Kapitel 62

Vier tollkühne Frauen in zwei knallbunten Geländewagen kurvten halsbrecherisch durch die Wüste und ließen die Motoren laut aufjaulen. Die Mitglieder der berühmten Folkloreband Chicas Lisinatas erholten sich von den Strapazen ihrer Welt-Tournee. Es war Halbzeit und sich hatten sie diese Pause wahrlich verdient.
Dann entdeckten sie ein paar Palmen ganz in der Nähe anderer Ziele fuhren sie dorthin. Vielleicht war es eine Oase, vielleicht aber auch eine Fata Morgana. Es war weiter, als sie gedacht hatten, lohnte sich aber außerordentlich.
"Das ist doch besser als jeder exklusive Pool, besser als jeder noch so grandiose Strand. Nichts wie hinein!" rief Nizima Mendoza und sprang ins Wasser, „kommt rein, es ist wunderbar!"
Der See war groß und tief genug, dass die vier jungen Frauen ausgelassen darin herumplantschen konnten. Er war von schattenspendenden Palmen umgeben, in deren Schatten man hervorragend sonnengeschützt picknicken und ausruhen konnte.
Riccarda Botticelli wurde das Herumliegen schnell langweilig. Sie stand auf und erkundete die Umgebung. Sie wanderte am Ufer entlang, den Blick zu Boden gerichtet um in diesem unwegsamen Gelände nicht zu stolpern. Als sie den See zu Dreivierteln umrundet hatte, hielt sie inne, blickte um sich und stieß einen lauten Schrei aus, der die anderen aufschreckte.

"Kommt schnell! Da liegt einer!"
"Beruhige dich!"
"Da liegt einer und rührt sich nicht!"
"Der ist ja nackt! Nur zugedeckt mit einer Kutte.“
„Da liegt ein Beutel!“
"Ist er tot?"
"Keine Ahnung! Woher soll ich das wissen? Glaubst Du, ich fasse den an?"
"Was ihn wohl hierher verschlagen hat? Komisch!"
"Er ist nicht tot. Er schläft!"
"Wie? Er schläft nur? So fest, dass er von unserem Geschrei nicht aufwacht?"
"Wahrscheinlich auf einem Trip, total high, der Bursche! So ein langhaariger Hippie."
"Der hat aber wirklich lange Haare. Sieht bestimmt ganz toll aus."
"Oder er liegt im Koma. Vielleicht ist er ein abgestürzter Geheimagent!"
"Quatsch! Geheimagenten gibt es doch gar nicht!"
"Oder ein verwunschener Prinz aus tausendundeiner Nacht?"
"Das würde Dir so gefallen. Ein verzauberter Prinz ... und wenn Du ihn seiner Familie zurückbringst, dann darfst Du ihn heiraten und bekommst das halbe Königreich ... und zehn Kilo Diamanten!"
"Pass bloß auf! Nicht dass er sich in einen Frosch verwandelt, wenn Du ihn küsst."
"Glaubst Du vielleicht, ich küsse SO einen?"
"Jetzt hört mal auf. Die Lage ist ernst! Was sollen wir denn jetzt machen? Was machen wir mit ihm? Liegenlassen oder mitnehmen?
"Wir können ihn doch nicht liegenlassen, wer weiß, wie lange er schon hier rumliegt."
"Wir können doch die Polizei verständigen."
"Und dann vergammelt er im Knast, das ist kein Hiesiger. Er braucht einen Arzt, keine Polizei."
"Was machen wir bloß?"
"Wir nehmen ihn mit ins Hotel. Schaut mal, er scheint recht hübsch zu sein."
"Nur ein bisschen zu dürr."
"Und wenn es nun ein fieser Messerstecher ist ..."
"Wir nehmen ihn mit ins Hotel. Hier kann er jedenfalls nicht bleiben."
"Und dann?"
"Irgendwann wird er schon aufwachen und uns seine Geschichte erzählen."
"Und dann?"
"Dann sehen wir weiter!"

Nachdem die Entscheidung gefällt war, fackelten sie nicht lang. Gemeinsam stellten sie ihn auf die Beine und zogen ihm die Dschellaba über, verfrachteten ihn auf den Rücksitz eines Geländewagens und fuhren ins Hotel zurück. Sie bewohnten sie einen separaten Bungalow mit eigenem Parkplatz, so dass sich keine neugierigen Zuschauer einfanden, als sie den immer noch schlafenden Mann ausluden. Sie legten ihn aufs Sofa, vergewisserten sich, dass er nicht herunterfallen konnte und gingen zum Essen.

Irgendwann erwachte der junge Mann tatsächlich aus seinem Tiefschlaf. Er fühlte sich sehr ausgeruht und stark genug, um Bäume auszureisen, das war aber auch schon alles. Jeder Versuch, sich an irgendetwas zu erinnern, schlug fehl. Er wusste nicht einmal seinen Namen, war aber zumindest in der Lage, sich mit seinen Retterinnen zu verständigen. Die trafen dann auch die notwendigen Entscheidungen. Sie hatten ihn gefunden, ihn mitgenommen, also mussten sie auch weiterhin für ihn sorgen, bis er wieder alleine dazu fähig war.
Da es an Geld und Beziehungen nicht mangelte, bekam er rechtzeitig zur Abreise einen Pass, der auf einen gewissen Milan Boticelli ausgestellt war. Riccarda hatte es sich nicht nehmen lassen, ihm ihren Nachnamen geben, schließlich hatte sie ihn gefunden. So ging er mit ihnen auf Tournee. In der großen Truppe fiel er nicht weiter auf. Unaufgefordert packte er mit an, wann immer es notwendig war. Zuweilen fungierte er als Leibwächter und vertrieb zudringliche Fans, die sich irgendwie Zugang zum Back-Stage-Bereich verschafft hatten.
Die Tour führte sie von Land zu Land, von Großstadt zu Großstadt und es war immer dasselbe. Von den Orten, wo sie gastierten sahen sie wenig, stattdessen hektischer Stress, unverschämte Journalisten und hysterische Fans. Die Stimmung sank bei der Truppe von Mal zu Mal, der Ton wurde gereizter. Milan erwies sich hier als wahrer Wunderknabe: er heiterte jeden auf, der es dringend bedurfte, ganz im Sinne seiner selbstgestellten Aufgabe, so dankbar war er ihnen, dass sie ihn seinerzeit aus der Wüste mitgenommen hatten.

Endlich erreichten sie ihren letzten Auftrittsort. Dieses Wissen beschwingte alle Beteiligten ungemein. Einzig Milan war nicht glücklich über das Ende der Tournee. Was würde dann aus ihm werden?

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