Kapitel 20

"Sie sind nicht aus der Stadt, nicht wahr? Sie sehen so gesund aus!" sagte der Mann, amüsiert und gelangweilt gleichermaßen und sah wie unabsichtlich aus dem Fenster.
Die junge Frau sah ihr Gegenüber fassungslos an. "Was soll das denn?!" rutschte es ihr heraus. Sofort bereute sie ihre unbedachte Reaktion. Sie war nicht in der Position, sich über irgendetwas empören zu können.
"Aber, aber, Kindchen!" erwiderte der Personalchef gestelzt und süffisant grinsend. Er wusste genau, dass jemand vor ihm saß, der dringend Arbeit brauchte. Er hatte da so seine Erfahrungen! Es amüsierte ihn, sie aus der Fassung zu bringen, nur um sich hinterher großmütig geben zu können. "Das war doch ein Kompliment!" fuhr er reichlich anzüglich fort und zwinkerte ihr zu. "Ich mag gesund aussehende Frauen!" Er ahmte dabei den Tonfall eines berühmten Komödianten nach, dessen Film er vorgestern im firmeneigenen Kino gesehen hatte. "Was haben Sie denn bisher so gemacht?" wechselte er das Thema, während er ungeniert seine Blicke über ihren Körper wandern ließ.
Mit unbeweglichem Gesicht starrte die junge Frau auf die Schreibtischkante vor sich. Sein taxierender Blick brachte sie dazu, sich wie auf einem Mädchenhändlermarkt zu fühlen. Raus, nichts wie raus, schrie es in ihr. Doch sie brauchte diese Stelle unbedingt! "Wieviel Berufserfahrung haben Sie? Wie sind ihre Gehaltsvorstellungen? ..." Fragen über Fragen prasselten auf sie nieder. Sie antwortete so gut es ging und unterdrückte eisern die aufkeimende Wut. Es war so ungerecht! Natürlich hatte sie keine Berufserfahrung, das musste er doch aus ihren Unterlagen wissen. Natürlich hatte sie keine Gehaltsvorstellungen, woher denn auch? Wie wenn das nicht schon schlimm genug gewesen wäre, zog sie dieser Kerl auch noch mit Blicken aus und tat so, als sei dies sein gutes Recht.

Alles Mögliche hatte man Eva-Maria Vollmer im Institut Bärenwald, einer internatsähnlichen Aufbewahranstalt für Höhere Töchter, beigebracht; freilich war nie die Rede davon gewesen, wie man es anstellte, selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Während der zwei Jahre, die sie dort zugebracht hatte, war sie auf unzähligen Theaterpremieren und Vernissagen gewesen, hatte einen umfassenden Konversationskurs absolviert, kannte die Benimmregeln auswendig und konnte eine Tafel für ein mehrgängiges Menü fehlerfrei decken. Sie hatte gelernt, egal, was auch immer passierte, einen gleichmütigen Gesichtsausdruck zu bewahren, nicht freundlicher als notwendig zu lächeln und einen koketten Augenaufschlag taktisch klug einzusetzen. Darüber hinaus war sie vertraut mit den Grundzügen des Sekreatriaswesens und konnte einigermaßen tippen, ein Textverarbeitungsprogramm bedienen. Sie war sogar in der Lage, reichlich volks- und betriebswirtschaftliche Begriffe in mehreren Sprachen herunterbeten; mehr war tatsächlich nicht von ihr erwartet worden. Sie hatte damals schon bedauert, dass die zuständigen Lehrer nicht in der Lage gewesen waren, sich verständlich zu machen. Sie waren ausnahmslos beeindruckend unfähig gewesen, was jedoch nicht als Manko betrachtet worden war. Schließlich diente der Aufenthalt im Institut Bärenwald nur dem Zweck, die Zeit zwischen Abitur und Eheschließung nicht allzu unsinnig zu vertrödeln. Die jungen Frauen sollten nach dieser Zeit in der Lage sein, einem mit Bedacht durch die Eltern ausgewählten Ehemann als verständige Zuhörerin zur Seite zu stehen.
Für Eva war alles anders gekommen. Sie war davongelaufen, als ihr Vater eine passende Partie für sie gefunden hatte. Letztendlich hatte eine Freundin sie überredet und sich anfangs um alles gekümmert.

Das Telefon klingelte und der Personalchef hob, ohne ein Wort der Entschuldigung, sofort ab. Während er konzentriert unzählige Zettel vollkritzelte, machten sich Evas Gedanken selbständig: Die strenge Chefin prüfte sicherem Blick die Gestalt des Bewerbers. '... tut mir leid, wir haben im Moment keine Verwendung für Sie, Steno scheinen sie ja gut zu beherrschen, was heutzutage ja ein seltenes Talent ist, aber Männer ohne Erfahrung stellen wir grundsätzlich nicht ein. Versuchen Sie es einfach im nächsten Jahr noch einmal, wenn Sie schon ein wenig Berufserfahrung gesammelt haben!' Bei dieser Vorstellung entwischte ihr ein leises, glucksendes Lachen.
Der Personalchef legte den Hörer auf. „Glück gehabt, soeben ist eine Stelle frei geworden! "Wir werden es mit Ihnen versuchen. Melden Sie sich in zwanzig Minuten in Zimmer 201. Dort bekommen Sie Ihren Vertrag. Auf Wiedersehen!" Er beugte sich über seine Papiere und hatte sie vergessen, noch bevor sie aus dem Zimmer gegangen war.

"... aufgeschlossen, tüchtig, ehrgeizig, fleißig, fesch und sexy", dröhnte es aus einer offenen Tür, "so sind sie, die Frauen von heute. Einfach PRIMA! Außerdem sind die Damen selbstbewusst!"
"Ja, das ist auch wichtig", antwortete eine zweite männliche Stimme, "selbstbewusst müssen sie schon sein, damit sie auch selbst für sich bezahlen können! HAHAHA!"

Oh Frau im Himmel, dachte Eva-Maria Vollmer, wo bin ich hier nur gelandet, und zwang sich, weiterzugehen, sie brauchte einfach einen Job. Schließlich stand sie vor der richtigen Tür. Sie klopfte an und trat ein. Man drückte ihr einen Stift in die Hand, sie unterschrieb, was ihr vorgelegt wurde und nahm ihren Dienstausweis (mit Paßfoto) in Empfang. Sie wurde noch eindringlich ermahnt, diesen Ausweis niemals zu vergessen, denn sonst würde der Pförtner sie nicht einlassen und die Fehlzeit würde vom Gehalt abgezogen. "Also, bis Montag! Melden Sie sich hier bei mir! Zimmer 201! 8.00 Uhr! Einen schönen Tag noch und auf Wiedersehen!" Damit war sie entlassen.

Evas Arbeitsplatz, ein mickriger Schreibtisch in einem altmodischen Großraumbüro, war längst nicht so schick wie sie es erwartet hatte. Doch Dank der freundlichen Zuwendung einer mütterlich veranlagten Kollegin fühlte sie sich hinlänglich wohl. Stunde um Stunde saß Eva fortan am Computer und tippte sich die Finger wund: Herr Wurgemann, seines Zeichen Referats-Direktor, für den sie die meiste Zeit arbeitete, hatte eine Vorliebe für endlose Protokolle und Aktennotizen.
Jeden Morgen pünktlich um halb zehn musste sie in seinem Büro erscheinen. Sie hatte sich beim ersten Mal erstaunt gefragt, warum ein Direktor sich damit befasste, die Arbeit einer unwichtigen Schreibkraft persönlich entgegenzunehmen. Schneller als ihr lieb war, wusste sie warum. Der abschätzende Blick, mit dem er sie empfangen und begutachtet hatte, war mehr als eindeutig gewesen. Seither verging kein Tag, an dem er nicht versuchte, mit seinen schweißnassen Händen an ihr herumzutatschen, doch irgendwie ging es nie so weit, dass sie es als eindeutige sexuelle Belästigung hätte auslegen können. Einem objektiven Beobachter musste die Situation absolut unverfänglich erscheinen: ein freundlicher Chef, der seiner Sekretärin gutmütig die Schulter tätschelte. Dabei war es nicht so, dass ihre Kolleginnen nicht gewusst hätten, was los war. Eva merkte es an ihren Blicken und an ihrem Getuschel. Einer Kollegin schien es peinlich zu sein, eine andere schien besorgt, es gab sogar eine, die offensichtlich neidisch war. Da sie aber niemand daraufhin ansprach, machte sie, was alle machten und tat, als wäre alles in bester Ordnung.

Es war Freitag und es war der dreizehnte, als Eva, unter dem missbilligenden Blick der Vorzimmerdame, Wurgemanns Büro betrat und angestrengt Gelassenheit vortäuschte. Sie hatte die Türklinke noch in der Hand, als er, mit einer Behändigkeit, die ihm niemand zugetraut hätte, hinter seinem Schreibtisch hervorschoss. Ihm schien es in diesem Augenblick nichts auszumachen, beobachtet zu werden. Mit einer raschen Bewegung packte er Eva am Handgelenk und zog sie eng an sich heran. Mit einer weiteren raschen Bewegung schlang er seinen fleischigen Arm fest um ihren Rücken. Einen Augenblick lang war sie wie gelähmt vor Schreck und Abscheu. Als sein heißer Atem ihren Hals streifte, fasste sie sich wieder, stemmte beide Hände gegen seine Brust und stieß ihn von sich.
Obwohl Willibald Wurgemann Speis und Trank viel zu reichlich zusprach, um in Form bleiben zu können, war er ihr kräftemäßig überlegen und hatte nicht die Absicht, sie ohne einen Kuss entkommen zu lassen. Vom ersten Augenblick an hatte er es auf sie abgesehen, und er war es gewohnt, zu bekommen, was er sich in den Kopf gesetzt hatte. Dass sie in den vergangenen Wochen nicht auf seine Avancen eingegangen war, deutete er als ländliche Schüchternheit. Ihr zugeknöpftes Verhalten hatte seine Begierde erst recht geschürt. Dass sie ihn eben zurückgestoßen hatte, machte ihm nichts aus, ganz im Gegenteil! Triumphierend hob er den Kopf und zwinkerte seiner Vorzimmerdame zu. Er liebte diese Spielchen! Aus seinem Mundwinkel tropfte überschüssiger Speichel, doch er nahm sich nicht die Zeit, ihn abzuwischen. Die kleine Landmaus würde es genießen, da war er sich ganz sicher. Wer konnte schon einem Referats-Direktor widerstehen? Da wäre sie die erste! Beflügelt von vergangenen Erfolgen und seinem unbändigen Trieb, packte er sie an beiden Armen und zog sie wieder an sich. Er hielt ihre beiden Handgelenke eisern fest und empfand an ihrer wilden, wenn auch aussichtslosen Gegenwehr, es war nichts weiter als närrisches Rumgezappel, ein geradezu sadistisches Vergnügen.

Ein schriller Ausruf, den er unter tausenden erkannt hätte, ließ ihn jäh aufschrecken. Das heiße Rot der Lüsternheit in seinem Gesicht wich einem krankhaften Grau. Wortlos ließ er sein Opfer los. Innerlich wutschnaubend über die Unterbrechung, wandte er sich scheinbar beschämt um.
"Willibald ...!" keifte Helga Wurgemann außer sich. Ob sie nun den Verhaltensauffälligkeiten ihres Gatten gegenüber blind war oder nicht, jedenfalls schob sie die ganze Schuld für diese Ungehörigkeit ohne zu zögern der jungen Frau zu.
Angewidert und ohne ein Wort der Verteidigung ließ Eva den Schwall infamer Beleidigungen, der sich aus Helga Wurgemanns sorgfältig geschminktem Mund ergoss, über sich ergehen.
Mit einem drohenden: "Wir sprechen uns noch, Willibald!" rauschte Frau Wurgemann hinaus. Es fehlte nicht viel, und die Vorzimmerdame hätte ihr applaudiert. In diesem Moment stand sie ganz auf der Seite der hintergangenen Ehefrau. Sie fühlte mit ihr, denn sie hatte es niemals verwunden, dass Willibald Wurgemann sie wie heiße Kartoffeln fallengelassen hatte, nachdem sie ihm auf eine Weise zu Willen gewesen war, die ihr die Schamesröte ins Gesicht trieb, wann immer sie daran dachte. Am nächsten Tag hatte er sich verhalten wie immer und ihr Verhältnis kommentarlos für beendet erklärt. Doch er hatte Wort gehalten, was die versprochene Belohnung angegangen war. Sie war befördert worden und auch ihr Gehalt war beachtlich gestiegen.
Für Frau Wurgemanns Erscheinen, Beleidigungen hin oder her, dankte Eva allen ihr bekannten Göttinnen mit voller Inbrunst. Im Gegenzug schienen sie diese auf der Stelle mit einer gehörigen Portion Wagemut auszustatten. Eva holte aus und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige, die Willibald Wurgemann trudeln und über die eigenen Beine stolpern ließ. Auf eine derart tatkräftige Aktion war er nicht gefasst gewesen, zumal er dem Schreck über das plötzliche Auftauchen seiner Gattin noch nicht verwunden hatte. Er taumelte rückwärts gegen einen Aktenschrank und ging in die Knie. Die darauf stehende Blumenvase kam durch den Aufprall ins Schwanken und fiel um. Brackiges Wasser ergoss sich über seinen teuren Maßanzug. Eine rote Nelke glitt elegant auf seine glänzende Halbglatze und blieb darauf ausgesprochen dekorativ liegen. Behindert durch sein übermäßiges Gewicht war es ihm nicht möglich, sich aus eigener Kraft zu erheben. Ausgesprochen kläglich kauerte er am Boden. Bekleckert und der Lächerlichkeit preisgegeben, war der Lack seiner Führungsposition abgesprungen und seine Dürftigkeit offensichtlich geworden. Eva blieb der Mund offenstehen und es dauerte einen langen Moment, bis sie sich wieder fasste und auf ihre Pflicht besann. Sie rückte ihre in Unordnung geratenen Haare und Kleider zurecht, schaltete ihr Bürogesicht ein und bückte sich, um die Papiere, die ihr bei Wurgemanns Überfall aus der Hand gefallen waren, aufzuheben. Sorgsam legte sie sie auf den Schreibtisch. Sie wollte sich nicht nachsagen lassen, sie vernachlässige einer privaten Angelegenheit wegen ihre Arbeit. Doch dann musste sie lachen und wurde übermütig. Sie griff nach einem Radiergummi und schoss ihm im Hinausgehen die Nelke vom Kopf. Sie war im Handball immer gut gewesen. An der erstarrten Vorzimmerdame vorbei, stolzierte sie hocherhobenen Hauptes zu ihrem Platz und machte sich an die Arbeit, als sei nichts geschehen.

Es dauerte keine Stunde, bis sie in die Personalabteilung zitiert wurde. Sie unterschrieb, was ihr vorgelegt wurde, gab ihren Dienstausweis ab und war entlassen.

weiter

No Internet Connection