Kapitel 63

Wie immer, wenn die Chicas Lisinatas auf der Bühne standen, stand Milan in der ersten Reihe. Normalerweise gab er nichts auf die anderen Menschen, sie kannten ihn nicht, er kannte sie nicht. Doch heute fühlte er sich beobachtet, denn hie und nickte ihm jemand zu, als würde er ihn kennen. Doch weder der Name der Stadt noch ihre Gebäude oder Straßen, hatten eine Erinnerung in ihm wachgerufen. Sein Puls beschleunigte sich, sein Herz klopfte aufgeregt. Unruhig geworden drängte er sich zwischen den vielen Menschen hindurch, die ihm nur widerwillig Platz machten. Er brauchte frische Luft.
Draußen war es kalt, kalt und neblig. Es war Ende November, das wusste er aber das bedeutete ihm nichts, ein Begriff zur Bezeichnung einer Zeitspanne, nichts weiter. November! Ein paar Sterne funkelten trübsinnig vor sich hin. Fröstelnd schlang er die Arme vor der Brust zusammen. Er hätte sich eine Jacke überziehen sollen. Er sollte wieder hineingehen.
Er kam gerade rechtzeitig zur letzten Zugabe. Begeistert fiel er in den donnernden Applaus mit ein. Als das Licht im Saal anging, kam Bewegung in die Menge. Er wurde hin- und hergeschoben bei dem Versuch, zum Bühneneingang vorzudringen.

Fast hätte er sich an ihr vorbeigedrängelt, ohne sie eines Blickes zu würdigen, doch etwas hatte ihn innehalten lassen. Ganz still stand er da und schaute sie an. Schwarzbraunes Haar schimmerte geheimnisvoll violett und lag wie ein Helm um ihr Gesicht. Ausdrucksvolle Augenbrauen wölbten sich über graublauen Augen, die ungläubig starrten. Ihre markante, klassisch geformte Nase und ihr energisches Kinn standen Spalier für einen Mund, dessen schmale, sinnliche Lippen sich zu einem überraschten Lächeln formten. Kaum hörbar flüsterte sie einen Namen: Alexander.
Ganz still stand er da und lauschte dem Klang dieses Wortes, das sacht in ihn hineinglitt, sich den verworrenen Windungen seines Geistes entlangtastete und schließlich den Schlüssel fand. Farbenprächtig und zischend wie ein Feuerwerk drangen unzählige Erinnerungen hervor und dazu ein Name: Marianna
Ein Mann drängte rücksichtslos und heftig winkend durch die Menge. Er rüttelte ihn an den Schultern. Er merkte es kaum, doch er erinnerte sich: Vince!
Eine Frau fiel ihm um den Hals und nahm seine Hände. Er merkte es kaum, doch er erinnerte sich: Eva!

Alexander sah seine Freunde an, einen nach dem anderen, und dann begann er zu lachen. Er lachte bis ihm die Tränen kamen. Er hüpfte wie ein Irrwisch auf der Stelle. Er lachte und hüpfte, während die drei anderen abwechselnd sich und ihn fassungslos anstarrten.
So zufällig, wie Alexander mit den Chicas Lisinatas im Charrango-Club gelandet war, so zufällig waren auch die anderen drei dort gewesen, völlig unabhängig voneinander und ohne voneinander zu wissen.

Vince hatte Rudis Nichte ausgeführt. Sie wollte unbedingt in dieses Konzert, doch Rudi selbst wollte keinesfalls dahin. Er konnte dieses Gedudel nicht ausstehen und so hatte er Vince aufgetragen, das Mädchen zu begleiten und zu beaufsichtigen. Er konnte nicht ablehnen, obwohl er es nur zu gern getan hätte, denn dies war einer der Kneipen, die er oft mit Alexander aufgesucht hatte und die er bisher, so wie viele andere Orte auch, strengstens gemieden hatte. Aber er war Rudi einen Gefallen schuldig, also ging er hin.
Eva hatte von ihrer Chefin zwei Freikarten für dieses Konzert bekommen. Bis zum Schluss war sie sich unschlüssig darüber, ob sie hingehen sollte. Schließlich schenkte sie Manfred die Karten, doch er wollte sie nicht, empfahl ihr aber dringend, sich dieses Ereignis keinesfalls entgehen zu lassen; und die zweite Karte solle sie am Eingang verschenken.
Marianna hatte diesen Samstag bis abends in der Agentur gearbeitet. Auf dem Heimweg kam sie zufällig am Charrango-Club vorbei. Sie war auf der anderen Straßenseite und kam, angelockt durch die Menschenmenge vor dem Eingang, neugierig näher. Noch bevor sie überhaupt wusste, was los war, wurde sie von dem Gedränge zur Tür gestoßen.

Der anfänglichen überschwänglichen Freude folgte eine Zeit der mühsamen Annäherung. Sie trafen zwar sich regelmäßig, aber niemals nur zu zweit und jeder achtete sorgfältig darauf, zu verbergen, was der andere auf keinen Fall erfahren sollten. Mit viel Geschick gelang es ihnen schließlich, einen einigermaßen lockeren Umgang miteinander zu pflegen. Die Herzlichkeit, mit der sie miteinander umgingen, ließ nichts über die diffizilen Bande ahnen, die zwischen ihnen bestanden.

weiter
No Internet Connection