Kapitel 23

Alexander war viel zu früh, doch es störte ihn nicht, dass er warten musste. Erst viel später fiel ihm auf, eigentlich nur zufällig, dass Eva sich verspätet hatte. Und erst noch viel später begann er sich ernsthaft zu fragen, ob sie überhaupt noch kommen würde. Doch seine Energie reichte nicht aus, sich auf den Heimweg zu machen oder ihr böse zu sein. Vielleicht hatte er sich ja geirrt, in der Uhrzeit, im Datum. Er bestellte sich noch ein drittes Glas Rhabarbersaftschorle und genau in diesem Augenblick kam Eva, lachend und fröhlich winkend, zur Tür herein.
"Tut mir echt leid!" Etwas außer Atem ließ sie sich auf den Stuhl neben ihm fallen. "Ich hatte noch ein Vorstellungsgespräch und das hat ziemlich lange gedauert, aber ich glaube, ich kriege die Stelle. Das wäre echt klasse. In einem Reisebüro! Nicht nur vor Ort, nein als echte Reisebegleiterin. Gelobt sei das Institut Bärenwald und seine Benimm- und Sprachkurse." Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. "Ins Kino reicht's ja leider nicht mehr, aber wenn ich Dich so seh', ist Dir das sowieso herzlich egal, stimmt's? (Alexander nickte.) Na, habt Ihr Euren wichtigen Termin gut überstanden? Hast Du Marianna gesehen? (Er nickte wieder.) Und mit ihr gesprochen? (Er schüttelte den Kopf.) Aha! So was hab' ich mir schon gedacht. Ihr Anblick hat Dich wohl geschafft? Es ist nicht zu übersehen! Da kann man einfach nichts machen, das musst Du jetzt eben erleiden. Das klingt zwar abgedroschen, aber es geht auf alle Fälle vorbei. Die Zeiten, in denen man an einem gebrochenen Herzen sterben musste, sind ja glücklicherweise vorbei. Heutzutage gibt's stattdessen Selbsterfahrungsgruppen, wo man aber auch nicht weiß, was besser ist. (Alexander nickte nochmals, langsam und sehr, sehr leidend.) Du könntest mir ja stattdessen mal Euren Übungsraum zeigen. Oder dürfen Nichtmitglieder da nicht rein? Danach können wir noch was trinken gehen. Also, Kopf hoch, Trübsinn blasen kannst Du auch noch später irgendwann!"

"Viel gibts hier nicht zu sehen", erläuterte Alexander ohne auch nur einen Hauch von Begeisterung und bereute schon, mit Eva hergekommen zu sein. Viel lieber wäre er jetzt allein gewesen. "Was man halt so braucht: Schlagzeug, Kabel, Mikrofone, Mikrofonständer, Keybord, Mischpult, Technik ohne Ende ... Du siehst ja selbst, was hier so rumsteht ... Sofa, Stühle, und ein Kühlschrank. Es gibt auch eine Dusche und ein Klo. Im Sommer ist es nicht schlecht, hier eine Dusche zu haben."
Eigentlich war Eva klar, dass es jetzt an der Zeit gewesen wäre, sich zu verabschieden. Sie sah das Schlagzeug an, dann Alexander und dann wieder das Schlagzeug und entschied, sein miesepetriges Gehabe zu ignorieren und durchzuführen, was ihr auf dem Weg hierher in den Sinn gekommen war. Es juckte ihr richtiggehend in den Fingern und ... die Gelegenheit dazu war eindeutig eine der günstigsten.
"Hör mal!" begann sie deshalb forsch. "Jetzt, wo wir beide hier so ganz alleine sind. Ich hätte ... ich würde gerne ..." Sie musste schmunzeln, als sie sein verdutztes Gesicht sah; er wusste offensichtlich nicht, was er davon halten sollte und rechnete sicher mit etwas ganz anderem. "Ich möchte gerne mal Schlagzeug spielen. Meinst Du, Du kannst es mir erlauben?"
Alexander riss seine Augen vor Überraschung ganz weit auf, starrte sie entgeistert an und klappte seinen Mund erst nach einer ganzen Weile wieder zu. "Also ... von mir aus ... Vince muss es ja nicht erfahren, manchmal kann er da recht eigen sein ... aber ... KANNST Du denn spielen?" Das Fragezeichen stand überdimensional in dem kleinen Raum.
"Ja klar, das heißt ... mehr oder weniger. Ich hab schon lange nicht mehr gespielt."
"Warum hast Du denn nie davon erzählt? Ich meine, dass Du trommeln kannst? Ist doch total genial! Da bin ich aber mal gespannt!" Alexanders schlechte Laune war wie weggeblasen. Beflissen rückte er ihr alles zurecht und holte einen Satz Trommelstöcke aus einer mit Samt ausgelegten Schublade heraus.
Eva begann. Zuerst ein wenig zögerlich, wurde dann sicherer und trommelte schließlich mitreißend darauf los. Alexander hörte mit wachsender Begeisterung zu und vergaß sogar seinen Liebeskummer. Schließlich hörte sie mit einem grandiosen Finale auf. Alexander strahlte sie begeistert an und klatschte wild in die Hände.
"Die Kuh fliegt, die Kuh fliegt!" schrie er, während er wie ein Gummibällchen auf und ab hüpfte, grad so, wie er es bei Andreas gehört und gesehen hatte. "Mannomann, echt ey, ist ja echt genial. Also, wenn wir nicht schon Vince hätten ... Ich würde sofort vorschlagen, dass Du bei uns einsteigst. Wenn das die anderen erst mal erfahren! Mannomann die werden begeistert sein!"
"Wehe Du erzählst irgendwem auch nur irgendwas! Dann rede ich nie wieder mit Dir!" wehrte Eva entsetzt ab.
"Wieso denn nicht? Du spielst doch hervorragend!"
"Nein! Ich will nicht, dass es jemand erfährt! Keiner soll es wissen! Du musst mir versprechen, niemand davon zu erzählen!"
"Na meinetwegen, wenn Du meinst. Aber ich versteh' wirklich nicht, warum Du das nicht möchtest. Ist doch die Schau! Du bist total genial! Phantastisch, das kannst Du mir ruhig glauben! Davon versteh ich was!"
"Nein! Nein! Nein! Nichts da! Außerdem glaube ich, dass Du ganz schön übertreibst. Meine beiden Brüder waren nie sonderlich begeistert. Du musst wissen, die zwei hatten eine Band gegründet. Ich durfte nur mitmachen, weil sie nie Schlagzeug spielen wollten, sondern immer nur Gitarre, und einen anderen Schlagzeuger hatten sie nicht gefunden, also hab ich alles gemacht, was sie wollten. Stundenlang irgendwas versucht nachzuspielen, was sie mir vorgelegt haben. Aber wir hatten längst kein so tolles Schlagzeug, das unsrige war oll und abgeranzt und leider nicht vollständig. Aber für die Dorfgaudi wars ausreichend. Sie hatten es irgendwo billig bekommen. Und ich musste auch noch dafür blechen. Nun, es war zwar blöd, aber ich war total wild drauf. Mir hat das gut gefallen. Meinen Eltern allerdings gar nicht. Angefangen hat es, bevor ich ins Internat geschickt wurde. Später war da nicht mehr viel. Aber im Internat, das war Klasse, die waren zwar reichlig spießig, aber dort hatte ich richtig Unterricht. Drei Jahre lang. Na meinen Eltern war das vielleicht peinlich, du verstehst schon, Flöten oder Klavier, aber Schlagzeug ... nichts für Mädchen!"
"Das müssen ja feine Brüder gewesen sein, diese Brüder die! Keine Ahnung!" regte sich Alexander nun auf und sah sie weiterhin mit gespannter Neugier an. "Was ist denn aus Eurer Band geworden?"
"Weißt du, das hörte auf, nachdem ich ins Internat ging. Meine Brüder mussten im Hotel mitarbeiten. Da sowieso schon immer klar gewesen war, dass die beiden alles erben würden, übernahmen sie die Verantwortung sehr schnell und bereitwillung und für Gaudi war keine Zeit mehr! War auch egal dann."
"Und für Dich gab's wohl nichts zu erben, nehm' ich an, sonst wärst Du jetzt ja wohl nicht hier?" Alexander hatte mit überdurchschnittlichem Scharfsinn die Lage perfekt erfaßt.
"Für mich gab's nichts zu erben und nichts zu lachen. Vor allem mein Vater hielt permanent nach einer passenden Partie für mich Ausschau, nach einem armen Hoferben, denn nicht nur meine Figur war zu der Zeit beachtlich, meine Aussteuer war es auch. Sicherheitshalber wurde ich noch ins Internat gesteckt ... war wirklich gut da, wie schon erwähnt, der Schlagzeugunterricht, vorher war ich schon so ein richtiger Bauerntrampel, da hab ich dann einiges gelernt, an Sprachen und Manieren, Konversation machen und einen guten Eindruck. Sport gabs da auch, alles mögliche und ich muss sagen, es hat Spaß gemacht und ich habe abgenommen, reichlich abgenommen. Sie fuhr mit beiden Händen ihre Figur nach. Schlank bin ich immer noch nicht wirklich, das wird auch nichts mehr, aber damals, da war ich richtig fett. Eigentlich kann ich meinem Vater dankbar sein, dass er dafür gezahlt hat, denn billig wars nicht, aber er hoffte wohl, dass das rauskommt, was letztendlich dabei rausgekommen ist. Wie ich zurückgekommen bin, wurde ich auch reichlich Mannsvolk vorgestellt, ich sag dir, es war grauenhaft. Gegen einen jungen armen Hoferben hätte ich gar nichts einzuwenden gehabt, aber einer war schlimmer als der andere."
"Ich weiß gar nicht, was ich jetzt sagen soll", Alexander drückte ihr mitfühlend die Hand. "Ich bin überwältigt, das ist ja fast wie in diesen schwarz-weißen Heimatfilmen: vorzügliche für Kost für den schlechten Geschmack. Aber nun bist Du ja glücklicherweise Deinem grauenvollen Schicksal entronnen und hier gelandet!"
"Das kannst Du laut sagen! Ich bin auch heilfroh darüber. Zum Glück hatte ich Alicia kennengelernt. Das ist die Freundin von Manfred. Sonst würde ich womöglich heute ... ich darf gar nicht daran denken. Ich bin im Traum nicht auf den Gedanken gekommen, dass ich hätte weggehen können. Das Einzige, was ich wirklich vermisse, sind die Berge und meine Kuh Lisa. Weißt Du, ich hatte eine eigene Kuh! Weißt Du überhaupt, wie eine Kuh aussieht?" Eva erlitt einen Lachanfall, der den altersschwachen Sessel, auf dem sie sich währenddessen herumkringelte, bedenklich knarren ließ. "Das Schlagzeug habe ich einem Sommerfrischler verkauft, heimlich. Meine Brüder haben es nicht einmal gemerkt. Das Geld habe ich für einen riesigen Süßigkeitenvorrat angelegt, von dem ich recht lange gezehrt habe. War schon klasse. Ich hatte ja nur das bisschen Taschengeld und jede Menge kostspieliger Aussteuer für den Tag X. Verschachern wollten sie mich! Hat aber nicht geklappt! Ich war zu fett, das Gesicht voller Pickel und immer den Mund voller Süßkram. Meine Mutter brachte das fast zur Verzweiflung. Unmengen von Geld hat sie in die Apotheke getragen, um DAS Mittelchen zu kaufen, das mich kurieren und verschönern sollte. Hat aber alles nichts genutzt! Es war mir aber auch so egal, wie ich aussah. Ich wollte nur MEINE RUHE haben. Na ja, das war vor der Zeit von ‚Institut Bärenwald’, danach bin ich zum Glück bald abgegehauen."
"Manoman! Ist ja echt die Härte! Tiefstes Mittelalter. Ich bin echt erschüttert!"
"Ja! Ja! Ja! So war das und ist das. Ich hoffe bloß, dass solche Zustände sich demnächst ändern." Eva seufzte. "Schließlich leben wir im 21. Jahrhundert, da kann man einfach nicht mehr weiterleben wie ... was weiß ich! Aber Alicia hat mir Mut gemacht. Weißt Du", hier kicherte sie nervös, "eigentlich war ich ja ein bisschen in Manfred verliebt und ganz enttäuscht, dass er von mir nichts wollte wegen Alicia. Aber wir haben uns blendend verstanden, nachdem Manfred wieder abgereist war."
"Weißt Du was?" kündigte Alexander seine grandiose Idee an. "Wir treffen uns jetzt immer HEIMLICH und dann spielen wir zusammen. Würde mir echt Spaß machen. Ich bin nämlich ganz begeistert."
"Das ist eine grandiose Idee. Ich bin auch ganz begeistert! Und diese Geschichte ... ganz entzückend. Ich bin natürlich mit dabei! Sowas kann ich mir doch nicht entgehen lassen!" Erschrocken drehte sich Alexander um. "Su!" stammelte er, "was machst Du denn hier?"
"Nun," antwortete sie mit einem breiten Grinsen. "Was wohl? Heimlich lauschen! Heimlich üben! ... Ich finde die Idee einer Band in der Band ganz hervorragend ... und ... ich werde natürlich nichts verraten. Ist doch klar! Was ist nun?" Sie streckte Eva die Hand hin. "Ich bin Su. Du bist Eva. Ich habe ein Saxophon und singen kann ich auch, Du kannst trommeln und wir haben Alex. Das ist doch eine gelungene Kombination ... Ihr müsst mich mitmachen lassen!"
Alle drei schlugen sie ein und so war die Sache klar.

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