Kapitel 65

Ein greller Pfiff, schreckte die sechs Freunde auf. Sie wirkten ein wenig verstört, was niemand zu wundern braucht, und rieben sich Traumsand aus den Augen. Sechs Augenpaare blinzelten gleichzeitig. Ungläubig und ein wenig verlegen sahen sie sich an. Sie hatten offensichtlich alle geschlafen. Geschlafen? Einfach so? Geträumt? Einfach so? So was? Alle dasselbe? Niemals! Irgendwas musste im Essen gewesen sein, oder in den Getränken, oder in der Luft. Oder es lag am Wetter. Darauf einigten sie sich schließlich wortlos, was an sich schon merkwürdig genug war, aber eben nichts im Vergleich zu dem, was sie gerade hinter sich hatten

"Ich glaube, wir können jetzt alle einen Drink vertragen," schlug Vince mit vor Überzeugungskraft sprühender Stimme vor. Ihm war es mittlerweile recht egal, ob er geträumt hatte oder nicht. Er hatte da in letzter Zeit so seine Erfahrungen gemacht und entschieden, keinesfalls darüber nachzudenken, worüber auch immer.
"Wunderbar!" sagte Marianna und wirkte regelrecht erleichtert über diesen vernünftigen Vorschlag. "Einen Doppelten!" Sie hoffte, diese Menge würde ausreichen. Es gab keine Engel, und schon gar keine Engel mit blauen Federflügeln und weißem Medusenhaar dem Kopf. Es musste eine Hologramm-Projektion gewesen sein, ein Biltec, irgendsowas in der Art.
"Ich brauche Wasser!" flüsterte Alexander. Er ging in die Küche, drehte den Wasserhahn auf und hielt das Gesicht darunter. In seinen Träumen fühlte er es manchmal, dieses Fremde, dieses Wilde, das irgendwo in ihm hauste und von dem er ganz sicher nichts wissen wollte. Der Anblick des Engels hatte dasselbe ausgelöst, denselben Punkt berührt. Instinktiv umklammerten seine Finger den Anhänger seiner Halskette.

"Ich nehme auch einen doppelten", sagte er und hielt Vince ein Wasserglas hin. "Mach das Glas aber nicht voll, ich hab‘ doch mit den harten Sachen keine Übung", scherzte er und nahm einen kleinen Schluck, nicht ohne vorher Marianna zugeblinzelt zu haben. Ja! Marianna! Jetzt! Er sah sie fest an, fand ihre Hand, drückte sie zärtlich und hielt sie fest. Mehr durfte er im Moment nicht erwarten. Vor allem nicht von sich.
Eva lächelte versonnen, als sie sah, was Alexander getan hatten. Sie würde es auch tun, zum Teufel damit. Jetzt gleich! Zum Glück war keiner auf den Gedanken gekommen sie zu fragen, woher sie den Namen dieses blaugefiederten Engels kannte. Sie würde sich hüten, davon anzufangen, denn wie sollte sie erklären, dass sie Umgang hatte mit einer Untoten, die als Engel verkleidet hier aufgetauchte. Na ja, Umgang konnte man es nicht wirklich nennen, aber immerhin, einmal reichte, einmal war schon zuviel, denn selbst das würde keiner glauben. Jetzt! Sie lächelte versonnen, tat einen Schritt und hauchte Vince einen Kuss auf den Mund. "Wir sollten es nochmal versuchen," flüsterte Eva verschmitzt. "Nur damit wir wissen, was wir verpasst haben."


Su und Marco sahen sich an. Was nun? Eva und Vince knutschten ungeniert, Marianna und Alexander hielten Händchen. Als kultivierte Gastgeber wäre es jetzt an ihnen gewesen dafür zu sorgen, dass wieder Konversation in Gang käme, an der sich alle beteiligen konnten. So riet es jedenfalls das Benimmbuch, das ihnen normalerweise gute Dienste leistete. Doch diesmal versagte es. Für die wirklich aufregenden Situationen im Leben bot es keinerlei vernünftige Ratschläge. Die Autoren gingen natürlich davon aus, dass Gäste, eine höfliche Erklärung gebend, aufbrachen, bevor ein Gefühlssturz jedweden Funken Verstandes hinwegspülte. Sie entschieden einvernehmlich, dass ihre Freunde nicht sonderlich begeistert davon sein würden, müssten sie jetzt ihre Aufmerksamkeit einem, sei es noch so interessanten Gesprächsthema, zuwenden. Also gaben sie ihren Gastgeberstatus auf und zogen sich diskret zurück.

"Und was machen wir nun?" fragte Marco, der quer über dem Bett lag und darunter spähte. Er vermisste seine Armbanduhr.
"Na, was wohl?" fragte Su.
"Bist du sicher?" fragte Marco, der immer noch kopfüber aus dem Bett hing.
"Was denn sonst?" antwortete Su.
"Abwarten und Tee trinken!" Marco fischte zwei dampfende Teetassen aus dem Nichts und hielt ihr eine hin. "Und studieren! Was denn sonst? Oder willst du nicht wieder zurück?"
"Oder vielleicht können wir auch hier ...? Die Menschen werden sich nicht so sehr verändert haben, in den letzten paar Jahrhunderten.

Ende


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