Kapitel 25

Ungestüm rannte Alexander auf die Straße hinunter. Ohne sich um neugierige Blicke zu kümmern, lehnte er sich an einen der Straßenbäume schloss die Augen und atmete in der lauen Sommerluft mehrmals tief durch. Sie hat mich geküsst! (Für andere Gedanken war kein Platz mehr – es s war so herrlich und schrecklich zugleich!) Sie hat mich geküsst! Er lächelte selig bei dem Gedanken an die federleichte Berührung ihrer Fingerspitzen. Ein wohliger Schauer lief ihm den Rücken hinab und glückselige Wonne überflutete ihn. Selbst jetzt noch brannten seinen Lippen von ihrem Kuss. Als er sich an das unbeschreibliche Verlangen erinnerte, das in ihren Augen aufgeflackerte war, bekam er weiche Knie. Und doch war er fortgerannt, war geflohen vor einer ungehörigen Lust, der er nicht nachgeben durfte. Tief in seinem Inneren wusste er, dass es nicht richtig war, einzig körperlichem Verlangen nachzugeben. Er musste standhaft bleiben, standhaft für sie beide. Schon einmal hatte er ihr nachgegeben. Noch einmal durfte das nicht passieren. Was sollte sie von ihm denken, wenn er bei der leisesten Berührung in Flammen stand und bedenkenlos alle Werte über Bord warf? Würde sie wirklich mit so einem Mann ihr Leben teilen wollen? Nein, ganz sicher nicht, gab er sich selbst die Antwort. Umso mehr musste er sofort zu ihr zurückgehen. Jetzt gleich! Er musste ihr erklären, warum er davongelaufen war. Er musste es unbedingt, schließlich sollte sie nicht auf den Gedanken kommen, es sei aus Abneigung geschehen, zumal genau das Gegenteil der Fall war!

Ein kalter Wind kam auf. Fröstelnd rieb er sich die Arme und machte sich auf den Weg. Marianna würde sicher schon auf ihn warten. Plötzlich war ihm so kalt, dass er begann, mit den Zähnen zu klappern. Frierend schlang er die Arme umeinander. Was war denn jetzt los? So kalt? Mitten im Sommer? Oder hatte er sich etwa erkältet? Das durfte nicht sein! Marianna wartete doch auf ihn! Mühsam setzte er einen Fuß vor den anderen. Es kam ihm vor, als wate er durch tiefsten Morast. Verwundert schüttelte er den Kopf und blieb stehen. Das hätte er nicht tun sollen, denn sofort kroch eisige Kälte seine Beine empor, erreichte seine Hüften und seinen Oberkörper. Sie kroch an ihm hoch wie eine Schlange, wand sich um seine Arme, wand sich um seinen Kopf. Selbst seine Gedanken froren ein.
Dunkle Baumstämme ragten wie bizarre Geisterfinger in die gespenstische Nacht. Blauleuchtende Nebelschwaden waberten zähflüssig am Boden entlang und etwas Unerklärliches geschah. Er ahnte dunkel, dass er es hätte wissen müssen, konnte sich aber nicht daran erinnern. Kein Mensch war zu sehen, kein Geräusch zu hören, kein Stern am Himmel. Langsam und schwerfällig hob er eine Hand berührte dabei sein Haar. Diese Berührung war etwas Vertrautes in dieser schaurigen Stille. Da schalt er sich selbst einen Narren. Der Nebel, der so geisterhaft vom Boden aufstieg war vielleicht etwas ungewöhnlich für die Jahreszeit, aber sicherlich nichts Übernatürliches. Es bestand also kein Grund, sich wider alle Vernunft zu ängstigen. Unwillkürlich musste er lächeln, während er sich dazu ermahnte, in Zukunft seine Gefühle besser zu kontrollieren. Ein Kuss sollte ihn nicht so in Aufruhr versetzen, sollte kein Grund sein, sich im Dunkeln sinnlos zu fürchten. Es wurde allerhöchste Zeit zurückzugehen.

Entschlossen, diesem Spuk ein Ende zu bereiten, wandte er sich um und sah sich unversehens einem wabernden Nichts gegenüber; einem Nichts, vereinzelt von funkelnden Blitzen durchzogen. Der Hauseingang war verschwunden. Die Häuser waren verschwunden. Schlichtweg alles war verschwunden. Nur ein schreckliches Raunen erfüllte die Luft. Das Getrappel rennender Füße erwachte als brodelndes Geräusch im dichten Nebel unter ihm, und er nahm Dinge wahr, die gar nicht hätten vorhanden sein dürfen. Von Panik getrieben, rannte er blindlings durch die vernebelte Finsternis. Er rannte und rannte, ohne zu wissen wohin. Plötzlich türmte sich das riesige Standbild eines blendend weißen Einhorns vor ihm auf. Er wollte ausweichen, übersah aber den vorstehenden Sockel und fiel hin.
Als er wieder zu sich kam, hämmerte das Blut in seinen Schläfen. Stöhnend richtete er sich auf, kam mühsam auf die Beine. Sein Kopf tat höllisch weh, genauso wie seine rechte Schulter. Mit weit aufgerissenen Augen versuchte er, sich zurechtzufinden. Er wusste nicht, wo er sich befand, wie er hierhergekommen oder was geschehen war. Einem flüchtigen Geist gleich, schlängelte er sich durch Dunkelheit und Nebelschwaden. Schließlich spürte er Pflasterseine unter seinen Füßen, diesen folgte er der Einfachheit halber, denn wo es gepflasterte Wege gab, gab es auch Menschen.
Der Nebel wurde noch dichter, so dicht, dass er Mühe hatte zu atmen. Rechts und links von ihm erschien so etwas wie Gestrüpp zu sein, dorniges Gestrüpp, das seinen Weg säumte. Einmal blieb er stehen und starrte eine Weile gedankenverloren auf seine zerkratzten Hände. Dann blieb er stehen und lauschte angestrengt, denn ihm war, als hätte er ein Rufen gehört. Es kam ihm jedoch nicht in den Sinn, selbst zu rufen, sondern er folgte stolpernd und strauchelnd seinem Weg. Er kam nicht auf die Idee zu rufen, umzukehren oder sonst etwas zu tun, was vielleicht dazu hätte geeignet sein können, eine Veränderung seiner ungewissen Lage zu bewirken. Er ließ sich treiben wie ein Schiff auf hoher See, das Hoffnung und Orientierung schon lange verloren hatte und nur noch auf das Ende wartete.

Allmählich lichtete sich der Nebel, die Dunkelheit wurde matter, da stolperte er gegen ein Hindernis, das quer über seinem Weg stand. Eine Mauer! Es war eine Mauer aus grob behauenen Steinen, die ihm den Weg versperrte. Lockende Stimmen riefen von der anderen Seite, wurden immer lauter und immer drängender. Klavierspiel verschwamm im Nebel. Er ging einige Schritte nach links, dann einige nach rechts und entdeckte schließlich eine mit metallenen Beschlägen versehene Holzbalkentür. Suchend glitten seine Finger über die Beschläge bis er die Erhebung spürte, die er unbewusst gesucht hatte. Eine Art großer Hufnagel ragte hervor und als er darauf drückte, gab die Tür mit einem leisen Knirschen den Weg frei.

Eigentümliches Zwielicht empfing ihn auf der anderen Seite. Das Atmen fiel ihm leichter, denn der gespenstische Nebel war auf der anderen Seite der Mauer geblieben. Ganz hinten sah er einen helleren Schimmer, hervorgerufen durch Licht, das von irgendwoher auf den Fußboden fiel. Mit ruhiger Hand schob er einen schweren Brokatvorhang zur Seite, der dabei den Staub von Jahrhunderten auf Alexander herabrieseln ließ und ihn zum Niesen brachte. Es war ein höchst ungehöriger Laut in dieser Umgebung, und er schlug sich erschrocken die Hand auf den Mund. Er trat durch den Vorhang und fand sich wieder in einer Art Halle, in deren Mitte sich ein mächtiger Thron aus Ebenholz befand. Unzählige, armdicke Kerzen, die in mächtigen Leuchtern steckten, warfen unstete Schatten an die Wand. Silberne Einhörner und farbenprächtige Pfauen, umrahmt von einer kargen Berglandschaft, schmückten die Wand hinter dem Thron. Er glaubte fast, das schrille Klagen der Pfauen zu hören. Die Einhörner neigten ihre stolzen Köpfe ein wenig. Der Blick ihrer traurigen Augen traf ihn mitten ins Herz.

„Du hast meinen Ruf gehört. Ich danke Dir für Dein Kommen." Die Königin sprach, ohne die Lippen zu bewegen und Alexander erinnerte sich an etwas, allerdings nur unzureichend.
"Sie sind so traurig!" hörte er sich sagen und meinte damit die Einhörner, die in vom Wandgemälde her durchdringend anstarrten.
"Ja," erwiderte die Königin. "Sie sind traurig und warten auf die Erlösung, so lange schon. Und ich warte mit ihnen. Erfülle Deine Pflicht und erlöse uns."
Auf dem Kopf trug sie einen goldenen Reif, in dessen Mitte ein großer Diamant blitzte. Ihr weißes Haar, zu einem von schwarzen Perlenschnüren gehalten Zopf gewunden, floss an ihrem Körper hinab und ringelte sich schlangengleich um ihre Füße. Ihre Augen waren schaurig und schwarz wie die Nacht.
"Du hast den König sterben sehen! Du hast die Meute mit den Wasserköpfen gesehen, die seinen Kopf forderten! Du bist der Erbe. Du besitzt den Schlüssel. Du bist der rechtmäßige Herr. Erfülle Deine Pflicht und erlöse uns. Rette Qylarah!"
Mit bemerkenswerter Anmut erhob sie sich von ihrem Thron und schritt auf Alexander zu. Ihre Haltung war stolz, tadellos und ehrfurchtgebietend. Eindringlich sah sie ihn mit ihren uralten Augen an. Alexander erkannte die tiefe Not in ihrer Seele und beugte andächtig das Knie.
"Folge mir!" hörte er ihren tonlosen Befehl. Dunkelrote Lippen prangten ungesund in ihrem leichenblassen Gesicht, das sich übergangslos in die Fratze einer Wahnsinnigen verwandelte, während sie ein geckerndes Lachen ausstieß. Als sie sich von Alexander abwandte und auf die mit Einhörnern und Pfauen bemalte Wand zuschritt, war ihre Haltung jedoch immer noch formvollendet aristokratisch. Vor der Wand angekommen drehte sie sich um und streckte Alexander ihre dürre Hand entgegen.
"Folge mir!" hallte es wie ein Echo in Alexanders Kopf. Die Königin tat einen Schritt zurück und verschmolz mit dem Wandbild. Rückwärtsgehend, den Blick nach wie vor auf Alexander geheftet, wurde sie kleiner und kleiner. Ihr folgten, ebenfalls rückwärtsgehend, die Einhörner, die Alexander mit ihrem unsäglich trostlosen Anblick quälten. Nur die Pfauen bewegten sich nicht.
"Komm!" wisperten die Einhörner. "Erfülle Deine Pflicht und erlöse uns!" Doch er bewegte sich nicht, sondern stand nur da und schauderte unter dem Blick der Pfauen.
Sollte er es wagen? Konnte er ihnen trauen? Was sollte er nur tun?
"Komm!" schrie die Königin, stieß ein letztes gellendes Lachen aus und löste sich in Luft auf.
"Komm!" lockten die Einhörner, scharrten mit den Hufen und breiteten anmutig ihre Flügel aus und segelten davon wie Adler im Wind.
"Komm!" kreischten die Pfauen, schlugen ein Rad und schrumpften bis nichts weiter von ihnen übrigblieb als winzige Punkte. Alexander hätte es für Fliegendreck halten können, hätte er es nicht besser gewusst.
Er berührte die Wand. Doch nichts geschah. Er hatte sie verloren. Er hatte alles verloren. Er hatte versagt. Doch wie hätte er hinübergehen können an jenen Ort, wenn dieser Ort selbst ihm den Zutritt verwehrte, wenn die Wand nichts weiter war als eine kahle, weiße Wand?
"Halte Dich bereit! Wenn die Königin Dich das nächste Mal ruft, musst Du ihr folgen. Es ist Deine Pflicht!" zirpte ihm eine kleine weiße Fledermaus ins Ohr und flog flatternd und direkt vor seinen Augen in die Wand und war nicht mehr zu sehen. Ungläubig berührte er die Stelle mit bebenden Fingern. Doch nichts geschah. Noch war seine Zeit nicht gekommen. Ein Rauschen glitt allmählich heran, drängte sich in Alexanders Ohr, sprang unstet in seinem Kopf herum, raunte und wisperte, ohne dass er etwas von der Botschaft verstehen konnte.

Bis auf diejenige Kerze, die direkt neben dem Ausgang stand, waren alle ausgegangen. Hier gab es nichts mehr für ihn zu tun, also konnte er genauso gut gehen. Seine Umgebung schien mit dieser Entscheidung einverstanden zu sein. Ein unfühlbarer Wind kam auf, ließ den schweren Vorhang flattern als sei er aus feinstem Seidengespinst, riss ihn schließlich los und wehte ihn fort. Der Weg zurück war frei und Alexander trat in den Durchgang. Ihm wurde ein wenig schwindlig und er schloss tief einatmend für einem Moment die Augen.

Fröstelnd rieb er sich die Arme und hüpfte auf und ab bis ihm wieder warm wurde. Es war allerhöchste Zeit zurückzugehen, jetzt gleich. Marianna würde sicher schon auf ihn warten. Ein Kuss, dachte er lächelnd, sollte ihn nicht so in Aufruhr versetzen, sollte kein Grund sein, einfach ohne Erklärung davonzurennen.

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