Kapitel 37

Alexander öffnete geräuschlos die Haustür. Wie ein gebrechlicher Greis quälte er sich die Treppen zu seinem Zimmer hinauf. Ihm war so entsetzlich elend zumute. Jeder Schritt war eine Qual und doch nichts im Vergleich zu der Qual, die in seiner Seele wütete. Umständlich und mühsam entledigte er sich seiner Schuhe und verkroch sich, zitternd vor Leid, in seinem Bett. Wider Erwarten schlief er auf der Stelle ein, was ihm jedoch wenig nützte. Das Elend folgte ihm pflichtbewusst. Entsprechend unerquicklich war sein Schlaf, und entsprechend unerfreulich waren seine Träume.
Irgendwann weckten ihn leises Geschirrgeklapper und frischer Kaffeeduft und er verharrte einen wundersamen Augenblick lang in stillem Frieden. Doch viel zu schnell brach die Erinnerung an die vergangenen Stunden hervor.
"Oh Marianna!" flüsterte er schmerztrunken. Gleichzeitig wurde ihm schrecklich übel und gerade noch rechtzeitig gelangte er ins Bad.

Vertrauensvoll und ohne jede Erfahrung hatte er sich ihr hingegeben und geglaubt, sie müsse ihn schon allein deswegen lieben. Wie lange lag das schon zurück! Ewigkeiten, gemessen an den Qualen, die er seither durchmachte. Unendliches Leid hatte sie ihm gebracht, ebenso wie unendliche Seligkeit. Er schimpfte sich einen verdammten Narren und schwor sich, nie wieder an sie zu denken. Dieser Schwur fiel ihm, zumindest an diesem Sonntagmorgen, ausgesprochen leicht. Nie wieder würde er lachen können, nie wieder froh sein. Nie wieder! Und da ihm kein besserer Ort zum Weinen einfiel, stellte er sich unter die Dusche. Erst als keine Tränen mehr kamen, drehte er den Wasserhahn ab, fest entschlossen, einen endgültigen Schlussstrich zu ziehen, fest entschlossen, ihr dies jetzt sofort zu sagen, fest entschlossen, sie niemals mehr wiederzusehen. Als er hörte, wie seine Mutter nach ihm rief, zog er sich an, so schnell er es eben in seinem Zustand vermochte und ging mit schleppenden Schritten nach unten.

Elisabeth Grünberg war kurz vor Mitternacht eingeschlafen, obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, auf Alexander zu warten. Kurz nach sieben erwachte sie mit Kopfschmerzen. Sie ging geradewegs in die Küche, nahm eine Tablette, setzte Wasser auf und deckte den Frühstückstisch für drei Personen. Alexander würde bestimmt gleich heimkommen! Auf dem Weg ins Bad bemerkte sie sein Adressbuch, das aufgeschlagen neben dem Telefon lag. Ohne darüber nachzudenken, was sie im Betriff war zu tun, fuhr sie mit zitterndem Finger die Reihe der Namen entlang, blieb schließlich bei einem hängen und wählte die dazugehörige Nummer.
Der Hörer fiel ihr fast aus der Hand, als es im oberen Bad rumorte. Alexander war schon längst da! Mit hochrotem Kopf legte sie auf und ging in die Küche. Sie bereute zutiefst, übereilt gehandelt zu haben. Welcher Teufel hatte sie da nur geritten? Sie biss sich auf die Lippen und verdrängte energisch das soeben geführte Telefongespräch. Es war so peinlich! Was nun? Da ihr nichts Besseres einfiel, tat sie das, was sie jeden Morgen tat. Sie weckte Karl-Heinz, zog sich an und rief Alexander zum Frühstück. Er brauchte ja nie etwas davon erfahren.

Kreidebleich, dunkle Schatten unter den Augen, Kopf und Rücken gebeugt unter einer unsichtbaren Last, schlurfte Alexander die Treppe herab, an ihr vorbei und war offensichtlich nicht in der Lage, zu sprechen oder auch nur den Blick zu erheben. Er kam ihr vor wie ein Wesen von einem anderen Stern. Was war nur mit ihm geschehen? Sie sprach ihn wohlweislich nicht an, denn schon einmal war sie heute zu voreilig gewesen. Als Alexander den Telefonhörer nahm, schoss ihr das Blut ins Gesicht, wohl ahnend, wen er anrufen würde. Sie flüchtete in die Küche, wo Karl-Heinz gerade herzhaft sein Frühstücksei köpfte. Hier war die Welt wenigstens noch in Ordnung.

Alexander hörte Mariannas „Ja?" und vergaß alles, was er sich mühselig zurechtgelegt hatte. Er verwünschte sich und sie nicht weniger dafür, dass schon allein ihre Stimme ihn in einen derart heillosen Zustand versetzte. Er fühlte sich wie ein verschüchtertes Kind, das zum ersten Mal einem düsteren Knecht Ruprecht gegenüberstand. "Marianna ...!" flüsterte er, endlich aus seiner Erstarrung erwachend. "Ich will ... ich will Dir ..."
"Was willst Du denn? Weißt Du überhaupt, wie spät es ist?"
"Kurz vor neun", antwortete er automatisch, doch war diese Auskunft dazu angetan, ihm das Weitersprechen zu ermöglichen. "Ich habe was mit Dir zu besprechen!"
"Ja, ok. Mach's aber kurz ... Ich bin eben nach Hause gekommen und hundemüde. Ich will ins Bett. Und noch was: sei so gut und sag Deiner Mutter, dass sie nicht mehr bei mir anrufen soll, wenn sie auf der Suche nach Dir ..."

Alexander ließ das Telefon fallen, als hätte er sich daran verbrannt. Ewigkeiten starrte er auf das Telefon und war unfähig sich zu bewegen. Wie konnte ihn seine Mutter nur derart blamieren? Wie konnte sie ihm so etwas antun? Wie sollte er Marianna jemals wieder unter die Augen treten? Er hätte es sich sparen können, ihr sagen zu wollen, dass er sie nie mehr wiedersehen wolle. Er würde sie sowieso nicht mehr wiedersehen. Nicht nach diesem Vorfall! Zutiefst bestürzt stieg er schwerfällig die Treppen hoch und schloss die Zimmertür hinter sich ab. Er setzte sich aufs Bett, stützte die Ellbogen auf die Knie und nahm den Kopf in beide Hände.
Er wusste nicht, wie lange er so gesessen hatte, als ihm das penetrante Klingeln seines Mobiltelefons keine Ruhe mehr ließ. Ächzend erhob er sich, ein Fuß war eingeschlafen, und hinkte die Treppen hinab, so schnell es ihm eben möglich war. Es steckte noch in seiner Jackentasche. Aller Unwahrscheinlichkeit zum Trotz nahm er ab, bevor es aufhörte zu läuten.
Einsilbig beantwortete er Evas Fragen und es dauerte lange, bis er, zunächst ziemlich widerstrebend, in ihren Vorschlag einwilligte. Für ihn war alles, aber auch wirklich alles, so unglaublich schwierig, so unglaublich unüberwindlich, so unglaublich unerträglich ... und da verlangte Eva von ihm, dass er Koffer packen und verreisen solle. Unmöglich! Aber glücklicherweise war ein im verborgenen tätiger Teil seines Gehirnes in der Lage zu erkennen, dass Evas Vorschlag außerordentlich vernünftig war. Eva hatte recht! Eva hatte immer recht! Und mit einem Mal erwachten ein paar übriggebliebene Lebensgeister, so dass er sich nach einer Weile von ihrer Begeisterung anstecken ließ.

Zum Glück waren die Eltern mittlerweile zu ihrem allsonntäglichen Ausflug aufgebrochen, so dass er freie Bahn hatte und unbemerkt verschwinden konnte. Er hätte die Fragen der Mutter jetzt nicht ertragen, und schon gar nicht ihren Anblick. Fast schon zu euphorisch begann er mit seinen Reisevorbereitungen. Die Tasche war schnell gepackt, viel brauchte er ja nicht. Etwas länger dauerte es, seinen Reisepass zu finden.
Unversehens fiel ihm ein fest in blaues Reispapier gewickelter Gegenstand in die Hände. Er packte aus und schmunzelte. Es war eines dieser Ritterschwerter für Kinder, die es zur Faschingszeit zu kaufen gab: aus grauem Plastik, ziemlich leicht, ziemlich rund und innen hohl. In den Griff waren in dafür vorgesehenen Einbuchtungen blaue Papieredelsteine geklebt. Einer dieser Edelsteinattrappen war mehr als nur aufgeklebtes Papier. Aus welchem Material sie bestand wusste Alexander nicht, aber dieser Aufkleber erinnerte ihn in Form und Farbe an den Anhänger seiner Halskette. Das war wohl auch der Grund gewesen, warum er seinerzeit auf einem Flohmarkt einem kleinen Jungen dieses Schwert abgekauft hatte. Alexander hatte natürlich versucht, dieses eine Teil herauszulösen um dann den Rest dieses peinlichen Einkaufs in der Mülltonne verschwinden zu lassen. Aber es war ihm nicht gelungen. So war das Schwert schließlich ganz hinten in seiner Schreibtischschublade gelandet. Er wusste nicht warum, aber plötzlich schien es ihm ungeheuer wichtig, dieses olle Ding ebenfalls mitzunehmen. Nicht ohne eine gewisse Verlegenheit, stopfte er es nach ganz unten in die Tasche. Einige Minuten später nahm er es wieder heraus, fischte das zerknüllte Reispapier aus dem Papierkorb, packte das Schwert wieder ein, umwickelte das Päckchen mehrmals mit Paketklebeband und verfrachtete es hinter den Hemdenstapel ganz oben in seinem Schrank. Es war doch zu albern, mit einem Plastikschwert in den Urlaub zu fahren.

In der Küche schrieb er einen Zettel für seine Mutter, ohne ihr jedoch zu sagen, wohin er unterwegs war. So große Entfernungen würden sie nur unnötig beunruhigen. Es reichte völlig, wenn sie glaubte, er sei mit einem Kommilitonen aufs Land gefahren. Dann brach er auf. Der Bus würde erst am frühen Abend losfahren, die Zeit bis dahin würde er im Übungsraum verbringen. Er wollte seinen Eltern nicht mehr begegnen. Er würde nicht die Kraft haben, sich gegen seine Mutter aufzulehnen, sollte sie ihn am Wegfahren hindern wollen.

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