Kapitel 3

Die Party war in vollem Gange. Vince musterte mit Kennerblick die Anwesenden, legte einen Arm um Alexanders Schulter, machte mit dem anderen eine ausholende Geste und erläuterte ihm enthusiastisch, warum gerade die Einladung zu dieser Party eine so überaus große Bedeutung für ihre Band hatte: „Die Gastgeberin ist in der Werbung und hat Verbindungen zur Musikbranche! Sie kann uns garantiert weiterbringen. Ganz bestimmt! Sie sucht händeringend nach einer Band, das hat sie mir ganz im Vertrauen erzählt, Du musst wissen, sie braucht eine Band für einen VideoClip! Und das sind wir! Genau! Ist das nicht genial?" Er sah Alexander bedeutungsvoll an und dieser nickte sofort brav, er konnte gar nicht anders, als Vince‘ Geschäftstüchtigkeit unverhohlen zu bewundern. Vince wirkte zufrieden wie eine Katze, die den Sahnetopf leergeschleckt hatte. "Und deshalb musstest Du unbedingt mitkommen, damit sie gleich noch jemand aus der Band kennenlernen kann!" (... und damit mir keiner dazwischenfunkt.) Vince, der sich von seinen gedanklichen Gemeinheiten nicht weiter beirren ließ, lachte fröhlich und selbstbewusst. "Sag mal“, fuhr Vince fort, "hast Du dieses Pferdchen noch? Wenn Du es nicht behalten willst, würde ich ... es haben wollen. Gibst Du es mir?"
"Wie? Du willst das Spielzeugpferdchen haben?" Alexander sah ihn einen Augenblick erstaunt an, bevor er es hervorkramte und in die ausgestreckte Hand von Vince legte. "Nimm es ruhig, ich brauche es nicht und wenn es Dir gefällt, dann behalte es nur. Vielleicht bringt es ja Glück. Es lag schließlich neben Deinem Motorrad!"

Vince schob Alexander vor sich her durch das Gedränge bis zur Küche. Alexander blieb an der Tür stehen, Vince drängelte ein wenig weiter und drückte gleich darauf Alexander ein mit Wein gefülltes Saftglas in die Hand. Sie prosteten sich zu, doch Vince trank nicht, sondern deutete wedelte aufgeregt mit dem Zeigefinger.
"Da! Da drüben! Das ist sie! Das ist sie!" schrie Vince ihm begeistert ins Ohr und stürzte mit einem verräterisches Funkeln in den Augen davon. Das Jagdfieber hatte ihn gepackt.
Alexander wusste seltsamerweise sofort, wen Vince gemeint hatte. Er hätte es auch gewusst, wenn dieser nicht so um sie herumgeschwirrt wäre, wenn er sie nicht so gekonnt angebaggert hätte. Die Kombination von Geschäft und Vergnügen schien ihn ungemein anzuspornen. Er sprühte geradezu über, und sie schien davon sehr angetan zu sein. Mühsam unterdrückte er einen Schrei. Noch während er überlegte, wo er sie schon einmal gesehen hatte, erwachte schlagartig giftgrün und ätzend ein ihm gänzlich unbekanntes Gefühl. Was war das? Die beiden unterhielten sich glänzend, und sie lachten laut. Alexander begriff nicht, was mit ihm geschah. Und wieder fühlte er etwas, was er bisher noch nicht gefühlt hatte. Eine schillernde Seifenblase explodierte in seinem Gehirn und sandte flirrende Kristalle durch seinen Körper. Es kribbelte sogar in den Zehen, und er fühlte sich mit einem Mal ungemein lebendig, mehr als jemals zuvor in seinem Leben. Was war das?
"Geh hin! Geh zu ihr! Schnell!" sangen die schillernden Kristalle und flitzten wild umher, doch er war unfähig, auch nur einen Finger zu bewegen.
Eine ziemlich dicke, ziemlich blonde und ziemlich auffällig gekleidete junge Frau, die neben Marianna stand, beobachtete Vince' Bemühungen betont gelangweilt. Als sich ihre Blicke zufällig kreuzten, ein wenig verwunderlich, den sie starrten beide in dieselbe Richtung, bedachte sie ihn völlig unerwartet mit einem freundlichen Lächeln. Es war ein Lächeln, das hervorragend zu den vielen bunt glitzernden Ketten und Ringen passte, mit denen sie sich geschmückt hatte. Alexander lächelte verlegen, aber tapfer zurück, richtete jedoch gleich darauf sein Augenmerk wieder auf Vince und Marianna, die ein fabelhaftes Paar abgaben. Bedrückt sah er an sich herunter und Vince' Worte kamen ihm in den Sinn. Wie recht hatte der Freund doch gehabt! Zwischen all diesen fremden Menschen, die mehr oder weniger herausgeputzt waren, fühlte er sich wie das sprichwörtliche hässliche Entlein. Er war sich in diesem Moment ganz sicher, dass aus ihm niemals ein stolzer Schwan werden würde. Enttäuscht wandte er sich ab und beschloss, sofort nach Hause zu gehen. Doch zu spät! Vince, Marianna und die Blonde steuerten direkt auf ihn zu. Er wäre am liebsten im Erdboden versunken, ihm wurde die Luft knapp und sein Herz raste wie verrückt. Da lächelte Marianna ihm nichtssagend zu und in Alexander wurde es still.
"Hey Alex!" rief Vince und fuchtelte unprofessionell lebhaft mit den Armen. "Das sind Marianna und Eva." Galant verbeugte er sich ein wenig vor seinen Begleiterinnen und stellte großspurig seine weltmännischen Höflichkeitskenntnisse unter Beweis. "Meine sehr verehrten Damen, darf ich Sie mit 'Alexander dem Großen' bekannt machen, unserem berühmten Komponisten, der treibenden Kraft unserer Band." Vince verbeugte sich ein zweites Mal, tief und schwungvoll, diesmal vor Alexander, dessen Wunsch, in den Erdboden zu versinken, ins Unermessliche stieg. "Echt wahr! Das könnt Ihr mir schon glauben! Ist kein Scherz! Er schreibt jedenfalls alle Songs, er hat echt was drauf, auch wenn er nicht danach aussieht ." Vince grinste breit und vielsagend und dachte nicht eine Sekunde daran, in welche Verlegenheit er seinen Freund gebracht hatte.Alexander biss sich auf die Lippen und sah gequält zu Boden. Marianna und Eva warfen sich unauffällig äußerst vielsagende Blicke zu.
"Ich muss Dir unbedingt noch ein anderes Demoband vorbeibringen," wandte er sich, als der gegenseitigen Vorstellung Genüge getan schien, wieder ausschließlich an Marianna. "Du wirst begeistert sein ..."
Marianna sah ihn aufmerksam an und lächelte geheimnisvoll. Vince würde nie erfahren, dass sie von Musik nichts verstand und auf Konzerten, welcher Richtung auch immer, mehr oder weniger zufällig landete.
"Komm', wir zwei holen uns jetzt was zu Trinken", schloss er unvermittelt seinen Vortrag und zog Marianna resolut mit sich fort.

Erschlagen von der selbstbewussten Fröhlichkeit, die gleichzeitig etwas Rücksichtsloses hatte, sahen Alexander und Eva dem Traumpaar hinterher. Beide waren erfüllt von bitterer Wehmut, die ein unerwarteter Verlust hinterlässt. Einen Moment lang waren sie vereint durch eine unbestimmte Traurigkeit, die ihre Herzen mit Raureif überzog. Das Schicksal hatte sie zu Verbündeten gemacht.
"Prost!" sagte Alexander unpassenderweise und zerriss damit das feine Gespinst, das sich um sie gelegt hatte. Eva nickte ihm freundlich zu, ließ ihn stehen und Alexander betrachtete das Glas in seiner Hand, als gäbe es nichts Interessanteres auf der Welt. Sein Unmut wuchs in dem Maße, wie sein Glas leer wurde. Zeit zu gehen! Hier vertrödelte er sie eindeutig völlig sinnlos. Nichts war so, wie es sein sollte. Er konnte es einfach nicht, er konnte einfach kein nichtssagendes und gleichzeitig wahnsinnig interessantes Gespräch mit jemandem beginnen. Er konnte noch nicht einmal 'Hallo' sagen. Um ihn herum tobte das Leben und er langweilte sich, was er jedoch niemals zugegeben hätte. Alle unterhielten sich bestens und selbst einem supercoolen Modern Junk Manager huschte dann und wann ein Lächeln über das Gesicht. Alexander fühlte sich mehr und mehr ausgeschlossen und ihm wurde immer unbehaglicher zumute. Niemand redete mit ihm. Niemand beachtete ihn. Um überhaupt etwas von dem Partyvergnügen gehabt zu haben entschloss er sich, vor dem Heimweg noch etwas zu essen. Schließlich war er schon vor dem Abendessen aufgebrochen.
In der Küche fand er in einem der Schränke noch einen unbenutzten Teller und auch einige der Salatschüsseln sahen noch ganz appetitanregend aus. Alles andere übersah er geflissentlich, schließlich wollte er sich den Appetit nicht verderben. Nachdem er aufgegessen hatte, stellte er seinen Teller auf einen schon gefährlich schwankenden Stapel im Spülbecken. Seine gute Erziehung vergessend nahm er noch einen großen Schluck direkt aus einer herumstehenden Weinflasche. Dann machte er sich auf die Suche nach Vince, um sich von ihm zu verabschieden. Er fand ihn (wie so oft) umringt von Frauen; auch Eva und Marianna standen mit in diesem Grüppchen und genossen seine geteilte Aufmerksamkeit. Er war völlig in seinem Element und brachte das erstaunliche Kunststück zustande, so zu flirten, dass sich keine von ihnen benachteiligt fühlte. Voller Bewunderung und ganz und gar nicht neidlos, sah Alexander dem Freund zu. Dann löste sich dieses Grüppchen auf, es bildeten sich neue. Manche waren schon im Gehen begriffen, andere kamen jetzt erst an. Laute Musik und Gesprächsfetzen prallten an sein Ohr. Da entdeckte ihn Vince, blinzelte ihm zu, und Alexander rechnete sicherheitshalber mit dem Schlimmsten. Da legte ihm Vince auch schon den Arm vertraulich um die Schulter legte. Was hatte er vor?
"Sag mal, Alex! Kannst Du nicht mal was vorspielen? Hier gibt es nämlich ein KLAVIER! Wäre doch nett! Marianna kennt nämlich noch gar nichts von uns und ..." - "Ein Klavier! Ein Klavier!" kreischten drei Mädchen im Chor. - " ...  das ist jetzt doch DIE Gelegenheit. Ist doch eine gute Idee! Meinst Du nicht? Na komm, mach schon, Du bringst das doch hervorragend! Ganz klar!"

Alexander wurde blass und alles in ihm sträubte sich gegen die Vorstellung, vor diesen vielen fremden Leuten zu spielen. Als er jedoch ehrliche Begeisterung in Vince' Gesicht entdeckte, wollte er den Freund auf keinen Fall enttäuschen. Ergeben fügte er sich in sein Schicksal und folgte ihm brav in die Zimmerecke, wo das Klavier stand.
"Mach mal einer die Anlage aus! Live hier und heute für die werte Gastgeberin!" brüllte Vince und diese fühlte sich natürlich sehr geschmeichelt. Andere wiederum fühlten sich bemüßigt, lauthals zustimmende oder ablehnende Kommentare von sich zu geben. Einige begannen zu klatschen, einige gingen aus dem Raum.
Alexander setzte sich auf dem Klavierhocker zurecht. Er klappte mit leicht zitternden Fingern den Deckel hoch und hoffte inständig, dass das Klavier nicht allzusehr verstimmt sein möge. Schon nach den ersten Takten versank er in seinem Spiel. Die Leute, die neugierig, gespannt oder auch genervt auf die Show Einlage gewartet hatten, waren vergessen. Als er aufhörte, klatschten alle begeistert, aber irgendjemand schaltete gleich darauf die Musikanlage wieder ein, so dass ihm keine größere Aufmerksamkeit zuteil wurde. Banausen! Alexander war verärgert, ein ganz klein wenig nur, denn die Erleichterung darüber, nicht mehr Gegenstand des allgemeinen Interesses zu sein, überwog bei weitem.
Zufällig schaute Marianna gerade in dem Augenblick zu ihm hinüber, als er dabei war, aufzustehen. Ihre Blicke trafen sich mit unerwarteter Wucht. Nicht nur Alexander verlor die Fassung, sondern in Marianna keimte eine Ahnung, von der sie nichts wissen wollte. Sicherheitshalber lächelte sie unverbindlich und zog dabei gekonnt eine Augenbraue in die Höhe. Alexander wurde flau in der Magengrube. Er ließ sich schwer auf den Klavierhocker fallen und verlor Marianna aus den Augen. Das Klavier im Rücken, die Hände vor der Brust verschränkt, fühlte Alexander sich einigermaßen sicher. Er sah die anderen an und bemühte sich, ein wenig angestrengt, genauso ungezwungen wie diese auszusehen. Von  seinem Standort aus hatte er einen guten Überblick und fand das Getümmel auf einmal ganz spannend. Dass er eigentlich im Begriff gewesen war nach Hause zu gehen, hatte er vergessen.

Er entdeckte Eva, die sichtlich entnervt im äußersten Eck eines Sofas saß, hingebungsvoll an einem Schokoladenriegel knabberte und ihr Bestes tat, um einen pickligen jungen Mann zu ignorieren, der pausenlos auf sie einredete. Neben den beiden lehnte ein extrem dürrer, ziemlich größer Mann träge an der Wand (schwarzer Anzug, schwarzer Krempenhut, dunkle Brille, Zigarillo im Mundwinkel). An seinem Arm hing ein Mädchen, das mit verschleiertem Blick zu ihm hochblinzelte, während ihre Hand in seinem Hosenbund verschwand. Sie trug ein schwarzes, durchsichtiges Kleid, und es war zu erkennen, dass sie darunter nichts trug. Es war eine filmreife Szene und Alexander sah peinlich berührt in eine andere Richtung.
Er entdeckte Vince, der ausgelassen mit Marianna tanzte, sie immer wieder an sich zog und dann und wann sogar küsste. Marianna schien es sich gern gefallen zu lassen. Die Eifersucht wütete und stach Alexander mit tausend glühenden Nadeln, doch er war außerstande, wegzusehen. Vince und Marianna! Das Schicksal jedoch hatte ein Einsehen mit Alexander. In Gestalt von Bettina, Vince' derzeitiger fester Freundin, griff es ein und vereitelte, was Vince und Marianna sich vorgenommen hatten.
Vince reagierte schnell und gelassen. Mit zerknirschtem Gesichtsausdruck und seinem berühmten Lächeln verabschiedete er sich von Marianna. Er hauchte einen Kuss auf seine Fingerspitze und strich ihr damit sacht über den Hals. Sie sagte nichts, doch damit hatte er auch nicht gerechnet. Mit federnden Schritten und perfektem Hüftschwung ging er von ihr weg. Wäre er dazu imstande gewesen, hätte Alexander jetzt schadenfroh gelacht.
    
"Mist" fluchte Marianna halblaut und drehte die Musik ein bisschen lauter und sah nicht hin, wie Vince mit einem langmähnigen, rothaarigen Vamp kurze Zeit später engumschlungen die Wohnung verließ. "Dann eben nicht!" Sie begann zu tanzen und konzentrierte sich ganz auf den wilden Rhythmus der Musik.
Alexander, der ohne Vince keinesfalls bleiben wollte, startete einen zweiten Versuch. Doch auch diesmal kam ihm Marianna dazwischen. Beim Hinausgehn warf er ihr unvorsichtigerweise noch einen letzten Blick auf sie. Er hielt inne und blieb wie angewurzelt stehen, außerstande, seine Augen abzuwenden. Die Welt um ihn herum versank. Er sah nur noch sie. Unwiderstehlich zog sie ihn an. Sie war eine Göttin, so wunderschön, so groß, so strahlend, und sie bewegte sich mit königlicher Eleganz. Sie war etwas Besonderes. Nicht nur er war von Mariannas außergewöhnlicher Ausstrahlung fasziniert. Ein Hüne von einem Mann, dessen Muskeln fast sein Hemd zu sprengen drohten, betrachtete sie mit raubtierhaftem Blick, und auch andere Männer lächelten ihr immer wieder aufmerksamkeitsheischend zu.  Sie war eine aparte Schönheit und besaß eine aufregende Weiblichkeit, die jedoch nicht unterwürfig wirkte. Die eindringlich graublauen Augen und die Form von Nase und Kinn, ließen auf Intelligenz und Durchsetzungsfähigkeit schließen. Ihre Bewegungen waren kraftvoll. Offensichtlich daran gewöhnt, Aufmerksamkeit zu erregen, trug sie die Avancen mit ungeheuerlicher Gelassenheit und würdigte keinen dieser Männer auch nur eines halben Blickes.
Alexander hätte den Rest seines Lebens damit zubringen können, Marianna anzusehen. Er war völlig überwältigt. "Steh auf! Geh hin! Geh zu ihr!" drängten die schillernden Kristalle in seinem Bauch. Doch er rührte sich nicht von der Stelle. es war ihm einfach nicht möglich. Und so gab er vor, vollauf damit zufrieden zu sein, mit dem, was er gerade tat und lächelte dann und wann versonnen vor sich hin. Wäre jetzt eine gute Fee vorbeigekommen, hätte er nicht gewusst, was er sich sonst noch hätte wünschen sollen.

Es wurde gelacht und lebhaft geredet, aber er hörte nichts. Er fühlte sich seltsam schwerelos, lehnte reglos mit dem Rücken an der Wand und sah Marianna an. Sein Mund war trocken und erinnerte ihn an seine banale Existenz. Wenn er nur ewig so hätte stehen können. Wenn doch nur eine Fee vorbeikäme. Doch keine Fee kam vorbei, sondern nur ein bärtiger Mann, der ihn anrempelte und ihn aus seiner Versunkenheit riss. Er nickte abwesend zu dessen flüchtig gemurmelter Entschuldigung. Es gab keine Entschuldigung. Der Zauber war gebrochen. Als hätte sie es gemerkt, warf Marianna den Kopf zurück. Ihr flammender Blick traf ihn mit voller Wucht und erneuerte den Bann. Alexander zuckte zusammen wie unter einem Peitschenhieb. Sein Herz hämmerte wild, das Blut rauschte in seinen Ohren und seiner Seele entstieg eine mysthische Vision. Er sah vor sich die märchenhafte Königin uralter Legenden, die zu Ehren der Liebesgöttin tanzte. Es war ein Tanz, der Alexanders Herz erbeben ließ und sein Blut in Wallung brachte.
Es war weit nach Mitternacht und die Party mehr oder weniger zu Ende. Man verabschiedete sich ausgiebig und stand sicherheitshalber noch ein wenig planlos herum, weil man keinesfalls riskieren wollte, etwas zu verpassen. Man schwatzte belangloses Zeug, trauerte vielleicht einem verpassten Flirt nach oder tauschte Telefonnummern. Schnell noch eine rauchen, Bier & Wein waren alle: Zeit zu gehen!  Alexander merkte nichts von alledem.

Sieh mal einer an, der kleine Klavierspieler, dachte Marianna amüsiert und ihre Züge wurden weich. Ein versonnenes Lächeln schmeichelte um ihren Mund, ohne dass sie es beabsichtigt hatte. Der spöttische Ausdruck ihrer Augen verschwand ohne ihr Zutun. Er sah so entsetzlich verlegen aus, dass ihr ganz warm ums kühle Herz wurde. Sein sinnlich geformter Mund weckte in ihr den Wunsch, ihn zu küssen und ihn zum Lachen zu bringen. Seine verträumten, brombeerdunklen Augen, die von langen, seidigen Wimpern umrahmt wurden, blickten scheu, verletzlich. Sie sah ihn an und tief in ihrem Inneren wurde jener Beschützerinneninstinkt geweckt, von dem sie in schlechten Liebesromanen gelesen hatte. In diesem Moment hätte sie zu Schwert und Schild gegriffen, nur um ihn vor jenen schrecklichen Dingen zu bewahren, die das Schicksal bereithielt.
Denkwürdige Ruhe umfing die beiden. Für eine lange Minute, die Ewigkeiten zu dauern schien, gab es nichts außer dem tiefen Blick, mit dem sie sich gegenseitig festhielten. Es war Marianna, die sich zuerst aus dieser traumhaften Vereinigung befreite und in die Gegenwart zurückfand. Langsam ging sie zu ihm.
Die Röte stieg Alexander heiß ins Gesicht, als Marianna mit der Geschmeidigkeit einer Katze auf ihn zukam. Sein Herz stand in Flammen, seine Verwirrung war perfekt; niemals zuvor hatte er so etwas erlebt. Scheu hob er den Kopf und verlor sich unversehens in ihren stahlblauen Augen. Ein heißer Schauer durchrieselte ihn als ihm bewusst wurde, welche Anziehungskraft diese Frau auf ihn ausübte.
"Komm! Ich möchte mit Dir tanzen!" Sie lächelte, ein wenig schelmisch, sicherheitshalber, denn sie wusste selbst nicht so genau, was das werden sollte. Wahrscheinlich schrecklich romantisch, antwortete sie ungefragt, hab' ich doch eben einen verwunschenen Traumprinz aus meiner Jungmädchenzeit entdeckt ... und dann ist er auch noch so herausfordernd schüchtern. Sie schmunzelte noch ein bisschen mehr und begutachtete ihn unverfroren. Dann nahm sie seine Hand und zog ihn mit.
Ihre Finger brannten wie Feuer auf seiner Hand. Was geschah mit ihm? Was sollte er tun? Dann ließ sie ihn los und verzerrte Töne erreichten seine Ohren aus weiter Ferne. Er hatte das Gefühl, eine Marionette zu sein, hölzern und ungelenk, ausgeliefert einem miserablen Spieler und lückenhafter Musik. Er traute sich nicht, vom Boden aufzuschauen.     Als ein langsames Lied kam, zog ihn Marianna ganz nah zu sich heran. Ohne darüber nachzudenken was er tat, legte Alexander automatisch seine Hände um ihre Taille und lehnte den Kopf an ihre Schulter. Er hätte den Rest seines Lebens damit verbringen können, so mit ihr zu tanzen, und er war froh, dass die Fee noch nicht dagewesen war. Jetzt sollte sie kommen, jetzt sofort, jetzt war er sich seines Wunsches ganz sicher. Innig sog er den berauschenden Duft ihrer Haut ein. Als ihn Mariannas Haare ein bisschen an der Nase kitzelten, musste er lachen.
"Was ist? Warum lachst Du denn?" fragte sie. Außerstande zu antworten, schüttelte er leicht den Kopf und schmiegte sich noch enger an sie. Als Marianna ihn zart auf die Wange küsste, war es um ihn geschehen. Heiß schoss etwas durch ihn hindurch, von dem er bisher nicht gewusst hatte, dass es überhaupt existierte. Ihre Finger, die sich an seinem Hals entlangtasteten und unter seinem Hemd verschwanden, jagten ihm Schauer des Entzückens das Rückgrat hinab. Sein Herz pochte rasend, und die Luft wurde ihm knapp. Ihre sanften Zärtlichkeiten waren etwas ganz Neues für ihn und er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte.
Gut, dass ich mich noch rasiert habe, kam ihm da plötzlich ganz unromantisch in den Sinn.
Seine Frisur ist unmöglich, dachte Marianna gleichermaßen unromantisch, und erst diese Klamotten, einfach entsetzlich.

Ein kurzes, aber umso lauteres Knacken ertönte in den Lautsprecherboxen, und Stille setzte sich aufdringlich im Zimmer fest. Langsam lösten sie sich voneinander. Alexander sah sich um, wie aus einem Traum erwachend. Sie waren allein im Raum. Fast allein; ein übriggebliebener Gast schnarchte mit offenem Mund auf dem Sofa. Benebelt sah er Marianna an und versank abermals in ihren Augen. Spontan nahm er ihre Hand und wünschte sich aber im nächsten Augenblick, er hätte es nicht getan. Die erregende Spannung, die zwischen ihnen herrschte, verstärkte sich dadurch noch. Erschrocken wollte er seine Hand zurückziehen, aber Marianna ließ nicht los, sondern hielt sie eisern fest.
Marianna besaß ein gewinnendes Wesen, blitzende Augen und verfügte über große Überzeugungskraft, wenn es darum ging, ihren Willen durchzusetzen. Sie war eine Frau von Welt und erfahren, und so war es kein Wunder, dass sie zügig den Weg in Alexanders Herz gefunden hatte. In ihren Augen lauerte ein Funken Teufelei, und ihre Art, sich abwechselnd sanft und gewinnend oder würdevoll und distanziert zu geben, hatte schon mehr als einen Mann betört. Sie hatte schon immer bekommen, was sie wollte. Diese Nacht würde Alexander in ihrem Bett verbringen. Kein Wunder also, dass Alexander sich mit der ganzen Kraft seines unschuldigen Herzens verliebte und ihr mit Haut und Haaren verfiel. Er ahnte nicht, worauf er sich einließ, und sie hütete sich, es ihm zu erzählen.
Heißes Verlangen stieg aus Alexanders Lenden empor und ihm wurde ganz flau. Er blinzelte um sich zu vergewissern, dass es sich um keinen seiner Träume handelte, sondern dass Marianna Wirklichkeit war. Mit beiden Händen umfasste sie zart seinen Kopf, zog ihn zu sich heran und hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn. Sie fuhr mit der Liebkosung fort und lächelte siegessicher, als sie mit dem Finger seinen Mund berührte. Die sinnliche Beschwörung dieser Geste ließ Alexander die Welt um sich herum vergessen. Alles, was er jetzt noch wahrnahm, war ihr Körper. Seine wachsende Erregung ließ ihn verschwommen ahnen, zu welch grenzenloser Ekstase sie ihn führen könnte. Ein Kuss von ihr würde es ihm unmöglich machen, jemals eine andere Frau zu lieben. Dessen war er sich sicher. Was geschieht nur mit mir? Plötzlich, erschrocken über sich selbst und seine Gefühle, versuchte er, sich halbwegs bestimmt aus der Umarmung zu lösen. Sie gab ihn sofort frei. Dankbar und erleichtert lächelte er sie an und trat einen kleinen Schritt zurück. Was geschieht nur mit mir? Dieser Gedanke ernüchterte ihn schlagartig. Seit Marianna ihn vor, wie es ihm schien, ewigen Zeiten mit ihrem Blick mitten ins Herz getroffen hatte, wusste er nichts mehr. Ihm war, als gebe es für ihn nichts Wichtigeres mehr auf dieser Welt. Er wollte sich an sie verlieren und in ihren abgrundtiefen Augen versinken. Er trat einen weiteren kleinen Schritt zurück, sah sie beklommen an und versuchte, dem Ansturm seiner Gefühle zum Trotz, einen klaren Kopf zu bewahren; doch vergeblich. Noch bevor er etwas sagen konnte, beendete sie entschieden seinen inneren Kampf und versiegelte seinen Mund mit einem langen Kuss. Es war ein Kuss, der Begierde weckte, die wie flüssige Lava durch seine Adern strömte. Er war bereit, sie gewähren zu lassen, bereit, ihren erfahrenen Händen auch das letzte Geheimnis seines Körpers preiszugeben. Da drängte mit Macht etwas hervor, was ihn ernüchtert innehalten ließ: Es durfte nicht sein!
Marianna begriff mit typisch weiblichem Einfühlungsvermögen deutlich, was Alexander plagte. Sie überging sein Zurückweichen galant, trat einen Schritt zurück und ließ ihn einen Moment verschnaufen, bevor sie abermals seine Hand ergriff. "Komm! Wir gehen jetzt in mein Zimmer, hören noch ein bisschen Musik und trinken noch was."
Ein Teil von Alexander hätte zwar am liebsten die Flucht ergriffen, doch der andere Teil war stärker, und so folgte er ihr bang. Was hätte er sonst auch tun sollen? Sein Körper war ihr zutiefst ergeben und sein Herz wusste, dass sie diejenige war, nach der er sich immer schon gesehnt hatte. Doch fühlte sie sie ebenso wie er?

weiter

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