichtsträchtiges aus und glauben dann, dass niemals jemand es herausfinden wird. Also, denk nach, du weißt so viel von der Geschichte deines Volkes, es ist bestimmt was Geschichtsträchtiges, denn dumm seid ihr ja nicht, also, los, mach schon!" Marianna war total aufgeregt und hatte während des Sprechens angefangen, Irín an der Schulter zu schütteln.
"Ja!" schrie Irín und Marianna hielt sich beide Hände an die Ohren. Was war denn jetzt los? Es hörte sich an wie eine winselnde Sirene. Das konnte doch nicht Irín gewesen sein? Doch! "Dantacan! ... Das ist was Geschichtsträchtiges ... Das war der Name der Widerstandsgruppe, die letztendlich den Ministerrat der GSR, das war die Glorreiche Siebte Republik, stürzte."
"Was ist denn das für ein Quatsch", rief Marianna empört, "wer benutzt denn den Namen seines Feindes als Passwort."
"Na die, die ganz besonders schlau sein wollen", antwortete Irín und tippte währenddessen auf die Tasten. "Und jetzt? Ich habe gemacht, was du sagtest."
Marianna beugte sich ein wenig vor und drückte nochmals auf die größte Taste.
"Sie", fuhr Irín fort, "haben es unter Zeugen allgemein bekannt gegeben, um allen zu zeigen, dass sie den Widerstand nicht fürchten." Sie ließ den Bildschirm, über den die unterschiedlichsten Zeichen flitzten, nicht aus den Augen und gab dreimal etwas über die Tastatur ein. "Sie haben sogar regelmäßig kontrollieren lassen, dass sie es nicht geändert haben ... Jetzt kann man das Handrad drehen."
"Na," seufzte Marianna, "dann werde ich das wohl mal tun." Sie war zwar nicht besonders stark, aber allemal mehr als die zarte Irín. Sie rüttelte an dem Rad, keuchte und stöhnte vor Anstrengung. Schließlich hängte sie sich mit ihrem ganzen Gewicht daran, wozu sie in die Hocke ging und sich an einem der oberen Griffe festklammerte. Und tatsächlich! Das Rad machte einen Ruck und Marianna saß auf dem Boden. Sie glaubte zu sehen, dass das Tor vielleicht einen Millimeter nach oben gerückt war, aber ganz sicher war sie nicht. Ganz sicher war, dass das Rad in die andere Richtung ruckte, als sie es kurz losließ.
"Fass mit an," fordert sie Irín auf. "Halte den Griff fest, damit ich aufstehen kann."
Irín hielt das Rad fest, Marianna stand schnell auf und hing sich noch einmal ans Rad. Danach ging alles ganz leicht, zumindest kam es Marianna so vor. Irín jedoch stand der Schweiß auf der Stirn, als das Tor so weit oben war, dass sie hindurchschlüpfen konnten. Marianna sah sich nach einer Verriegelung oder so was in der Art um, um das Rad zu fixieren, aber sie fand nichts. Nun, das ließ sich nicht ändern, dachte sie, wird schon halten. Und dann ging sie Irín hinterher.

Marianna schluckte, als sie die Halle betrat. Nicht dass sie geahnt hätte, was sie erwartete, aber damit hatte sie wirklich nicht gerechnet. Sie befand sich in einem Raum, der eigentlich eher schmal war, so breit nur wie die Wand, durch deren Tor sie hereingekommen waren. Aber Höhe und Länge dieses Raumes waren überwältigend. Ihre Augen flimmerten und verweigerten ihren Dienst, als Marianna ihnen auftrug, diese Unmöglichkeit nachzuvollziehen. Das Ende des Raumes schien sich spiralförmig zu winden. Die Seitenwände kippten auf ihrem Weg in schwindelerregende Höhen nach außen weg. Über all dem spannte sich eine kuppelförmige, irgendwie durchsichtige Decke, deren Trägerrippen als haarfeine Linien zu sehen waren. Vielleicht war es aber auch nur ein Spinnennetz, ganz nah. Mariannas Augen ließen ab von dieser tollkühnen Konstruktion und wandten sich mit einer gewissen Erleichterung der groben Steinwand und dem dazugehörigen Tor zu. Ein Handrad gab es diesseits nicht. Wenn das Tor abrutschen würde, säßen sie fest. Marianna erinnerte sich an Iríns Behauptung, dass sich das Tor nach Abschluss des Vorganges automatisch öffnen würde. Sie hatte natürlich keine Ahnung, wie lange so ein Kelifer dauerte, und vor allem wusste sie immer noch nicht, was es damit auf sich hatte. Sie spürte ein panisches Kribbeln über ihr Rückgrat huschen. War nicht eben das Tor ein winziges Stück nach unten gerückt? Alles, nur nicht hier eingesperrt sein! Irín war verschwunden. Wo war sie hingegangen? Allmählich, so dachte sie grimmig, dürfte sie mir schon erzählen, was hier eigentlich stattfinden soll. Marianna drehte sich von der realen Wand weg und sah mit einem gewissen Widerwillen in die andere Richtung. Diesen Augenblick hatte sich Irín ausgesucht, um, wie aus dem Nichts auftauchend, aus dem merkwürdig gekrümmten Hallenende zurückzukommen. Sie rannte mit ausgebreiteten Armen und deutete auf das, was links und rechts von ihr zu sehen war. Da erst erlaubte sich Mariannas Gehirn zu begreifen, was für eine Ungeheuerlichkeit diese Halle wirklich barg. Glänzende Liegen aus poliertem Metall, eine neben der anderen, so weit das Auge reichte und möglicherweise noch viel weiter. Auf jeder dieser hart und kalt aussehenden Liegen lag ein Domorai. Sie waren nackt, und die Zerbrechlichkeit ihrer Körper wurde unter dem grellen Licht der riesigen Halle über Gebühr betont. Silberne Halbkugeln mit dicken Kabeln in der Mitte, bedeckten ihre Köpfe. Das Rohr, das aussah wie ein überdimensionaler Duschschlauch, umschlang irgendwo weiter oben die immer dünner werdende Spitze einer Me-tallpyramide, deren Grundfläche sich am Kopfende einer jeden Liege befand. Zumindest dachte Marianna dies zuerst. Doch ein Blick auf den Boden belehrte sie eines Besseren. Mit einem erschrockenen Ausatmen trat sie taumelnd zurück und lehnte sich an die groben Steine der Rückwand, die das einzig Handfeste innerhalb dieses Ungetüms von Halle zu sein schien. Oder doch nicht? Die Steine vibrierten, kaum merklich zwar, aber eindeutig, als seien sie lebendig. Sie waren auch viel zu warm. Abrupt stieß sie sich von der Wand ab und ihr Blick fiel auf den durchsichtigen Fußboden. Die Pyramiden an den Kopfenden der Liegen gingen weiter nach unten, verbreiterten sich und bildeten schließlich irgendwo weit unten eine geschlossene Fläche. Der Boden, auf dem sie stand, schien diese Pyramiden festzuhalten. Jede Pyramide enthielt auf Kopfhöhe einen Monitor, über den in regelmäßigen Abständen Kurven und bunte Lichtpunkte flimmerten. Abgesehen von den Geräuschen, die sie selbst verursachte, war es hier drinnen absolut still. Still wie in einem Grab. Ob sie alle tot waren? Mit angehaltener Luft wagte sich Marianna näher. Sie sah das langsame Heben und Senken eines Brustkorbes. Sie lebten. Doch was geschah mit ihnen? Was tat man ihnen an?
Da erschien plötzlich Irín direkt neben ihr. Hatte sie sie einfach nicht kommen sehen oder hatte es mit der merkwürdigen Raumkrümmung zu tun? Marianna wollte nicht fragen, denn es gab jetzt sicherlich dringendere Dinge zu besprechen, als sich über die eigenartige Architektur dieser Halle zu unterhalten.
Atemlos teilte Irín ihr mit, dass nicht mehr viel Zeit bliebe, die Sache zu stoppen. Marianna, die immer noch nicht wusste, was es mit dem Kelifer auf sich hatte, bezähmte ihre Neugier. Später würde genug Zeit für Erklärungen sein. Vielleicht war es sowieso besser, nichts von alledem zu verstehen, dachte sie beunruhigt, als in ihr eine Ahnung keimte, was es möglicherweise damit auf sich haben könnte. Die Ausstattung der Halle erinnerte sie an Alfacat. Dort gab es ebensolche Liegen und ebensolche Pyramiden, dort wurden Erinnerungen zugriffsicher verpackt. Wenn dies eine Strafe war konnte es eigentlich nur bedeuten, dass man etwas mit den Erinnerungen machte, vielleicht sogar noch mehr. Ein unglaubliches Unterfangen! Und da behaupteten die Domorai, ein zivilisiertes Volk zu sein! Aber vielleicht war es ja auch ganz anders. Marianna kam nicht mehr dazu, weiter über diese Ungeheuerlichkeit nachzugrübeln, denn Irín rüttelte sie heftig am Arm.
"Lass dich nicht von deinen Gedanken ablenken. Das passiert, wenn man nicht aufpasst. Soweit ich weiß, ist dies eine Art Sicherung. Deswegen dürfen nur ausgebildete Kelin den Ort betreten. Ich werde jetzt versuchen ... Alles in Ordnung mit dir?" fragte Irín und Marianna nickte ein wenig abwesend. "... versuchen, den Prozess zu unterbrechen."
"Wieso rennst du dann in der Halle herum wie ein aufgescheuchtes Huhn?" fragte Marianna.
"Es war notwendig!" erwiderte Irín.
"Hast du ihn gefunden?" fragte Marianna, die so eine Vermutung hatte.
"Ja!" erwiderte Irín (wäre Irín ein Mensch gewesen, wäre sie jetzt sicher rot geworden) und wandte sie sich der Fendabonic-Einheit vor ihr zu.
"Wo ist die Wand?" fragte Marianna entgeistert. "Wo ist das Tor?" Eine Reihe pyramidenförmiger Kästen, halbrund im Eingangsbereich angeordnet, ragte in die Höhe. Zwischen den einzelnen Pyramidenkästen war so viel Platz, dass man bequem durchgehen konnte. Die Wand hätte auf alle Fälle zu sehen sein müssen. Doch da war nichts. Absolut nichts. Nur diese Kästen. "Wir sind eingesperrt! Wir kommen hier nie wieder raus!" Mariannas Stimme überschlug sich. "Ich will hier raus!"
"Ganz ruhig! Es ist alles in Ordnung. Denke nicht daran ... schalte alle Gedanken aus... wundere dich nicht. Das ist eines der Geheimnisse dieses Ortes", beruhigte Irín. "Ich werde jetzt versuchen, das System der Halle zu kontaktieren ... Wenn ich nur mehr davon verstehen würde ... Immerhin habe ich die Brosche des Meisters." Sie steckte sie in den dafür vorgesehen Schlitz. Die Sensorplatte wurde aktiv und Irín legte ihre Hand auf das Feld. "Ja! Ich habe die Zugangsberechtigung erworben!"
Marianna blieb gespannt daneben stehen und zählte halblaut vor sich hin, um nicht wieder in Gedanken abzugleiten; sie könnte ja gebraucht werden. Irín flüsterte Unverständliches vor sich hin und schüttelte immer wieder den Kopf. Es war offensichtlich, dass sie keinen Erfolg hatte. Marianna, die nicht länger untätig dabeistehen konnte, schob sich zwischen zwei Pyramiden hindurch. Es kribbelte ein wenig, dann war sie auf der anderen Seite. Die Wand aus rohen Steinen war wieder da. Im Gegenzug war alles andere verschwunden. So hatte es hier nicht ausgesehen, als sie hereingekommen war. Ganz bestimmt nicht!
Sie stand vor einem riesigen Zaun. Er bestand aus glattpolierten, langgezogenen Dreiecken aus kaltem, vibrierendem Metall und dazwischen das kribbelnde Nichts.
Aus einem unbestimmten Gefühl heraus hatte sie die Hand auf das Metall gelegt, bevor sie ganz aus dem Durchgang herausgetreten war. Sie würde nicht loslassen, ganz bestimmt nicht, denn sie war sich fast sicher, Irín nicht vorzufinden, ginge sie zwischen zwei anderen Pyramiden zurück. Eine unbestimmte Neugier trieb sie an, die Probe zu machen. Ganz langsam umrundete sie die Pyramide, trat durch dieses ominöse Kribbeln und sah zurück. Irín war weg; alles andere auch. Es war dunkel, aber hell genug um zu erkennen, dass dort tatsächlich nichts war, keine Liegen, keine Monitore, keine Domorai. Nichts außer metallisch glänzenden Dreiecken, die sich in der Unendlichkeit verloren. Schritt für Schritt ging sie rückwärts, gelangte auf die andere Seite und war heilfroh, dass dort alles so war, wie sie es in Erinnerung hatte. Irin war immer noch beschäftigt und brauchte sie nicht. Langsam und konzentriert bog sie wieder um die Ecke, vor ihr die Wand mit dem Tor, im Rücken die Rei8he der Pyramiden. Wieviele es wohl waren? Sie zählte konzentriert die Dreiecke, während sie an ihnen entlangtastete und achtete nicht auf den Boden. Sie stieß einen spitzen Schrei aus, als sie stolperte und ihr ein scharfer Schmerz durch den Knöchel schoss. Das Echo ihres Schreies verebbte allmählich, während sie sich den Knöchel rieb. Sie war über ein armdickes, silberglänzendes Kabel gestolpert. Es kam scheinbar aus dem Nichts und mündete in die Metallfläche am Boden der fünften Pyramide. Sie sah genauer hin und entdeckte, dass es unter dem durchsichtigen Fußboden weiter in die Tiefe führte. Sie berührte es vorsichtig und fühlte ein leichtes Vibrieren.
Alle Vorsicht außer Acht lassend hinkte sie, so schnell wie es der schmerzende Knöchel zuließ, trat durch das Kribbeln und stand wieder neben Irín.
"Ich ... ich habe das Stromkabel gefunden!" Mehr verzweifelte Hoffnung als Wissen, platzte sie mit ihrer Entdeckung heraus. "Oder so was in der Art, könnte ja sein, dass, wenn wir es rausziehen, dann können wir die Sache beenden." Irín sah sie entgeistert an. "Ja! Was denn sonst!" erklärte Marianna betont langsam, "einfach den Stecker raus und Schluss ist."
Irín zog ihr Fendaca zu Rate und nickte schließlich. "Es ist tatsächlich eine Haupt-Energie-Versorgungsleitung, zumindest wenn der Lageplan stimmt. Theoretisch könnte es klappen. Ich weiß nur nicht, ob wir damit nicht großen Schaden anrichten, schließlich läuft die Vorbereitung auf Hochtouren. Aber du hast recht. Es ist unsere einzige Chance. Wir müssen es versuchen. Ich habe es bisher nicht geschafft, einen Unterbrecher einzuschleusen. Wir müssen es versuchen. Wenn das nicht klappt, muss ich Nolk holen. Ich hoffe nur, dass wir keine irreparablen Schäden verursachen. Weder bei den Soldaten noch an der Anlage. Aber wir müssen es riskieren. Jetzt sind wir schon so weit gegangen, wir müssen es tun. Der Stecker muss raus." Irín zögerte; eine falsche Entscheidung zu treffen würde schwerwiegende Konsequenzen haben.
Marianna humpelte so schnell es ging zum Kabel zurück und nahm die Stelle, wo es in die Pyramide eintrat, unter die Lupe. Sie konnte nichts Auffälliges entdecken, weder Schrauben noch sonst etwas. Es musste einfach klappen. Sie wackelte am Kabel, doch das Einzige, was sich bewegte, waren ihre schweißnassen Hände. Sie wischte sie ab, hockte sich neben das Kabel, stützte sich mit einem Bein ab und zog nochmal mit aller Kraft. Nochmal und nochmal. Sie kreischte fast, als sie einen winzigen Ruck fühlte. Nochmal zog sie und nochmal. Millimeterweise ruckte das dicke Kabel aus der Fassung. Marianna fluchte und stöhnte und ächzte und schwor sich, ihr Krafttraining unverzüglich wieder aufzunehmen, sobald sie zu Hause sein würde. Zu Hause! Marianna sinnierte darüber und spürte nicht, wie sie ihren Griff lockerte. Zuhause! Sie war schon so lange fort. Eine Flut von Bildern taumelte an ihr vorbei. Sie sah alle an und lächelte verträumt vor sich hin. Ein fester Griff an ihrer Schulter riss sie aus der Lethargie. Sie umklammerte das Kabel nochmals. Nach einem letzten Kraftakt flog es heraus und Marianna landete auf dem Rücken. Im selben Augenblick begann ein schrilles Jaulen, das ohrenbetäubend und wie irrsinnig durch die Luft tobte. Es wurde dunkel.

"Nichts wie raus!" Irín schrie in Mariannas Ohr. "Es ist vollbracht. Los! Steh auf! Schnell! Wir müssen verschwinden, bevor das Militär kommt. Der Alarm wurde ausgelöst. "
Hand in Hand rannten sie die wenigen Schritte zum Tor. Sie hatten sich schon gebückt, um hindurchzuschlüpfen, als es mit einem Ruck nach oben schnappte. Beide blieben wie angewurzelt in dieser Haltung stehen. Vor ihnen stand ein Heer medizinischer Versorgungseinheiten. Irín, die sich schnell fasste, zog Marianna zur Seite, drängelte sich an den Einheiten vorbei, rannte zur Wandnische und schnappte sich den Rucksack.
"Ich bringe dich jetzt zurück, du kannst hier nichts mehr tun. Und ich auch nicht. Aber ich werde herausfinden, was hier nicht stimmt. Aber zuerst bringe ich dich zurück, denn was auch immer hier los ist, du kannst nicht länger hierbleiben."
Marianna fühlte sich am Arm gepackt und sie rannten, alle Vorsicht außer Acht lassend, zum Gitterkäfig zurück. Marianna stolperte mehrmals, knickte um, doch sie wurde nicht langsamer. Hand in Hand sprangen sie in den aktivierten den Oripan und gelangten gradewegs zur Lichtung mit den singenden Paradiesvögeln. Erleichtert ließ sich Marianna auf das samtweiche Gras plumpsen, massierte den schmerzenden Knöchel, lauschte dem entzückenden Vogelgesang und schloss die Augen.
Irín strich mit der Handfläche über den Stamm eines der Kugelbäume, die Rinde glitt zur Seite und ein Fendabonic erschien. Irín versenkte ihre Hand im Feld und bereitete Alfact und Transfer vor.

Marianna, abgelenkt durch das Gezwitscher der Vögel, vergaß ihre Erschöpfung, vergaß ihren Schmerz und vergaß, wo sie war und was sie an diesen Ort geführt hatte. Erst als sie hartes, kaltes Metall auf ihrer bloßen Haut spürte, öffnete sie wieder die Augen, doch was sie sah, war nicht dazu geeignet, etwas zu begreifen. So wunderte sie sich nicht, als sich eine silberne Halbkugel auf ihren Kopf herabsenkte. Den Einstich der Spritze merkte sie kaum.
Irín betrachtete den rotfunkelnden Stein. Das hat nun auch ein Ende, dachte sie erleichtert, als sie ihn Marianna in die Hand drückte und ihre Finger darum schloss. Sie sollte ihn mitnehmen. Dann war das Ding aus der Welt und das war gut so. Marianna konnte ihn aufheben, fortwerfen oder damit tun, was ihr beliebte. Es war egal. Kein Domorai würde jemals wieder auf die Suche nach einem dieser Dinger gehen. Dies war sicher die beste Lösung für alle.
"Gute Reise," flüsterte Irín. "Vielleicht sehen wir uns wieder. Du hast mir sehr geholfen, dafür danke ich dir." Irín strich noch ein letztes Mal über Mariannas Hand, bevor sie Alfacat schloss und versiegelte. Von nun an würde alles seinen automatischen Gang gehen. Irín löste die Verankerung und aktivierte den Oripan. Bald schon würde Marianna wieder zuhause sein und sich an nichts von alledem erinnern.
Sie jedoch erinnerte sich mehr als gut an die Geschehnisse dieses Tages und sie würde alles dafür tun, aufzuklären und zu reparieren. Dazu würde sie den Arbeitsraum des Daroc benutzen, denn von dort aus hatte sie alles im Griff.

Marianna fröstelte ein wenig und sie dachte kurz daran, dass eine Decke jetzt etwas Schönes wäre. Eine Decke! Wo war denn nur die Decke? Mit geschlossenen Augen tastete sie suchend umher und erwischte schließlich einen Zipfel. Mit einem Ruck zog sie die Decke heran und über sich drüber und schlief wieder ein.

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