Kapitel 42

Es war ein Tag wie jeder andere, als es eines Dienstag vormittags an Elisabeth Grünbergs Haustür klingelte. Wer mochte das wohl sein? Sie erwartete keinen Besuch und der Postbote war schon dagewesen. Sie öffnete und stand einer für ihre Sensationslüsternheit bekannten Nachbarin gegenüber. Elisabeth hatte keinen Kontakt zu ihr und sah sie entsprechend erstaunt an. In der Hand hielt sie eine Zeitung und zwar so, dass die Schlagzeile sofort ins Auge sprang: Rauschgiftsüchtiger Deutscher im Ausland tot aufgefunden.

"Frau Grünberg, mein Beileid, es tut mir so leid, ich habe es gerade eben in der Zeitung gelesen," sagte sie mit merkwürdigem Unterton. Elisabeth sah sie ausdruckslos an. "Es muss schrecklich für Sie sein. Er war so ein braver Junge, kaum zu glauben, dass er ... da sieht man es mal wieder ... eigentlich war er in letzter Zeit sehr blass und die dunklen Augenringe ... Sie wussten es nicht, nicht wahr? Sie haben nicht geahnt, dass er ...?" Die Nachbarin machte eine bedeutungsschwangere Pause, als sie das Unverständnis in Elisabeths Gesicht bemerkte. "Sie wissen es noch gar nicht ...?
Elisabeth Grünberg, die sich nicht vorstellen konnte, wovon diese Nachbarin redete, riss ihr mit einem entschiedenen Ruck die Zeitung aus der Hand und schlug ihr die Tür vor der Nase zu. Sie betrachtete das Foto und las den Text, einmal, zweimal, dreimal, legte die Zeitung beiseite und erst gute fünf Minuten später, setzte das Begreifen ein. Der Schock trieb ihr das Blut aus dem Gesicht, ihre Knie zitterten wie Espenlaub und gaben unversehens nach. Mit einem gekrächzten "Nein!" sackte sie zusammen und stand nicht mehr auf, bis ihr Ehemann am späten Nachmittag nach Hause kam. Ausgerechnet heute war er nicht dagewesen.

Erst zwei Tage später kam die amtliche Benachrichtigung. Bis zu dem Zeitpunkt, wo der Beamte vor der Tür stand, hatten sie noch die Hoffnung gehabt, dass die Zeitung etwas verwechselt hatte. Doch es war kein schlechter Scherz von Sensationsreportern gewesen und auch kein Irrtum.
Eine männliche Leiche war am Strand eines bekannten Urlaubsortes gefunden worden, und ein glaubwürdiger Zeuge, ein vermeintlicher Freund Alexanders, hatte ihn zweifelsfrei identifiziert und zu Protokoll gegeben, wann und wo er ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Dies reichte den ausländischen Behörden. Ohne viel Aufhebens, es kam relativ oft vor, dass Touristen Opfer ihres eigenen Leichtsinns wurden, wurde die Leiche freigegeben, verbrannt und veranlasst, dass die Urne mit der Asche überführt wurde. So kam es, dass Alexanders Eltern noch am selben Tag vom Vertreter eines Beerdigungsinstituts aufgesucht wurden. Er hatte die Urne von seinem ausländischen Kollegen erhalten und wollte nun wissen, welche Art Trauerfeierlichkeit die Hinterbliebenen wünschten.

Die Tage zogen an Elisabeth vorüber, ohne dass es für sie einen Unterschied machte. Den notwendigen Halt fand sie in der akribischen Erfüllung ihrer hausfraulichen Pflichten, wozu auch gehörte, dass sie einmal wöchentlich in Alexanders Zimmer saubermachte. Er würde eines Tages zurückkommen und dann sollte alles seine Ordnung haben. Alexander konnte nicht tot sein. Auch wenn sie niemals darüber sprach, auch nicht mit ihrem Ehemann, glaubte sie nicht, dass Alexander tot war, egal, was auch immer die Behörden sagten. Sie war sich sicher, dass sie die Asche irgendeines Fremden beigesetzt und beweint hatten. Alexander konnte nicht tot sein. Sie glaubte es einfach nicht; es konnte einfach nicht sein. Sie wusste, wie es sich anfühlte, wenn ein Kind starb. Sie wusste es ganz genau.

Es war Mitte Oktober, als sie ihr Putzplan sie wieder in Alexanders Zimmer führte. Es gab natürlich nichts zu bemängeln; ein wenig Staub, mehr nicht. Sie wollte schon wieder gehen, als ihr einfiel, dass sie das Innere des Schrankes in all der Zeit noch nicht einmal abgestaubt hatte. Sie öffnete die beiden Türen und begann mit dem obersten Fach. Sie holte einen Hemdenstapel heraus, legte ihn auf den Tisch, stellte sich auf die Zehenspitzen, nahm ihr Staubtuch, und fuhr damit energisch auf dem Fachboden hin und her. Da stieß ihre Hand an ein Hindernis. Was war denn das? Sie zog einen Stuhl heran, stieg hinauf und sah hinein. Ganz hinten lag ein längliches Päckchen aus blauem Reispapier, das mehrfach mit braunem Klebeband umwickelt war. Neugierig öffnete sie es und betrachtete erstaunt das Ding in ihrer Hand: ein Spielzeugschwert. Ihr wurde ganz warm ums Herz als sie es sah. Versonnen lächelte sie vor sich hin. Mein kleiner Junge! Sie wollte es gerade wieder einwickeln und zurücklegen, als das Schwert zu leuchten begann. Es handelte sich offensichtlich um ein Ritterschwert neuerer Machart. Geistesgegenwärtig suchte sie nach einem Knopf, womit sich die Beleuchtung wieder abstellen ließ, fand aber nichts. Solarzellen! Natürlich! Diese Dinger wurden auch immer komfortabler. Im Dunklen sah es bestimmt gespenstisch aus. Trotz dieser Erklärung fühlte sie sich durch das Eigenleben des Schwertes beunruhigt. Hastig griff sie nach dem Papier. Es schien parfümiert zu sein, denn mit einem Mal stieg ihr ein wundersamer Geruch in die Nase. Etwas Phantastisches blühte in ihr auf, ein seltsames Gefühl, warm, vertraut und doch völlig fremd. Es war wie eine Heimkehr an einen längst verloren Ort. Nachdenklich betrachtete sie es und ein winziger Erinnerungsplitter schoss an die Oberfläche. Balin! Sie hielt das Schwert an der Klinge, was eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit war, aber sie brachte es nicht über sich, es am Griff anzufassen. Eigentlich hätte die Klinge so scharf sein sollen, um damit ein Haar zerteilen zu können. Was sie fühlte war jedoch warmes, leicht raues Plastik, das zu nichts nütze war. Alexander hätte es mitnehmen müssen, dachte sie mit grimmigem Ärger, dass der Junge aber auch immer das Wichtigste vergessen musste! Die Karte mit der Notrufnummer für die Auslandskrankenversicherung hatte er auch nicht mitgenommen ... Zu dumm! Nun, vielleicht hatte er gar nicht vorgehabt, so weit zu reisen, er hatte doch zu Kommilitonen aufs Land gewollt. Vielleicht hatten die ihn ja dazu überredet? Sie schüttelte den Kopf über seine Nachlässigkeit. Bevor sie das Schwert wieder zurücklegte, wickelte sie es notdürftig wieder ein; schließlich musste sie darauf achten, es nicht am Griff anzufassen. Ihr blieb keine Zeit, sich über diese Vorsichtsmaßnahme zu wundern, denn ein heftiger Windstoß riss das Fenster auf und sie aus ihren Gedanken. Sieben schwarze Raben saßen krächzend am Fensterbrett und stoben davon, als Elisabeth näherkam. Sie schloss das Fenster und ging aus dem Zimmer, mit ihren Gedanken beim bevorstehenden Wochenendeinkauf. Ganz entgegen ihrer Gewohnheit hatte sie vergessen, die Schranktür ordnungsgemäß zuzuschließen.

Blauer Nebel floss aus dem Schrank. Rote Schleierfäden schraubten sich zur Decke empor und verschwanden. Ein Feuerball schoss hervor, grell, blau und absolut lautlos. Dieses Schauspiel dauerte weniger als eine Sekunde. Selbst jemand, der sich in nächster Nähe aufgehalten hätte, hätte möglicherweise nichts von dem Spuk bemerkt.

Am darauffolgenden Tag, es gab eigentlich gar keinen Grund, schon wieder Alexanders Zimmer zu inspizieren und in den Wäscheschrank zu sehen. Doch sie tat es und entdeckte sie zu ihrem Schreck im obersten Fach halb zerfallene Papierreste undefinierbarer Farbe, mit schimmligem Staub bedeckt und unangenehm riechend. Wie hatte das nur passieren können? Wie hatte sie das nur übersehen können? Geschwind sprang sie die Treppen hinab, holte Besen und Schaufel, kehrte mit resoluten Bewegungen und durch den offenen Mund atmend, den stinkenden Haufen auf die Schaufel und kippte alles in eine vorsorglich mitgebrachte Plastiktüte. Nur noch schnell feucht nachwischen und dann wäre alles wieder in Ordnung.

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