Kapitel 17

Es war Donnerstagnachmittag und Vince hupte vor dem Haus. Alexander rannte im strömenden Regen die paar Schritte zum Auto. Seine Mutter stand am Fenster und sah ihm nach. Einerseits freute sie sich, dass Alexander Anschluss an Gleichaltrige gefunden hatte, andererseits missfiel ihr die Freundschaft mit diesem Vince. Das war doch kein Benehmen, Hupen von der Straße aus, statt zur Tür zu kommen, wie sich das gehörte! Den Nachbarn war das auch schon aufgefallen. Im Haus gegenüber bewegten sich einige Vorhänge. Elisabeth bemerkte es und trat schnell von ihrem Fenster zurück. Die eine Woche kam er mit dem Motorrad und die andere mit einem Auto. Das Motorrad war immer dasselbe, doch die Automarken wechselten öfter mal. Sie verdächtigte ihn deswegen unsolider Machenschaften und war versucht gewesen, Alexander den Umgang mit ihm zu verbieten. Das hatte sie dann aber gelassen hatte; sie hatte ihm lediglich ihre Befürchtungen mitgeteilt. Doch Alexander hatte nur gelacht. Seiner Ansicht nach war Vince durch und durch solide: Er war Schreiner und arbeitete beim Theater. Und was seine vielen Autos anging: die lieh er sich von Freunden. Diese Auskunft konnte jedoch nur bedingt zu ihrer Beruhigung beigetragen, denn sie fand es keinesfalls richtig, mit geborgten Autos durch die Gegend zu rasen; wer sich kein Auto leisten konnte, musste bei schlechtem Wetter eben zu Fuß gehen. Sie hoffte inständig, Alexander würde sich noch recht lange mit seinem Fahrrad begnügen und nicht nach dem Auto verlangen, das sorgsam gehütet in der Garage stand, um es dann womöglich an Leute wie Vince zu verleihen.

"Na? Alles klar?" fragte Vince munter und gab Gas. Während der Fahrt quasselte er hitzköpfig vor sich hin, wobei es ausschließlich um das Unvermögen anderer Verkehrsteilnehmer ging. Vollauf mit dem Straßenverkehr beschäftigt fiel ihm nicht auf, dass Alexander blass und still neben ihm saß und nichts von der sonstigen Lebhaftigkeit zeigte, die ihn üblicherweise überkam, wenn sie donnerstags gemeinsam zur Bandprobe fuhren. Unvermittelt bremste er und parkte ein.
"So! Da wären wir!" sprach's und stieg aus. Alexander verzog keine Miene. Er folgte ihm schweigsam und zückte seinen Notizblock. In ihrer knapp bemessenen Freizeit führten die beiden allerlei Forschungen durch. So wurde der soeben ergatterte Parkplatz dazu genutzt, der größten Spielhölle der Stadt einen kurzen Besuch abzustatten. Nachdem sie ihre statistischen Erhebungen, deren Zweck außer ihnen niemand verstand, erledigt hatten, fuhren sie zum Übungsraum. Dieser befand sich in einer ehemaligen Kellerwohnung, die Peters Eltern zur Verfügung gestellt hatten, und die von den Bandmitgliedern in mühevoller Arbeit renoviert und schalldicht gemacht worden war.

Peter Sonntag (Gitarre) und Andreas Helm (Bass), beide begeisterte SiFi Anhänger, gingen in ihrer Freizeit einer für Außenstehende ähnlich sinnlosen Beschäftigung nach wie Alexander und Vince. Sie waren dabei, ein Hyperraum-Transmitter-Netz zu entwickeln, dass die Weltraumfahrt revolutionieren sollte. Sie nahmen diese Angelegenheit sehr ernst und waren sicher, dass mit ihrer Erfindung interstellare Zeitreisen in absehbarer Zukunft möglich waren.
Marco Müller (Gesang) träumte heimlich davon, bei einem grandiosen Auftritt von knackigen Burschen belagert und hysterisch angehimmelt zu werden, was er jedoch niemals zugegeben hätte, schon gar nicht gegenüber Su.
Su Schneider (Saxophon) beherrschte ihr Instrument hervorragend. Sie wich so gut wie nie von Marcos Seite, sprach selten, lächelte wenig und war völlig unempfänglich für Vince' Werben um ihre Gunst. Nach einer Weile war er dazu übergegangen, in ihr nur noch die Musikerin zu sehen, was das Arbeitsklima der Band in erheblichem Maße verbessert hatte. Su trug viel dazu bei, der Musik eine eigenwillige Note zu geben.

"Hört mal, Leute, ich habe geniale Neuigkeiten", rief Vince gleich nach der Ankunft und nahm im Türrahmen eine Pose ein, die einer Diva alle Ehre gemacht hätte. "Ihr werdet es nicht glauben!" Dann machte er jedoch nichts weiter, als ein geheimnisvolles Gesicht und eine überlange, äußerst bedeutungsschwangere Pause und sonnte sich genüsslich in der allgemeinen Aufmerksamkeit.
Alexander drückte sich an Vince vorbei und schaltete sein Keyboard ein. Er ahnte, was kommen würde, doch er wollte nichts davon wissen. Er war nur hier, weil Vince ihn abgeholt hatte. Von alleine hätte er keinen Fuß vor die Tür gesetzt.
"Es war", ließ Vince sich gnädig herab, "vor ein paar Tagen, da hab' ich eine Frau kennengelernt. Sie hat eine gut laufende Werbeagentur und sieht super gut aus. Und ... sie war ganz angetan von dem, was ich ihr erzählte." Lachend fuhr er mit der Hand durchs Haar und warf den Kopf nach hinten. "Wie man sich schon denken kann, war sie natürlich besonders von mir angetan!" Alexander verzog angewidert das Gesicht, was zum Glück keiner bemerkte. "Selbstverständlich habe ich ihr von uns erzählt, darum ging' s hauptsächlich, nicht wahr!" Er grinste breit! " Und siehe da: Sie war rein zufällig auf der Suche nach einer Band und ratet mal warum? Sie will einen Film machen! Mit uns! Ich habe ihr natürlich sofort unsere Demo-CD gegeben." Er klopfte sich auf die Schulter, die anderen grinsten. "Man soll keine noch so kleine Chance auf dem Weg zum Ruhm ungenützt vorübergehen lassen ... "
"Und das hast Du sofort geglaubt, ja? Und bist dann sofort mit ihr ins Hinterzimmer, ja?" warf Su mokant ein.
"Meine Liebe, das hat alles seine Ordnung und ist ganz seriös, wart’ s nur ab. Wir sind nicht ins Hinterzimmer, sie hat mich zu einer Party eingeladen. War echte irre und ganz seriös und jede Menge Leute waren da und wichtige Leute, solche, die man sonst nur im Fernsehen sieht. Und am Montag hatte ich einen Termin bei ihr, auch ganz seriös, in ihrem Büro. Wie Du siehst, Qualität überzeugt auch ohne Hinterzimmer! Und wie soll's auch anders sein, sie war jedenfalls begeistert. Nicht nur von mir, wie man jetzt vielleicht vermuten könnte, nein, nein, von uns allen, der Band und überhaupt ... und das ist noch längst nicht alles: Wir werden bald unseren ersten Auftritt haben! ... Bingo!"
Die anderen wussten natürlich, dass Vince diese CDs immer mit sich herumtrug und jedem in die Hand drückte, der nicht schnell genug „nein“ sagen konnte. Doch bislang war die Mühe vergebens gewesen.
"Danke die Herrschaften, das war's. Sie dürfen jetzt klatschen", brach Vince das Schweigen und sah Beifall heischend in die Runde. Su lächelte milde, Alexander war einem Herzinfarkt nahe, drei anderen jedoch zeigten ihre Begeisterung hemmungslos und johlten herum was die Lunge hergab. "Und ... schon morgen bin ich wieder mit ihr verabredet, sozusagen um die Sache perfekt zu machen. Alex kommt mit! Du hast doch Zeit?! ... Alex!" Alexander sah ihn ausdruckslos an und sagte keinen Ton. "Und dann werden wir mal sehen, wie die Sache so weitergehen wird. Ich werde jedenfalls mein Bestes geben ...! Die schöne Mary soll es nicht bereuen, mir begegnet zu sein" beendete er anzüglich seine Rede und warf lachend den Kopf in den Nacken.
Alexander hätte Vince in diesem Moment mit Leichtigkeit und ohne jede Reue umbringen können. Wer weiß, wie oft die sich treffen, wer weiß, was die alles so treiben, wer weiß, was die sich alles so erzählen. Alexander war ganz grün im Gesicht. Eine Eifersuchtsattacke erster Güte wütete in ihm.
"Also Leute, alle auf die Plätze!" tönte Vince laut und schwang sich hinter sein Schlagzeug. "Wir wollen doch noch ein bisschen was für unsere Karriere tun ...!"
Marianna und Vince! Marianna und Vince! Marianna und Vince! hämmerte es im Takt in Alexanders Kopf. Mehr als einmal verpasste er seinen Einsatz.
"Ey, Alex! Was is' n los mit Dir? Nicht gut drauf, was? Was machst Du um Himmelswillen bloß für ein Gesicht?" Vince, der von Alexanders Qual beim besten Willen nichts ahnen konnte, war sichtlich genervt über dessen Unzulänglichkeit. Er wäre aus allen Wolken gefallen, hätte er erfahren, was er angerichtet hatte.
"Lass‘ mich gefälligst in Ruhe! Und mein Gesicht geht Dich gar nichts an! Können wir jetzt endlich weitermachen? Und überhaupt ...!"
"Is' ja schon gut, Mann! Mach doch was Du willst!" Vince warf ihm einen ziemlich erstaunten Blick zu und zuckte ratlos mit den Schultern; so mürrisch kannte er den Freund ja gar nicht. Er musste ihn später unbedingt allein sprechen. Doch er kam nicht mehr dazu, denn, entgegen Alexanders sonstiger Gewohnheit, ging er fort, gleich nachdem die Probe offiziell für beendet erklärt worden war.

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