Kapitel 29

Vince verstand die Welt nicht mehr! Was hatte das alles zu bedeuten? Eine Intrige, so wie der Koloss behauptete? Doch was wusste der? Der hatte sich sicher nur aufgespielt mit seinem Gequatsche von den richtig berühmten Bands. Doch was könnte es sonst gewesen sein. Warum nur? Und vor allem, wer? Keiner würde ihm diese Geschichte glauben. Rotkäppchen mit vergifteten Äpfeln! Das gab's noch nicht mal im Märchen! Er lachte bitter und bedachte kritisch seine Lage. Ziemlich aussichtlos. Er hatte einen denkbar schlechten Eindruck gemacht und bestimmt waren alle reichlich wütend auf ihn. Was würde Eva von ihm denken? Würde sie ihm glauben? Bestimmt nicht!
"Hey!" rief er Gustav Schubert zu, der gerade vorbeihuschte. "Bitte!" zwang er sich hinzuzufügen, "Ich hab' meinen Ausweis verbummelt! Die lassen mich nicht durch! Können Sie nicht ...?" Gustav Schubert sagte nichts, doch sein Blick sprach Bände. Doch dann nickte er den Ordnern zu.
Vince huschte schnell zwischen ihnen hindurch und machte sich auf die Suche nach Eva. Sie musste doch hier irgendwo sein. Sie musste! Eva! Eva! Eva! trommelte es im Takt mit dem Lied der anderen Band. Gar nicht schlecht, dachte er, gar nicht schlecht. Warum? Warum? Warum? Wie kam es, dass Eva Schlagzeug spielen konnte? So wie sie gespielt hatte, konnte sie sich das nicht irgendwie auf die Schnelle angeeignet haben. Sie war ein Profi, ganz klar. Wieso wusste er nichts davon? Warum hatte er nichts davon bemerkt? Es war eine Verschwörung gegen ihn im Gange! Ja, das war's! Rotkäppchen mit dem Apfel hatte ihn außer Gefecht gesetzt! Irgendjemand hatte offensichtlich ein Interesse daran gehabt, dass er spieluntüchtig war. Aber warum? Vor allem: wer? Wer mochte so eine Verschwörung wohl angezettelt haben? Eva? Nein! Unmöglich! Das durfte nicht sein!
Die anderen, die nichts von seinen düsteren Vermutungen ahnten, beachteten ihn nicht weiter, sondern alberten fröhlich herum und freuten sich darüber, dass letztendlich alles so hervorragend geklappt hatte.

"Na? Alter! Hast Du Dich wieder erholt? Kommst Du auch mit? Du weißt doch, die Brauereiparty! Du kannst ja Wasser trinken, wenn's noch nicht wieder geht. Kopfschmerztabletten gibt's da bestimmt auch. Und was zu futtern! Mann, hab ich einen Hunger!" Peter mit dem großmütigen Herzen hatte ihm längst verziehen. "Also, komm mit, gibt keinen Grund zu schmollen. Sowas kommt in den besten Familien vor!"
"Na, ich weiß nicht," antwortete Andreas stattdessen. "Wer nicht arbeitet und schon vorher trinkt, braucht auch nicht feiern ... Ha! Ha! Ha! Na los, steig schon ein. Su und Marco sollen noch ein bisschen zusammenrücken. Wir fahren jetzt jedenfalls. Wo Alexander steckt weiß ich auch nicht. Der ist bestimmt mit Eva zusammen ... Ha! Ha! Ha!! Aber die beiden wollten auf alle Fälle kommen."
Vince war erschüttert: Eva und Alexander. Damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet. War er womöglich zu spät gekommen? Nein, das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein!

Marianna saß auf den Stufen des Wohnwagens und trank entspannt den ersten Kaffee des Tages, der nicht kalt wurde. Für die Koordination der Abräum- und Aufräumarbeiten war sie nicht mehr zuständig. Feierabend! Wohlig seufzend schloss sie die Augen. Ohne ihr Zutun näherten sich ihre Gedanken Alexander. Konzentriert und gleichzeitig losgelöst hatte er während des Auftritts hinter dem Keyboard gestanden, völlig hingegeben an sein Spiel. Diese Hingabe, die sie in seinem Gesicht entdeckt hatte, ließ ihr Herz im Nachhinein schmelzen. Die Augen von innen heraus strahlend, das Gesicht geprägt von feierlichem Ernst, so hatte er auch sie schon angesehen. Sie musste zugeben, dass es schon sehr aufregend war, so angesehen zu werden. Vielleicht sollte sie ihn doch näher kennenlernen. Vielleicht war er ja mehr als nur ein superromantischer Jüngling mit reichlich antiquierten Vorstellungen. Vielleicht ... Quatsch, ermahnte sie sich selbst, lass die Finger weg, das gibt nur Ärger. Hätte er sie nicht mit seinen überzogenen Liebeserklärungen überfallen, hätte sich daraus ein lockeres Verhältnis entwickeln können. So aber hatte sie absichtlich alle Gelegenheiten gemieden, wo sie ihn möglicherweise hätte treffen können. Nicht dass es da allzu viele Gelegenheiten gegeben hätte, aber sie wollte schließlich nicht als grausame Herzensbrecherin dastehen. Vielleicht ... So, so, sieh mal einer an, dachte sie und schmunzelte. Es geht also los.
"Sie haben das Schlimmste ja hinter sich", schreckte sie eine Stimme auf. "Sie kommen doch auch zum Empfang? Bei mir wird es leider noch eine Weile dauern, bis ich hier fertig bin. Wollen Sie dort auf mich warten? Dann können wir zusammen auf den Erfolg anstoßen. Die Gräfin wird sehr zufrieden sein mit unserer Arbeit."
"Oh, Herr Schubert!" antwortete Marianna und lächelte ihn freundlich an. "Klar warte ich auf Sie. Die Videoclips werden sehr erfolgreich sein. Bis später dann! ... Äh, falls Sie zufällig Alexander, den Keyboarder von „cashflow“, Sie wissen doch wen ich meine?" Schubert nickte und Mariann überging ihr eigenes Unbehagen und sprach schnell weiter. "Also, wenn Sie ihn sehen, können Sie ihm dann ausrichten, dass ich hier auf ihn warte?"
"Selbstverständlich", erwiderte er. "Wir sehen uns dann später!"
Unruhig stand Marianna auf und folgte ihm gedankenlos zu der Reihe von Lastwagen, die zwischen Bühne und Bürowagen geparkt waren. Das eigenartige Kribbeln in der Magengrube ließ sich kaum noch ignorieren.
"Nein, ich will sie nicht sehen!" hörte sie Alexanders trotzige Stimme.
"Nun, diese Antwort dürfte Frau Meinhardt nicht gefallen", gab Schubert zu bedenken. "Sie wird schon einen Grund haben, warum sie Sie sprechen will. Gehen Sie nur schnell zu ihr, wer weiß, vielleicht hat ja eine Plattenfirma angerufen." Damit ließ er Alexander stehen und lief schnell weiter; er wurde an der Bühne erwartet. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte es ihn sicher brennend interessiert, ob oder was zwischen den beiden war.

"Was ist los? Warum willst Du mich nicht sehen?" schnauzte sie ihn laut an, während sie zwischen zwei Lastwagen hervortrat. Sie hatte nicht so barsch sein wollen, doch die Empörung über sein Verhalten trieb sie dazu. "Ich habe mit Dir zu reden.!"
"Was willst Du von mir? ... Es gibt zwischen uns nichts ... zu besprechen," presste er mühsam hervor und sah zu Boden.
"Nun, du bist schön und begehrenswert, mein Kleiner", stellte sie mit weicher Stimme fest, und sah ihn an, als sehe sie ihn zum ersten Mal.
"Das ist mir egal, damit Du's nur weißt!" fuhr er Marianna böse an. "Und ... und ... 'Dein Kleiner bin ich schon gar nicht!"
In seinem fuchsigen Aufbegehren sah er so entzückend aus, dass Marianna an sich halten musste, um nicht auf der Stelle über ihn herzufallen. Ein amüsiertes Lächeln spielte um ihre Lippen, als sie ihn fest am Handgelenk packte.
"Fass mich nicht an!" keifte Alexander, den ihre Berührung getroffen hatte wie ein elektrischer Schlag. Er spürte, wie sich sein Körper verkrampfte und trat einen Schritt zurück. "Ich mag das nicht!" fauchte er aufgewühlt weiter und versuchte, ihre Hand abzuschütteln.
"Aber, aber ... Dir hat es doch früher gefallen", spöttelte sie angesichts seiner empörten Miene. Sie hielt ihn weiterhin fest und streichelte mit der anderen Hand sanft über seinen Nacken. Merkt er denn gar nicht, was er mit mir anstellt?

Alexander spürte, wie er rot wurde, als sie ihn unverhohlen musterte. Sie hat kein Recht, mich so anzusehen! Ehe er wusste, wie ihm geschah, zog sie ihn eng an sich. Alexander schloss die Augen, konnte kaum sein Zittern unterdrücken. Er war wütend darüber, dass sie ihn ertappt hatte. Sie hatte ja so recht! Sein Körper wartete auf sie. Sanft berührte sie mit den Fingerkuppen seinen Mund. Er hörte, wie Marianna die Luft durch die Zähne einzog. Als Alexander aufblickte, entdeckte er einen eigenartigen Ausdruck in ihren Augen. Dieser Ausdruck hinderte ihn daran, blindlings davonzulaufen um ihrer betörenden Nähe zu entfliehen. Ihr Lächeln war so liebevoll, dass er es vor Verwunderung kaum fassen konnte. Sie liebt mich, jubilierte sein gutgläubiges Herz. Ein warmes Gefühl stieg in ihm auf. Ein scheues Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. Rückhaltlos schmiegte er sich an sie.
Dies war Marianna Einladung genug und sie küsste ihn sanft auf den Mund. Sie war nahe daran, die Beherrschung zu verlieren, als sie seine Reaktion spürte. Mit spitzen Lippen küsste sie die empfindsamen Stellen an seinem Hals. Sein Atem ging schneller und Marianna registrierte mit Genugtuung, wie er erschauderte. Wieder hatte sie ihn erfolgreich in ihren Bann gezogen.
"Wenn ich jetzt versuchen würde, mehr von Dir zu verlangen als nur Küsse, wie würdest Du dann reagieren, Alex? Sag es mir! Bitte!" Mühevoll beherrschte sie Stimme und Hände.
"Vielleicht ..." er zögerte kurz, bevor er etwas verschämt weitersprach. "Vielleicht ... wie andere Männer auch!"
Ein Pulk Arbeiter drängelte sich laut redend an ihnen vorbei. Marianna reagierte schnell. Sie zog ihn hinter sich her, hinter den Bürowagen, wo ein kleiner Park anfing. Sie gelangten auf Anhieb an ein lauschiges Plätzen.
"So!" sagte sie lächelnd und streichelte ihm das Gesicht. "Hier sieht uns keiner! Wir können weitermachen, wo wir unterbrochen wurden." Ohne eine Antwort abzuwarten, zog sie ihn an sich, küsste ihn und schob ihre Hände unter sein T-Shirt.
Alexander zitterte und bebte und war nahe daran, ihrem Drängen nachzugeben, als sich seine Vernunft meldete. "Bitte nicht! Marianna! Bitte tu's nicht!" flüsterte er mit erstickter Stimme. "Es ... es hat keinen Sinn!" Ruckartig machte er sich frei und stopfte umständlich sein T-Shirt in die Hose.
"Alex! Bitte!" flehte sie, ihren ganzen Stolz vergessend. "Geh nicht!"
"Marianna!" entschlüpfte es sehnsüchtig seinen Lippen und unbedacht sah er ihr in die Augen. Ihre Blicke versanken ineinander und er kapitulierte. Marianna näherte sich aufreizend langsam seinem sich bereitwillig öffnenden Mund und erweckte mit begehrlichen Küssen seine volle Leidenschaft. Nichts mehr stand zwischen ihnen. Alexander streichelte andächtig ihr Gesicht, bevor er seine zitternden Hände unter ihr Hemd gleiten ließ.
"Oh! Marianna!" stieß er feurig hervor, als sie seine Jeans aufknöpfte.
"Willst du mich?" fragte sie flüsternd dicht an seinem Ohr.
"Ja! Ja! Ja! Ich will Dich! Nur Dich! Immer nur Dich!" hauchte er verzückt und zu allem bereit, denn ihm war, als stünde sein Körper in Flammen. Er war bereit, alles zu vergessen, alles zu tun. "Ich liebe Dich! Schon immer ... für immer!" sprudelte es überschwänglich vor Glück und rasend vor Verlangen aus ihm heraus. Er vertraute ihr, liebte sie und war nur allzu gern bereit, ihr alles zu geben und bis zum Letzten zu gehen. (Das hat sie ja wieder mal fein hingekriegt.)

"Frau Meinhard! Frau Meinhard, wo sind Sie? Frau Meinhard, sind Sie hier noch irgendwo?" holte eine Stimme sie zurück.

"Verdammt! Der Schubert ..." nur widerstrebend löste sie ihre Lippen von Alexanders süßem Mund. Doch dann dauerte es nicht einmal eine Sekunde, bis sie wieder auf dem Boden der Tatsachen angekommen war.
"Marianna!" Er kam nicht mehr weiter, schluckte schwer und sah sie hilflos an.
"Was ist?" Sie bemühte sich um ein verständnisvolles Lächeln und sah verstohlen auf die Uhr. (Wie ist sie doch schrecklich!)
"Wir hätten das nicht tun dürfen ..." Alexanders Herz klopfte fühlbar und sein Pulsschlag dröhnte ihm laut in den Ohren.
"Alex! Wir leben doch nicht im Mittelalter! Warum sollen wir denn nicht zusammen sein?" Sie war hinlänglich erschüttert. Nicht schon wieder diese Tour! Klar, dies war weder der richtige Ort noch die richtige Zeit ... doch was soll's?

"Frau Meinhard, wo sind Sie?" rief er erneut.

"Weil ..." war seine tiefgründige Antwort und seine Augen schimmerten verdächtig. "Es hat keinen Sinn!"
"Wird‘ jetzt bloß nicht theatralisch. Ich hab' kein Verständnis für solche Spielchen", antwortete sie unwirsch, gleichermaßen ungehalten über Alexanders Benehmen als auch über die Störung. Sie konnte zwar nicht behaupten, dass sie Alexander liebte, doch sie hatte sich ein wenig in ihn verliebt. Was wollte er denn noch? "Ich muss jetzt geh'n, die Arbeit ruft." Sie küsste ihn flüchtig, zog ihr Hemd zurecht, fuhr sich mit beiden Händen durch's Haar und ging davon. "Bis gleich ..."
Alexander war den Tränen nahe. Er verstand einfach nicht, was zwischen ihnen geschah. Sie hätte wenigstens auf ihn warten können. Nach einigen Sekunden wirren Nachdenkens glaubte er jedoch zu wissen, warum sie es so eilig hatte. Sie wollte sich nicht mit ihm sehen lassen. Ganz klar! Er war nichts weiter als ein Spielzeug, von dem niemand erfahren durfte! Es hatte doch alles keinen Zweck! Grimmig verwünschte er sich dafür, dass sein willensschwacher Körper ihrer Verführung nachgegeben hatte. Und er verwünschte sich dafür, dass er sich schon wieder zu einer Liebeserklärung hatte hinreißen lassen. Er hätte seinem ersten Impuls folgen und weggehen sollen. Wie musste sie doch über ihn lachen! Er ordnete seine Kleider und spähte zum Bürowagen. Dort stand Marianna und nichts war ihr anzumerken. Perfekte Geschäftsfrau durch und durch, debattierte und lachte sie mit diesem Schubert. Sie lachte nicht nur, nein sie flirtete sogar mit ihm! Es würde ihm eine Lehre sein, nochmals würde er nicht auf sie hereinfallen. Er hatte sich leichtsinnig auf dünnes Eis begeben und war jämmerlich eingebrochen. Aus! Schluss! Vorbei! Mit blutendem Herzen machte er sich auf den Weg zur Bushaltestelle. Keine zehn Pferde würden ihn auf diese blöde Party bringen. Was sollte er da auch? Nochmal Marianna begegnen? Nichts da!

"Hey, Alex! Komm her, Du kannst hier mitfahren!" Alexander sah vom Boden auf; er konnte sich gar nicht daran erinnern, zur Straße vorgelaufen zu sein. Links von ihm stand mit laufendem Motor ein Auto, aus dessen Fenster Eva herauswinkte.
"Hier ist noch ein Platz frei. Die beiden fahren zur Party." Alexander schüttelte störrisch seinen Kopf. "Quatsch! Sei nicht kindisch! Das ist keine Frage von Lust oder Unlust. Das ist keine Party, sondern eine gesellschaftliche Verpflichtung. Da muss man hin. Glaub mir, ich kenne mich da aus. Außerdem müssen wir auf alle Fälle auf unseren Erfolg anstoßen."
Da konnte er nicht nein sagen, und kindisch sein wollte er auch nicht sein, also stieg er ein.

weiter
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