Kapitel 31

Vince lehnte lässig an der Wand und ließ betont gelangweilt seinen Blick über die Anwesenden gleiten. Doch seine Haltung täuschte. Wo sie nur blieb? Sie müssten doch schon längst hier sein, Eva und Alexander. Bei dem Gedanken daran, dass die beiden etwas miteinander haben könnten, wurde ihm ganz flau.
Wie hatte er nur so blind sein können? Auf Äußerlichkeiten achtend, hatte er lediglich registriert, dass Eva für seinen Geschmack viel zu dick war. Das, was wirklich zählte, hatte er nicht sehen wollen. Sie war so schön, so wunderschön und unterschied sich wohltuend von den Frauen, mit denen er sich bisher abgegeben hatte und die ihn schneller gelangweilt hatten, als er es wahrhaben wollte. Auf der Suche nach etwas, wofür er keine Worte gehabt hatte, waren die anschmiegsamen Körper unzähliger Frauen das Einzige gewesen, was er jemals gefunden hatte. Wirklich berührt hatte ihn nicht eine. Im Grunde genommen waren sie so unwichtig wie das Kopfkissen, auf dem er schlief. Gezählt hatte nur, dass er vorübergehend seine Einsamkeit vergessen und sich als Mann beweisen konnte.
Endlich! Er hatte sie erspäht und, er konnte sein Glück kaum fassen, allein, ohne Alexander. Sein Blick verharrte auf Evas Mund, und er malte sich aus, wie es wohl sein würde, wenn sie ihn küsste, wenn sie seinen Namen flüsterte. Bei dieser Vorstellung wurde ihm glühend heiß. Zum ersten Mal in seinem Leben war er völlig durcheinander, zum allerersten Mal! Er fühle sich seltsam wundersam und hatte das Gefühl, endlich angekommen zu sein. Tausend glitzernde Sternchen explodierten in seinem Kopf. Er kam sich vor wie eine Wunderkerze. Nichts wie hin zu ihr, schnell! Reichlich benommen von dem immensen Gefunkel in seinem Kopf, stolperte Vince prompt über einen achtlos herumstehenden Papierkorb. Unbeeindruckt von diesem faux pas überzog sich sein Gesicht mit einem Strahlen und seine Magengrube spielte verrückt. Der Liebessupermarkt war zwischenzeitlich fast alle seine Utensilien losgeworden, nur eine rosarote Brille war übriggeblieben, was völlig ausreichend war. Beherzt griff er zu, setzte sie auf und alles außer Eva verschwand aus seinem Blickfeld.

"Hi!" Mehr brachte Vince nicht heraus, und das war schon schwer genug gewesen. Seine Stimme erinnerte sehr an die eines altersschwachen Papageis, der überdies mit chronischer Heiserkeit geschlagen war. Aber lächeln, das konnte er noch, schließlich hatte er jahrelang geübt.
"Hallo!" erwiderte Eva mit verwegener Geistesgegenwart, mehr gelang auch ihr nicht. Ich träume, sagte sie sich, ich träume. Doch es war kein Traum. Vince stand leibhaftig vor ihr und sah sie an, mit diesem Ausdruck in den Augen, mit diesem Lächeln im Gesicht. Wer konnte da schon widerstehen? Ein Irrtum, konstatierte ihr Verstand. Es konnte sich nur um einen Irrtum handeln. Ganz sicher! Abwartend sah sie ihn an.
"Ich ... ich wollte Dir sagen, dass Du großartig warst!" Sonst um flotte Sprüche nicht verlegen, musste er ausgerechnet jetzt in seinem umnebelten Gehirn jedes Wort einzeln herausfischen. "Es tut mir leid, dass ich so ... daneben war ... Ich weiß auch nicht ... Ich weiß wirklich nicht, was mit mir los war, ... Du warst jedenfalls phantastisch ... hat mich völlig umgehau'n ... Du hast alles gerettet, wo hast Du das denn gelernt?" Verlegen fuhr er sich durchs Haar. "... ich ... äh ... " Eigentlich wäre es Zeit gewesen, ihre Hand zu nehmen, sie zu küssen oder sonst irgendetwas Sinnvolles zu tun, doch er, ausgerechnet er, traute sich nicht. Wenn sie nun nicht wollte? Er hatte ja keine Ahnung, was sie von ihm dachte. Warum um Himmels willen sagte sie denn nichts? Er war sich nicht mal sicher, ob sie ihm zugehört hatte. "Sag doch was ..." flüsterte er heiser.
Eva spürte seinen warmen Atem an ihrem Ohr. Ein entzückendes Gefühl schoss blitzartig in ihr Herz und ihr Verstand wappnete sich. Es war bestimmt ein Irrtum! Bestimmt benahm er sich nur so, weil er immer noch betrunken war. Stimmt, sagte ihr Verstand. Stimmt nicht, sagte ihr Herz, das besser hören konnte als die Ohren und besser sehen als die Augen. Es hatte genau erkannt, was mit Vince los war. Ein freudiges Lächeln stahl sich heran und sekundenlang genoss Eva das grandiose Kribbeln in ihrem Bauch. Sie hätte sich dieser Spannung, die sich wortlos zwischen ihr und Vince ausbreitete, stundenlang hingeben können. Genau diesen Moment suchte sich ihr Kopf aus, um in einem unerwünschten Anfall von Klarheit alles zu beenden. So nicht! Er sollte ja nicht glauben, dass sie sich von ihm so einfach bezirzen lassen würde. Sie traute weder ihm noch sich und flüchte sicherheitshalber in einen anderen Raum.
Vince traf fast der Schlag. Das durfte nicht wahr sein! Sie durfte nicht weggehen! Jetzt doch nicht! Nicht so! Nicht ohne eine Antwort! Nicht ohne einen Kuss! Hatte er sich so geirrt? Nein! Ganz sicher nicht! Er hätte seinen Kopf gewettet, dass sie es auch gespürt hatte. Sollte ihn seine Erfahrung so trügen? Und doch: Sie hatte ihm einen Korb gegeben! Ihm! Die soll sich bloß nicht so anstellen ... Doch kaum, dass er das gedacht hatte, kam er sich selten blöd vor. Was sollte er überhaupt noch denken? Was lohnte sich noch? Sein Hirn, so gut wie funktionslos, wiederholte monoton ein einziges Wort: Eva! Er verstand die Welt nicht mehr. Was machte diese Frau nur mit ihm?
Nach einer gefühlten Ewigkeit, während der er sich einen Weg durch die Menschenmenge bahnte, die ständig dichter werden zu schien, entdeckte er sie endlich wieder. Wie sollte er ihr nur erklären, was er fühlte?
Eva bekam weiche Knie und Herzklopfen und alles was dazugehörte. Doch sie wollte sich nicht einlullen lassen und versuchte eigensinnig, unbeeindruckt zu bleiben, trotz dieses Ausdrucks in seinen Augen, trotz dieses Lächelns. Sie glaubte ihm nicht, obwohl sie es zu gerne getan hätte.
Weil Vince nichts besseres einfiel und weil es bisher immer noch gewirkt hatte, küsste er sie kurzentschlossen auf den Mund.
Leicht wie eine Feder war sein Kuss und flüchtig wie eine Schneeflocke, doch er brannte auf Evas Lippen wie Feuer. Ihr wurde schwindlig, ihr Herz hämmerte wild, und sie spürte, wie sich eine beängstigende Schwäche in ihr ausbreitete. Mehr! schrie ihr Herz, Stopp! schrie ihr Verstand. So nicht! Sie war noch längst nicht davon überzeugt, dass Vince es wirklich ernst meinte. Sie zerriss das feine Netz brutal und sorgte mit ein paar Schritten für den dringend notwendigen Sicherheitsabstand.
"Eva ... Eva ..." rief er panisch hinter ihr her. "So warte doch ... ich muss Dir was sagen ... ich ... bleib stehen ... bleib bei mir!"
Sie konnte nicht anders, also blieb sie stehen. Vince öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch kein Wort kam heraus. Ich werd' verrückt ... wenn's reicht ... dachten sie gleichzeitig. Es war einer jener denkwürdigen Augenblicke, der Ewigkeiten hätte dauern können und doch niemals lang genug gewesen wäre: alles war möglich und keine Eile mehr nötig. Wie von selbst fanden sich ihre Lippen. Ach, es war so aufregend!
Weder Eva noch Vince wussten, wie es geschehen war, doch mit einem Mal saßen sie händchenhaltend in einem Taxi. Starr sahen sie geradeaus und auf ihren Gesichtern hatte sich jenes dümmlich selige Grinsen eingebrannt, das ein derartiger Gemütszustand üblicherweise mit sich bringt. Der Taxifahrer drehte die Musik lauter und vermied jeden Blick in den Rückspiegel. Schweigsam schmachtende Liebespaare waren ihm einfach unangenehm.

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