Vorspann

Der Orch'id erwachte inmitten eines blauen Funkenhagels. Im Rhythmus fallender Wassertropfen löste er sich aus den Steinen der Krypta, materialisierte allmählich und wurde zu dem, der er einst gewesen war. Sein Bewusstsein zog sich zusammen, und der Funkenhagel hörte auf. Die Sterne, die in der richtigen Konstellation am Firmament standen, hatten ihn geweckt. Wieder einmal bestand die Möglichkeit, An'Farlenga zurückzuholen. Viel zu lange war sie schon in der Verbannung und das Land brauchte sie mehr denn je. Schon zweimal hatte er es zuvor versucht, doch ohne Erfolg. Gelänge es ihm diesmal nicht, würde es zu spät sein. Es blieb nicht mehr allzuviel Zeit. In den Dimensionen, in denen der Orch'id dachte, war es sogar fast schon zu spät. Daran, dass sie möglicherweise nicht mehr am Leben war, brauchte er nicht zu denken. Ihrer beider Schicksal war untrennbar miteinander verknüpft. Solange er lebte, lebte auch seine Herrin.
Seit An'Farlengas Verschwinden regierte der Clan der Vardu'Leén mit eiserner Hand. Sie waren die Verwalter, fühlten und benahmen sich aber, als seien sie legitime Burgherren, obwohl ihnen der Titel niemals offiziell zugesprochen worden war. Sie glaubten schon lange nicht mehr daran, dass jemals wieder ein Burgherr auftauchen würde und die Zeit, in der An'Farlenga die Burgherrin gewesen war, war nichts weiter als uralte Legende.
Die Herrscherallüren des Verwalterclans interessierten den Orch'id indes wenig. Egal, wie sie sich benahmen oder fühlten, selbst wenn sie den Titel bekommen hätten, sie waren und blieben nichts weiter als Verwalter. Und ein Verwalter war nicht in der Lage, die Gefahr abzuwenden, die Burg Arliqc und dem Land drohte.

Der Orch'id entnahm einer geheimen Truhe einen Schlüssel und machte sich auf den langen Weg nach oben. Es war heller Mittag, als er auf den Hof trat, und er musste in der grellen Sonne blinzeln. Er sah niemand und beeilte sich, den alten Turm zu erreichen, bevor ihn jemand bemerkte. Es bestand kein Grund, die hier lebenden Menschen durch seine Anwesenheit zu verwirren oder gar zu ängstigen. Dazu war immer noch Zeit, wenn die Herrin zurückgekehrt war.
Er schloss die kleine Tür auf, die den Zugang zum Turm sicherte, stieg die steilen Stufen hinauf und betrat das Turmgemach. Alles war unverändert, nur die Luft roch reichlich muffig. Er öffnete alle Fenster und sah hinab. Er musste nicht fürchten, dass seine Aktivitäten hier oben von jemandem bemerkt werden würden. Der Turm besaß einen breiten Balkon, der vor neugierigen Blicken schützte. Doch wer sollte hinaufsehen?
Die Gebäude rund um den uralten Turm wurden schon lange nicht mehr bewohnt und verfielen nach und nach. Der Turm selbst war im Verhältnis dazu bemerkenswert gut erhalten, was jedoch niemandem auffiel. Der Orch'id schüttelte bekümmert den Kopf. Einst war die Burg, zumindest in den Wintermonaten, von vielen Menschen bewohnt worden. Jetzt wurde von der weitläufigen Anlage nur noch der hinter der südlichen Ringmauer liegende Teil genutzt. Die mächtigen Schutzwälle waren zerfallen und überwuchert von dichtem Grün. Man brauchte sie nicht mehr. Die wenigen Menschen, denen die Burg Heimat war, waren des Orch'ids kleinste Sorge. Bevölkerungswachstum waren Dinge der Menschen und der Obhut der Rhyn G'Oran überlassen; damit hatte er nichts zu schaffen.

Schlag Mitternacht warf er einige Kräuter in das magische Feuer, das still in einer silbernen Schale brannte. Eine leuchtend blaue Flamme schoss auflodernd empor und machte sich auf die Suche im weit verzweigten Universum. Einem wilden Orkan gleich wirbelte Magie durch das Turmzimmer. Als die Flamme ihr Gegenstück gefunden hatte, erstarb der Sturm und der Orch'id spürte ein längst vergessenes Glücksgefühl. Sie war da! Endlich! Doch im gleichen Augenblick wurde ihm gewahr, dass etwas schief gegangen sein musste, denn vor ihm stand ein junger, merkwürdig gekleideter Mann, der ihn mit großen Augen ansah. Wie hatte dies nur geschehen können?
"Wer bist du?" herrschte der Orch'id den Fremden an.
"Ich ..." brachte dieser lediglich hervor und starrte den Orch'id erschrocken an.
"Wer bist du?" wiederholte der Orch'id seine Frage. "Wo ist An'Farlenga?"
Er packte den Fremden bei den Schultern und schüttelte ihn heftig. Dabei sah er die zu Stein gewordene blaue Flamme, die an einer feinen Silberkette um den Hals des Jungen hing. Die Erkenntnis überkam den Orch'id wie ein Donnerschlag. Dieser Junge war An'Farlengas Sohn.
"Wo ist deine Mutter?" polterte er.
"Meine Mutter? Ich ... Ah ... Ich weiß nicht", stammelte er.
"Wie heißt du?" wollte der Orch'id wissen.
"Ich ... Ich weiß es nicht!" gab der Junge zaghaft zur Antwort.
"Nun gut," sagte der Orch'id, der sich wieder gefasst hatte. "Ich weiß wer du bist, das genügt. Ich werde deinen Namen finden und deine Geschichte. Du bist hier und wirst nun tun, was getan werden muss." Er umschloss die blaue Flamme am Hals des Jungen mit der linken Hand. "Sohn der Verlorenen, der du kamst in der Nacht des Geflügelten Einhorns. du bist An'Alin. du bist der rechtmäßige Herr von Arliqc." Der Orch'id beugte das Knie vor dem An'Alin, der jetzt der neue Burgherr war. Dieser sah ihn ohne ein Zeichen des Verstehens stirnrunzelnd an. Der Orch'id schüttelte missmutig den Kopf. "An'Farlenga ist unerreichbar, doch du bist hier und musst dein Erbe antreten. Das Land braucht dich", beschwor er ihn. "Besinne dich auf deine Herkunft! An'Alin! Nimm, was dir gehört! Nimm, was dir gegeben wird und rette Qylarah!" Als in dem jungen Burgherrn immer noch keine Erkenntnis wach wurde, griff der Orch'id seufzend auf den kleinen Tisch hinter sich und reichte ihm einen Kelch. "Trink! Es wird dir guttun. Der Trank wird dir heilsame Träume schenken! Das Bett ist bereit und dein Weg war weit. Schlafe und träume und sorge dich nicht. Wenn die Sonne wieder untergeht, wirst du der sein, der du sein musst."

Folgsam trank An'Alin und legte sich aufs Bett. Der Orch'id deckte ihn fürsorglich zu und noch bevor er die Bettvorhänge geschlossen hatte, war der Junge eingeschlafen.  
Noch einmal entfachte der Orch'id das magische Feuer in der Silberschale. Ausholend griff er mit beiden Händen in die Luft, rief An'Farlengas Arkosun herbei und hüllte den schlafenden Jungen darin ein. Es würde An'Alin umgeben wie eine zweite Haut. Es würde ihn und alle anderen glauben machen, dass seine Urahnen auf der Flucht vor den Rebellen bei einem der wilden Bergstämme in der Nähe der verlassenen Stadt Amagiba Unterschlupf gefunden hätten, und dass An'Alin vom Orch'id dort gefunden worden wäre. Denn niemand, vor allem nicht die mächtigen Rhyn G'Oran, durften erfahren, dass An'Alin nicht unter dem Himmel Leasas geboren worden war.
Der Orch'id war nicht sicher, ob An'Farlengas Sohn die Macht hatte, das Land vor der drohenden Verwüstung zu retten. Doch er hatte keine Wahl. Da von An'Farlenga jede Spur fehlte, musste er es mit dem Jungen versuchen. Doch bevor es so weit war, musste noch etwas anderes erledigt werden. Da der Junge nicht unter Leasas Sternen geboren war, war es ihm verwehrt, den Jungen für immer hierzubehalten. Umständlich, schließlich war es für ihn das erste Mal, handelte der Orch'id mit dem Universum und erreichte, dass der Junge eine gewisse Zeit bleiben konnte. Danach musste er unweigerlich dorthin zurückkehren, woher er gekommen war. Er hoffte, dass die Zeit ausreichend bemessen war.

Als die Abenddämmerung hereinbrach, weckte der Orch'id den jungen An'Alin aus seinem Zauberschlaf. Während An'Alin seinen Tee trank, stellte sich der Orch'id an eines der Fenster und sah eine ganze Weile hinaus, bevor er zu sprechen begann.
"Du, der du weit entfernt unter fremden Sternen geboren wurdest, sieh hinaus, sieh die Wächter und erkenne!" Mit vor der Brust gekreuzten Armen starrte der Orch'id hinüber zu den Bergen, der untergehenden Sonne entgegen. Grüßend hob er die Hand, als die Wächter jenseits der Grenze auftauchten. Automatisch tat An'Alin es ihm nach. Der große Wolf heulte kurz, die Eule schüttelte ihr Gefieder und einen Augenblick später waren die beiden Tiere spurlos verschwunden.
"Die Wächter erkennen dich", erläuterte der Orch'id erleichtet.
"Die Wächter ...," fragte An'Alin erstaunt, doch der Orch'id überhörte die Frage. Geschäftig legte er An'Alin den blauen Umhang um, der die Burgherrenwürde symbolisierte und vervollständigte sein Erscheinungsbild, indem er ihn mit An'Farlengas Schwert gürtete.
"Die große An'Farlenga war eine angesehene Frau, sie war reich und mächtig und in vielen Dingen bewandert. Zur rechten Zeit wirst du ihr Wissen zur Verfügung haben. Trage ihr Schwert, das auf den Namen Balin hört, mit Stolz, Achtung und Sorgfalt, hüte es gut und erweise dich seiner würdig."
Der Orch'id ließ An'Alin keine Zeit zum Fragen oder Nachdenken. Mit einer Handbewegung rief er das Arkosun. Es sah jetzt aus wie eine bunt schillernde Seifenblase. Der Orch'id fing es ein und legte es in An'Alins Handfläche.
"Das Arkosun wird dich beschützen und leiten. Es übertrifft die Macht der Rhyn G'Oran bei weitem. Aber hüte dich vor der Gefahr. Sei umsichtig und behutsam in allem was du tust. Große Macht liegt in deinen Händen und an dir wird es liegen, den endgültigen Untergang Qylarahs zu verhindern."
Andächtig betrachtete An'Alin das Arkosun. Er umschloss es mit beiden Händen, und als er sie wieder öffnete, lag ein Edelstein in seiner Hand, der ihn fröhlich anfunkelte. Fast schien es, als freue er sich, bei An'Alin zu sein. Es war ein flacher, rautenförmiger Stein, rubinrot mit tanzenden Goldsprenkeln unter der Oberfläche. Das Arkosun indessen war verschwunden.
"Was ist damit?" fragte An'Alin. In dieser Frage schwang Bangen mit, ihn wieder hergeben zu müssen.
Von einem Edelstein wusste der Orch'id nichts, auch nicht, was es bedeutete, dass er jetzt da war. So schickte er seinen Geist in die Vergangenheit und in die Zukunft und überall fand er ein bisschen und insgesamt eine Antwort.
"Dieser Stein ist dir anvertraut. Verwahre ihn wohl bis die Zeit gekommen ist, das Geheimnis zu lösen." Der Orch'id schwieg eine Weile, bevor er weiterredete. "Du bist nun Teil dieser Welt und im vermählungsfähigen Alter. Die Rhyn G'Oran werden dich zur Zeremonie rufen, sobald sie die passende Partnerin für dich gefunden haben." Das ist schlecht, dachte der Orch'id kummervoll bei sich. Er dachte an seinen Handel mit dem Universum und hoffte, dass die rhyn g'oranschen Rituale ihn nicht zu fest an Leasa binden würden. Aber es ließ sich nicht ändern. Um nicht aufzufallen, durfte er ihn den Rhyn G'Oran nicht entziehen. Erneut machte er eine Pause, sah An'Alin eindringlich an und verbeugte sich ehrfürchtig vor ihm und erteilte ihm einen letzten Rat. "Fürchte dich nicht. Vertraue dir selbst. Hüte dich vor Trugbildern und Göttern. Sie werden erst mächtig, wenn du an sie glaubst. Und denk immer daran, dass diese Welt nicht groß genug für dich ist und du einen weiten Weg vor dir hast. Doch vergiss niemals, was du tun musst. Die Dämonin sei mit dir. "
"Was muss ich denn tun? Sag es doch endlich! Was denn?" fragte An'Alin.
"Sieh hinaus und erkenne!" war die unergiebige Antwort.
An'Alin trat ans Fenster. Die Sonne war mittlerweile untergegangen und draußen war es stockdunkel. Er konnte nichts sehen, nichts erkennen.
"Es wird Zeit", mahnte der Orch'id zum Aufbruch. "Wir gehen. Die anderen warten schon auf uns und du wirst sicherlich hungrig sein! Alles wird gutgehn!" Mit diesen Worten verließ der Orch'id das Gemach. Unten angekommen schloss er umständlich die Tür ab und überreichte An'Alin feierlich den Schlüssel. "Hüte ihn gut, denn du bist der Erbe, was auch immer geschehen mag! Verlierst du den Schlüssel, kann diese Tür nie wieder geöffnet werden, und Qylarah wird für immer vergessen und verloren sein."

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