Kapitel 54

Das Licht ging an. Der Sessel, in dem der Graf gesessen, war leer. Mit glänzenden Augen und gutgelaunt ob des netten Märchens, zog man gut gelaunt in die Hotelbar. Allen voran Hugo Grünberg. Nur Eva blieb allein in der Bibliothek zurück. Sie nippte an ihrem Cocktail und schloss die Augen. Sie fühlte sich herrlich und räkelte sich wohlig. Eindeutig! Sie hatte sich in den Grafen verliebt. Das Bild dieses stattlichen Mannes vor Augen genoss sie die Schmetterlinge im Bauch und das Kribbeln im Nacken. Die Sonne, die er in ihrem Herzen hatte aufgehen lassen, strahlte hell und wärmte sie bis in die Zehenspitzen. Sie hätte ewig so dasitzen können.
„Die Zeit des Wartens ist vorüber! Die Zeit des Findens ist gekommen!" Glockenhell leise erklangen diese Worte. Sie zog die Stirn kraus, richtete sich im Sessel auf, stand auf und strich sich übertrieben sorgfältig das Kleid glatt. Argwöhnisch betrachtete sie ihr Glas. War sie etwa betrunken? Gab es hier verborgene Lautsprecher? Wollte man ihr einen Streich spielen?
Warum sitze ich hier und höre etwas, was es nicht gibt, anstatt mich mit den anderen in der Hotelbar zu vergnügen? Einer Eingebung folgend ging sie ans Regal. Das kunstvolle Wappen, das den Buchrücken zierte, sprang ihr förmlich ins Auge. Ein Blick über die Schulter zeigte ihr, dass sie allein war und so nahm sie das Buch heraus. Es war sehr schwer, so dass sie es auf ein kleines Tischchen legen musste, um es zu öffnen. Sie schlug den kostbaren Einband auf und fing an zu blättern: die erste Seite, die zweite, die dritte. Sie öffnete das Buch in der Mitte, sah sich die letzte Seite an. Nichts! Absolut nichts! Jede Seite war leer. Was hatte das zu bedeuten? Wie konnte das sein, dass ein Buch, aus welchem soeben vorgelesen worden war, lediglich leere Seiten enthielt? Über diese Absonderlichkeit nachgrübelnd stellte sie das Buch zurück. ‚Die Zeit des Wartens ist vorüber! Die Zeit des Findens ist gekommen!‘ prangte nun deutlich lesbar auf dem Buchrücken.
"Der Cocktail!" beruhigte sich Eva. "Es war der Cocktail! Ich bin müde, viel zu müde. Ich brauche Schlaf, viel Schlaf. Der Tag war anstrengend, sehr anstrengend." Morgen früh würde sie nochmal herkommen und sich das ominöse Buch bei Tageslicht ansehen. Es würde für alles eine Erklärung geben. Ganz sicher! Eine natürliche Erklärung! Vermutlich hatte der Graf ein außergewöhnliches Gedächtnis. Vermutlich war er ein begnadeter Märchenerzähler. Vermutlich hatte sich der geschäftstüchtige Graf alles nur ausgedacht. Und sie hatte, ohne es zu bemerken, zuviel getrunken! Mit dieser Erklärung gab sie sich zufrieden und ging auf ihr Zimmer. Sie verriegelte die Tür, gähnte herzhaft und ließ sich angezogen aufs Bett fallen. Lediglich die schwarzen Stöckelschuhe streifte sie ab und schlief auf der Stelle ein.

Der feine Klang eines Windspiels lockte Eva aus ihrer Traumwelt. Einen kurzen Moment lang wusste sie nicht wo sie war. Fröstelnd rieb sie sich die Arme und sah aus dem Fenster. Ein blassgelber Mond hing voll am Himmel. Ging der mitternächtliche Spuk los? Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es dafür schon zu spät war. Es würde bald hell werden, da waren keine Gespenster mehr unterwegs, weder computergesteuerte noch echte. Liebliche Sphärenklänge erklangen, riefen glückliche Kindheitserinnerungen wach. Eva seufzte wohlig. Eine Stimme mischte sich darunter, deren vehementer Aufforderung sie sich nicht entziehen konnte. Sie stand auf, zog eine Strickjacke über ihr Cocktailkleid und ihre bequemen Bergsteigerstiefel an. Vorsorglich steckte sie eine Taschenlampe ein, nicht ohne sie vorher auf ihre Funktionstüchtigkeit zu überprüfen. Die wohlklingende Stimme, lotste sie tief in die Burg hinab, durch endlose, schmale Gänge, spinnwebenverhangen und feucht, bewohnt von allerlei Krabbelgetier jedweder Größe. Zum Glück ergriffen fast alle die Flucht, sobald das Licht anging. Als sie sich einmal umdrehte sah sie, dass nur sie allein im Lichtkreis stand, davor und dahinter finstre Dunkelheit. Sie schluckte, wappnete sich und ging weiter. Über viele Treppen ging es abwärts, hinab in die tiefsten Kellergewölbe der Burg und noch weiter. Als die Stufen nur noch aus dem nackten Gestein gehauen waren, schaltete Eva die Taschenlampe an. Viel lieber wäre sie umgekehrt, jetzt wo es keine elektrische Beleuchtung mehr gab. Doch die körperlose Stimme befahl Eva, weiterzugehen. Den Strahl der Taschenlampe auf den Boden gerichtet, ging sie weiter, bis massiver Fels ihr den Weg versperrte. Ihr fiel die Geschichte ein, von Bertin der Küchenmagd, die an dieser Stelle einer Ratte gefolgt war. Sie konnte nicht anders, als einen hysterischen Schrei auszustoßen. Dann huschte ein leichtes Flimmern huschte heran, eine unsichtbare Hand schubste sie in eine kleine Höhle.
"Wow! Ich glaub ich träume!" rief Eva laut und zwickte sich in den Arm. Sie hatte niemals so recht verstanden, was damit bewiesen werden sollte, dies war aber eindeutig eine derjenigen Situationen, wo man dies üblicherweise tat. Silberne Sterne blitzten millionenfach im Licht der Taschenlampe auf. Decke, Wände und selbst der Boden unter ihren Füßen war damit übersät. Ihr wurde ganz schwindlig bei diesem Anblick. Eva rieb sich die Augen und zwickte sich nochmal. Sicher ist sicher! In diesem Augenblick stolperte sie, der Lichtstrahl der Taschenlampe irrte über die Wände und Decke und traf schließlich auf einen blauen Steinquader. Eva traute ihren Augen nicht. Was sie sahen, konnte einfach nicht wahr sein. Ihre Gedanken purzelten wild durcheinander. Märchen waren Märchen waren Märchen und in Wirklichkeit gab es das alles nicht. Sie blinzelte mehrmals, zwickte sich nochmal in den Arm, doch die Erscheinung verschwand nicht. Auf dem Stein lag eine Frauengestalt, ganz grau sah sie aus, so grau wie ein Denkmal aus Stein. Eine Spinnwebe streifte Evas Nase und brachte sie zum Niesen. Ein lautes "Hatschi" echote durch die Höhle und wirbelte den Staub auf, der einstmals ein Kleid gewesen sein müsste. Zwei Geschichten, eine Daira und eine Königin und eine Statue tief im Berg. Es musste eine Statue sein, die der Graf des besonderen Effekts wegen dort errichtet hatte, eine touristische Attraktion, nichts weiter. Es gab keine Unsterblichen und schon gar keine Unsterblichen, die vergiftet wurden und jahrhundertelang irgendwo rumlagen und auf ein Wunder warteten. Alles in Eva sträubte sich gegen diesen Gedanken. Es konnte nicht sein. Es widersprach sämtlichen Naturgesetzen. An diesem Punkt angekommen, konnte sie das hysterische Gelächter nicht mehr zurückhalten. Lauthals platzte es aus ihr heraus. Sie lachte bis ihr die Tränen kamen. Ein spitzer Schmerz oberhalb der rechten Augenbraue würgte ihre Lachsalve jäh ab.
"Alles in Ordnung!" flüsterte sie sich beruhigend zu und rieb sich die Schläfe. "Es ist alles in bester Ordnung! Es ist nur eine Untote, es ist nur diese Daira, die nichts weiter will, als dass ich ihre Kette wiederfinde, zum Glück bin ich kein Prinz, sonst müsste ich sie küssen, so muss ich aber nur eine verloren gegangene Kette aus einem Brunnen fischen.“ Und wieder überkam sie ein hysterischer Lachanfall.

Es war dunkel, als er erwachte. Der feine Klang eines Windspiels hing in der Luft, ein voller Mond am Himmel. Ein filigraner Zauber schwebte durch die Luft. Voller Unruhe stieg er hinab in die Höhle; das erste Mal seit einer Ewigkeit. Begleitet wurde er von unverständlichem Gewisper und Geflüster, das bedeutungsschwanger aus Fugen und Ritzen strömte und ihm das Gefühl vermittelte, auf Wolken zu gehen.

Evas Herz blieb fast stehen, als der Lichtstrahl der Taschenlampe plötzlich einen Mann aus der Dunkelheit hervorholte. Das war es also! Der Graf hatte sie hierhergelockt. Es konnte gar nicht anders sein. Der Gott der unglücklich Verliebten hatte sich ihrer uneingestandenen Sehnsucht erbarmt. Ohne zu zögern lief sie freudestrahlend auf ihn zu und umarmte ihn. Doch er blieb stocksteif. Das war eindeutig. Natürlich, wie sollte es auch anders sein. Sie musste völlig übergeschnappt sein, zu glauben, der Graf würde sie mittels geheimnisvoller Stimmen nächtens in unterirdische Grüfte locken, um sie dort zu küssen. Sie ließ in los, stolperte sie umher und fand den Ausgang nicht. Einem stechenden Kopfschmerz gleich spürte Eva einen verzweifelten Aufschrei direkt hinter der Stirn. Sie blieb stehen.
"Was tun Sie hier!" fragte der Graf ziemlich fassungslos und ziemlich laut. "Was machen Sie hier?" Taktvollerweise machte er keine Anspielung auf ihre Umarmung. "So antworten Sie doch!" drängte er. "So antworten Sie doch!"
"Ich ... ich weiß auch nicht." Eva schniefte vernehmlich und wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht. Es war alles schon peinlich genug, er sollte sie nicht auch noch weinen sehen. "Ich weiß es wirklich nicht. Es ist ... es war ... eine Stimme ... es ist alles nur ... wahrscheinlich zu wenig Schlaf ... die Geschichte ... alles nur Einbildung ... Verzeihen Sie bitte! Ich werde jetzt gehen!" murmelte sie zusammenhangslos.
Eine Stimme! Es dauerte ein Weilchen, bis ihm bewusst wurde, was sie gesagt hatte. „Was für eine Stimme?" rief er. "Was hat sie gesagt?"
Doch Eva hörte ihn nicht, ihre Ohren waren anderweitig beschäftigt. "Die Zeit des Wartens ist vorüber! Die Zeit des Findens ist gekommen!" raunte und wisperte es überall. Unsichtbare Hände schubsten Eva zu einem kleinen Steinhaufen.
"Sehen Sie mal, Herr Graf, so ist es nun mal im Leben!" Eine Hysteriewelle plagte ihre Lachmuskeln erneut. "Das Wasserbecken ist verschüttet, zu dumm! Es ist doch auf nichts Verlass!" Ein stechender Schmerz direkt hinter der Stirn, erinnerte sie an das, was von ihr erwartet wurde. Also bückte sie sich und warf den obersten Stein zur Seite. Nee, nee, dachte sie im selben Moment, so nicht. Ich die Arbeit und er das Vergnügen am Ende? So nicht! "Können Sie vielleicht mal mit anfassen?" forderte sie den Grafen auf, der verstört herumstand und die Hände baumeln ließ. "Oder soll ich die ganze Arbeit allein machen?"
Binnen kürzester Zeit hatten sie ein ummauertes, flaches Becken freigelegt. Nun denn, der Brunnen war gefunden! Er war nicht sehr groß, gerade so, dass man die Hände bequem hineintauchen könnte um Wasser zu schöpfen. Es war allerdings kein Wasser darin; lediglich ein paar kleine Zweige, wobei es sich genausogut um die kümmerlichen Reste eines Tieres handeln konnte. Eva kramte in ihrer Jackentasche nach etwas, womit sie darin herumstochern konnte. Sie hoffte inbrünstig, dass sie sich im Weiteren ebenfalls auf das Märchen verlassen konnte und ihr keine krabbelnden Scheußlichkeiten, sondern die gesuchte Kette in die Finger fiele. Ein Päckchen Papiertaschentücher diente als Besen. Nichts! Keine Kette!
"Vielleicht gibts ja ein Geheimversteck," murmelte sie, "Geheimfächer sind ja sehr beliebt!" Dann setzte sie sich auf den Rand des fast kniehohen Beckens, sah den Graf an und zuckte ratlos mit den Schultern. Als es leise plätscherte und sie daraufhin nochmals in das Brunnen sah, verschlug es ihr den Atem. Tief unten kräuselte sich himmelblaues Wasser in einer sanften Brise. Das Licht einer unsichtbaren Sonne glitzerte auf der Oberfläche. Sie drehte den Kopf ein wenig, sah blühende Seerosen und Schilfrohr. Inmitten der spiegelglatten Wasseroberfläche sah Eva sich selbst, Augen und Mund weit aufgerissen. Ihr Spiegelbild verschwamm, als eine kleine Leiter die Wasseroberfläche von unten durchstieß. Ein winziger, grasgrüner Frosch hüpfte beschwingt daran empor und sprang mit einem kaum hörbaren "Quak" direkt neben auf Brunnenmäuerchen.

"Küss mich schnell, du schöne Maid, ich warte doch zu bang. Dein Schade soll's gewiss nicht sein. Bin nur ein Frosch und stets allein und leb' so schon zu lang!" Sein feines Stimmchen war so leise, dass Eva hinunterbeugen musste, um ihn zu verstehen. Sie spürte, wie eine weitere hysterische Welle sie inwendig kitzelte. Da saß dieser Winzling von Frosch, die Glubschaugen geschlossen, das Mäulchen gespitzt, kussbereit, erwartungsvoll. "Na los!" piepste er. "Ich hab' nicht ewig Zeit!" Nun, denn, dachte Eva, ist jetzt auch egal jetzt und hauchte einen Kuss in Richtung Frosch. Nichts! Kein Prinz! Der Frosch blieb, was er war: klein, grün, frech. Schelmisch grinsend kletterte er geschwind die kleine Leiter hinab. Auf halber Strecke hielt er an. "Dein Anblick, Liebste, trübt den Sinn. Fast hätt‘ ich vergessen, wozu ich aufgebrochen bin. Das Schicksal trieb mich zu dir hin, knapp ist die Zeit bemessen." Er nestelte an seinem rot-blau-karierten Rucksack, öffnete ihn umständlich und kramte eine Weile angestrengt darin herum. "Nimm diese Kugel, liebste Maid. Ich hab' sie schon so lang‘, ich kam, sie dir zu schenken. Tu, was du musst und sei bereit, das Schicksal wird dich lenken." Er holte aus, wobei die Leiter bedenklich ins Schwanken kam, und warf ihr ein goldenes Bällchen zu. "Du schöne Maid, vergiss mein nicht! Es gibt kaum Frösche noch wie mich!"

Eva, nicht darauf gefasst, verfehlte die kleine Goldkugel um Haaresbreite. Glücklicherweise war der See wieder verschwunden, und so plumpste sie in das flache, wieder trockene Becken, wo sie zu Goldstaub zerfiel. Eva spitzte die Lippen, holte tief Luft und pustete einmal kräftig. Der goldene Staub wirbelte hoch, flog davon und in der Mitte des Beckens glitzerte die verlorengegangene Kette. Eva klappte mehrmals hintereinander ihre Augen auf und zu. Alles noch da! Kein Spuk! An der Kette hing eine Perle, die pulsierte als sei sie lebendig, erst wenig nur, dann immer kräftiger, bis der seltsame Glanz schließlich Evas Herz erreichte und ihr die Erfüllung eines Wunsches versprach. Irgendwo in der Ferne bellten Hunde. Schmerzgepeinigt hielt Eva sich eine Hand an den Kopf, und angelte mit der anderen Hand nach der Kette. Unglücklicherweise verhakte sie sich an einem Mauervorsprung und als Eva daran ruckte, ging die Kette entzwei. Gleich darauf quälten tausend spitze Nadeln ihr Gehirn; allmählich hatte sie genug von den schmerzlichen Angriffen auf ihren Kopf. Mit fahrigen Fingern sammelte sie die beiden Anhänger auf.
"Die Perle! Gib mir die Perle! Jetzt sofort!" Halb blind vor Schmerz stolperte Eva zum Steinquader und drückte die Perle, die wie Feuer brannte, in eine kalte Hand. Nichts geschah, doch zumindest die Kopfschmerzen waren weg. Die Hunde kamen näher und veranstalteten einen Höllenlärm. Eva hielt sich gequält die Ohren zu. Da fuhr ein stahlblauer Blitz durch die Zeit und sorgte für Ruhe. Eva hielt gespannt den Atem an. Es schien endlich loszugehen! Mit einem Mal duftete es paradiesisch und die Luft flimmerte wie an heißen Sommertagen. Blaue Seifenblasen schwebten herbei, zerplatzten direkt über der liegenden Gestalt. Ein leichtes Beben durchlief sie, ein Finger zuckte, ein erster Atemzug bewegte ihren Brustkorb und flatternd öffneten sich die Augenlider. Sie zuckte mit Armen und Beinen, rollte sich auf die Seite und setzte sich ungelenk auf. Unterirdisch schöner Gesang ertönte. Eine Art heiliges Entzücken überschwemmte Eva mit unbändiger Macht. Sie grinste beseelt vor sich hin, kurz davor, sich einlullen zu lassen, kurz davor, an Ort und Stelle einzuschlafen. "Hier?" schrie entsetzt ihr Verstand. "Jetzt ist aber Schluss mit dem Unsinn!"
Eva betrachtete nachdenklich die zerbrochene Kette, an der ein rautenförmiger Stein hing. Beides wurde offensichtlich nicht gebraucht. Auch sie war offensichtlich überflüssig geworden. Wortlos hob sie zum Abschied die Hand und wandte sich zum Gehen. Das Traumpaar, vollkommen mit sich selbst beschäftigt, nahm keinerlei Notiz von ihr. Das kommt davon, wenn man sich mit verzauberten Untoten einlässt, dachte sie eingeschnappt. Und während sie so dachte, fiel ihr ein, dass sie fast etwas vergessen hätte.
"Was ist mit meinem Lohn?" fragte sie laut und deutlich. "Ich will meinen Lohn!" widerholte Eva. "Das Küchenmädchen bekam seinen Lohn! Ich will auch einen Lohn! Meinen wohlverdienten Finderlohn!" Wie ein kleines Kind stampfte sie wütend mit dem Fuß. Es war ihr sehr ernst.
Michael öffnete seinen Geist und Daira lobte ihn augenzwinkernd. Ein Glücksstern und ein Geheimnis: Er hatte klug gewählt. Es war nun an Daira, sich um die Verwirklichung zu kümmern.
Die Hunde bellten nun laut und bedrohlich, sie mussten ganz nahe sein. Eva kümmerte sich nicht darum, schließlich war es nur eine Merkwürdigkeit unter vielen. Eine unterirdische Fuchsjagd, vielleicht?
"Die Höllenhunde kommen!" flüsterte Daira tonlos und wurde blass, sehr blass sogar. "Die Höllenhunde des Schattenmeisters!" Unermüdlich waren sie der Kette über die Jahrhunderte hinweg auf der Spur geblieben! Sie atmete heftig aus und ein, versuchte sich zu beherrschen und sich den Kreaturen zu stellen. Doch umsonst, es wollte ihr nicht gelingen. Die Angst vor den Bestien war zu groß. Handlungsunfähig hing sie in Michaels Armen und starrte mit schreckgeweiteten Augen auf die bedrohlich knurrenden und zum tödlichen Sprung bereiten schwarzen Höllenhunde.
Eva betrachtete verblüfft die schwarzen Irrwische, die um wild um sie herumsprangen und nach der Kette in ihrer Hand schnappten. Wo kamen die denn her? Lauthals lachend, äußerst angemessen in dieser Situation, hielt sie den jaulenden Kötern die Kette wie ein Stück Wurst vor die Nase, darauf achtend, außer Reichweite der kleinen Schnauzen zu bleiben. Sie konnte nicht aufhören zu lachen. Sie lachte Tränen und hielt sich den Bauch.
"Pudel! Kleine schwarze Pudel! Ich glaub das nicht! Nervöse kleine Pudel! Ich fass' es nicht! Das gibt es nicht! Das sind doch keine Höllenhunde, dass ich nicht lache, das sind kläffende Pudel, nichts weiter!" Sodann geschah ein weiteres Wunder: Mitten im Sprung lösten sich beide Pudel auf, waren einfach weg. Evas Lachen hatte den Zauber gebrochen.
"Nicht doch, nicht doch! Ist alles in Ordnung! Das waren doch nur Pudel, vor denen muss man sich nicht fürchten, nicht wirklich jedenfalls," redete Eva begütigend auf Daira ein, die wie Espenlaub zitterte und immer noch blass und handlungsunfähig in Michaels Armen hing. "Hier, die Kette, sie haben sie nicht gekriegt."
Es dauerte noch einen Moment, bevor Daira sich so weit gefasst hatte, dass sie damit weitermachen konnte, wobei sie unterbrochen worden war. Doch schließlich war nach einem zackigen Fingerschnippen alles zu ihrer Zufriedenheit geregelt. Lachend neigte sie sich zu Eva und flüsterte ihr vertraulich ins Ohr: Es war ein gutes Geheimnis. "Auch einen Glückstern sollst du haben“, fuhr sie laut fort. „Hüte ihn gut und er wird dir helfen, alles zu verstehen, das scheint mir in diesem Fall ganz sinnvoll." Sie streckte sich zur Decke und pflückte einen Silberstern, der erwartungsgemäß grau und unscheinbar in Evas Hand glitt. "Einen Glücksstern, der alle Wünsche erfüllt, kann ich leider nicht hervorzaubern, sowas gibt's doch nur im Märchen, doch glaube mir, letztendlich wird alles gut werden, hab nur Geduld!" Die letzten Töne der Sphärenklänge verloren sich in der Ewigkeit. Die blauen Nebelschwaden sanken zu Boden, es wurde dunkler. "Nun wird es Zeit für dich zu gehen. Eil' dich und verlass' den Weg nicht, ein Schatten ist erwacht und schwarze Witwen lauern im Verborgenen."
Dann wurde es stockdunkel. Der Vorhang war gefallen, die Vorstellung zu Ende. Eva schaltete die Taschenlampe ein und machte sich auf den langen Weg zurück in die Wirklichkeit. Die orakelhaften Worte beherzigend, kam sie nicht vom Weg ab, sondern landete wohlbehalten in ihrem Zimmer. Sie brauchte jetzt dringend die Dusche. Das heiße Wasser spülte nicht nur die Kälte fort, sondern auch jegliche Erinnerung an Frösche, Feenzauber und Finderlohn. Wohlig aufgewärmt kuschelte sie sich ins Bett und schlief den Rest der Nacht tief und fest und ungestört.

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