Kapitel 22

Die sechs Mitglieder von cashflow drängten sich um einen winzigen Kaffeehaustisch und redeten aufgeregt durcheinander. Vince war eindeutig der Held der Stunde und sonnte sich redlich in der allgemeinen Bewunderung. Schließlich war es seinem persönlichen Einsatz zu verdanken, dass sie bald zum ersten Mal in größerem Rahmen öffentlich auftreten würden. Zeitungen würden über dieses Ereignis berichten, und auch das Fernsehen würde dabei sein. Bald schon würden sie berühmt sein und ... reich! Von Minute zu Minute wurden sie aufgekratzter. Sogar Su ließ sich von der ausgelassenen Stimmung mitreißen. Lediglich Alexander saß still am Tisch und beschäftigte sich angelegentlich mit seiner heißen Schokolade. Er sah schlimm aus: bleich und hohlwangig, mit dunklen Augenringen und einem derartig betrübten Gesichtsausdruck, dass die mitleidige Bedienung ihm eine extra große Portion Sahne in die Tasse gesprüht hatte. Doch seine Musikerfreunde waren zu sehr abgelenkt, um sein Elend zu bemerken.
"Ich glaube, wir sollten schleunigst aufbrechen", mahnte Andreas und ließ zackig den Deckel seiner Taschenuhr aufschnappen. "Es wird Zeit, die Kuh fliegen zu lassen!" Die allgemeine Spannung entlud sich in lautstarkem Gelächter. So manches Mal war er mit seinen gewagten Sprüchen den anderen auf die Nerven gegangen, doch heute hatte er den richtigen Ton getroffen.
Einzig Alexander lachte nicht. Natürlich nicht, warum auch? Für ihn gab es nichts zu lachen. Er war nur hier, weil Vince ausdrücklich darauf bestanden hatte. Der ganze Rummel interessierte ihn nicht. Das Einzige, was ihn wirklich interessierte, war Marianna. Sie würde auch da sein, garantiert. Warum auch nicht? Schließlich war es ihr Job! So sehr er sich ein Wiedersehen wünschte, so sehr fürchtete er sich davor. Von Eva wusste er, dass sich Marianna und Bernhard gestritten hatten und die Wohnung überquoll von Blumensträußen, die Bernhard tagtäglich für Marianna schickte. Die ganze Wohnung war schon voll davon, nur in Mariannas Zimmer stand kein einziger. Vielleicht ...?

Als die sechs das Foyer der Getränkefirma betraten, erschien kaum eine Sekunde später wie aus dem Nichts eine überaus attraktive und überaus blonde Empfangsdame. Sowohl ihr erhabener Gesichtsausdruck als auch ihr formvollendetes Auftreten ließen den Gedanken an geschmacklose Witze gar nicht erst aufkommen. Ohne viel Aufhebens zu machen, führte sie die kleine Truppe in den 16. Stock.
Direkt vor dem Konferenzzimmer stand Marianna; vom Scheitel bis zur Sohle eine selbstherrliche Geschäftsfrau. Sie unterhielt sich großspurig mit einem gutaussehenden Mann, der ihr in nichts nachstand. Sie schenkte dem kleinen Trupp wenig mehr als ein flüchtiges Lächeln. Vince runzelte missmutig die Stirn ob dieser Unachtsamkeit, und Alexander spürte einen schmerzhaften Stich in der Brust. Er wurde blass, sehr blass sogar.
"Eine Fremde!" sagten seine Augen. "Marianna!" jubelte sein Herz. Es waren ihre Augen, ihr Mund. Es war die Frau, die er liebte; das fühlte er mit jeder Faser seines Herzens. Ohne zu wissen was er tat, machte er einen Schritt in ihre Richtung. Vince erkannte die Gefahr und zog Alexander am Ärmel mit sich fort und hinein ins Zimmer, wo er ihn schnell in einen Sessel bugsierte und sich selbst, fürsorglich und vorsorglich zugleich, auf der Armlehne platzierte.

Dunkelblaue Ledersessel und dazu passende Tischchen standen lose gruppiert im Raum, zwei riesige Gemälde hingen sich gegenüber an den Längswänden. Das Tageslicht strömte in verschwenderischer Fülle durch eine komplett verglaste Außenwand und es roch wunderbar nach frischem Kaffee. Die Empfangsdame sorgte unauffällig dafür, dass die geplante Sitzordnung eingehalten wurde, so dass am Ende, trotz der aufgelockerten Atmosphäre, die Gräfin das Licht im Rücken und ihren Assistenten zu ihrer Rechten haben würde.
"Guten Tag zusammen! Darf ich um Ihre geschätzte Aufmerksamkeit bitten!" sorgte die volltönende Stimme des Mannes aus dem Flur für Ruhe, als er zusammen mit Marianna und einer weiteren Frau den Raum betrat. "Zunächst möchte ich Sie mit unserer sehr verehrten Gräfin von Wetterstein vorstellen." Er verbeugte sich in ihre Richtung, wobei nicht so recht klar wurde, ob er es wirklich ernst meinte. "Sie wollte es sich nicht nehmen lassen, Sie persönlich in Augenschein zu nehmen. (Man hatte den Eindruck, als husche ein süffisantes Lächeln über sein Gesicht.) Das Projekt liegt ihr sehr am Herzen."
Gräfin Wetterstein war eine atemberaubende Erscheinung, bei der man automatisch an Lady Macbeth und das Nibelungenlied dachte, sofern die Allgemeinbildung dies hergab. Sie warf einen skeptischen Blick in die Runde, bevor sie geruhte, ihre Zustimmung zu geben, indem sie äußerst vornehm ein ganz wenig den edlen Kopf neigte.
"Frau Meinhard," fuhr er mit der Vorstellung fort, und diesmal war die Verbeugung ganz klar nur angedeutet, "zeichnet verantwortlich für das Konzept und die Durchführung des Projektes ... und die Musikgruppe cashflow." Er machte eine ausholende Bewegung mit dem Arm in Richtung der jungen Leute. "Ich heiße Schubert, Gustav Schubert und bin Assistent der Geschäftsleitung." Nach diesen Worten nahmen die drei, angeführt von Schubert, ihre Plätze ein. Andreas und Peter stießen sich in die Rippen, glucksten verhohlen, doch ein scharfer Blick von Su brachte sie zum Schweigen. "Die Brauerei Wetterstein," fuhr Gustav Schubert unbeirrt fort und setzte sich, "veranstaltet ein Freiluftkonzert mit mehreren Musikgruppen. Das Konzert wird komplett aufgezeichnet und später zu Werbezwecken verwendet. Im Rahmen dieser Veranstaltung wird unser neues Erfrischungsgetränk erstmalig der Öffentlichkeit vorgestellt."

Andreas bedachte Vince, der ihm gegenübersaß, mit einer eindeutigen Gebärde. Von einem Auftritt und Filmaufnahmen hatte Vince permanent erzählt, doch dass sie unter vielen anderen Bands an einer Werbeveranstaltung teilnehmen würden, hatte er ihnen einfach verschwiegen.

"Es wird weiterhin eine Tombola stattfinden, deren Erlös einem guten Zweck gespendet wird. Ihr Auftritt wird eine halbe Stunde dauern. Bedingung ist, dass Sie zu Beginn ein von uns vorgegebenes Stück spielen. Wir gehen davon aus, dass Sie professionell genug sind, es in der noch verbliebenen Zeit einzustudieren, um es mit dem gebotenen Esprit vortragen zu können. Die musiktechnischen Ausrüstungsgegenstände werden von uns gestellt. Sie brauchen also nichts weiter mitzubringen, als das, was sie unbedingt brauchen. Auf diese Weise, so habe ich mir sagen lassen, verschwenden wir keine Zeit für den Umbau und sichern gleichzeitig ein Höchstmaß an technischer Perfektion. Einige Tage zuvor wird hier im Hause unter Leitung unserer technischen Abteilung eine Generalprobe stattfinden. Die Einzelheiten erfahren sie rechtzeitig. Das Veranstaltungsende ist für 20.00 Uhr geplant; wir müssen auf die Anwohner Rücksicht nehmen. Ab 21.00 Uhr gibt es einen kleinen Empfang hier im Hause, wozu Sie herzlich eingeladen sind. Gräfin Wetterstein", er räusperte sich und verbeugte sich wieder in ihre Richtung, "war so großzügig, den Etat der Werbeabteilung dahingehend aufzustocken, dass es uns möglich wurde, den teilnehmenden Musikgruppen eine Aufwandsentschädigung in Höhe von 500 Euro zukommen zu lassen. Wenn Sie möchten, können wir Sie stattdessen ein Jahr lang mit unserem neuen Getränk beliefern", beendete Schubert seine Ausführungen und schloss sich unerwarteter Weise dem Lachen an, das seine letzte Bemerkung hervorgerufen hatte.

Alexander hatte weder zugehört, noch lachte er. Zu sehr war er damit beschäftigt, Marianna zu beobachten. Peinlich genau registrierte er jeden Blick, den sie Schubert zuwarf. Jede Geste, jedes Wort und jedes Lächeln fuhr ihm wie ein Messerstich ins Herz. Heftigste Eifersucht biss ihn mit tausend glühenden Zähnen. Er bekam nichts mit, weder von dem fast eine halbe Stunde dauernden Gespräch, noch dass Vince den Vertrag unterschrieb.
"Ich gebe eine Runde DYNAMISCHES GETRÄNK aus. Kommt alle mit", brüllte Andreas lauthals, nachdem die Gräfin, Schubert und Marianna hinausgeeilt waren. "Geld! Geld! Geld! Das muss doch gefeiert werden. So viel Geld! So ein grandioser Auftritt! Nicht wahr, Vince! Du hättest es ruhig sagen dürfen, WAS Du für uns aufgetan hast, mein Lieber. Aber ich denke", er hob den Umschlag mit Vertrag theatralisch in die Höhe, "dafür können wir schon mal Fünfe grade sein lassen!"

"Warte kurz", hielt Vince Alexander zurück. "Mach doch nicht so ein Gesicht, das kann ja kein Mensch mit ansehen. Nimm das mit Mary doch nicht so ernst! Du weißt doch, wie die Frauen sind: wissen nie, was sie wollen und brechen ein Herz nach dem anderen. Vergiss die ganze Geschichte doch einfach. Es gibt doch wirklich genug andere. Los, Mann ey! Reiß Dich zusammen. So kann das doch nicht weitergehen. Soll ich mal mit ihr reden? Also, vergiss sie einfach und komm jetzt mit!"
"Komm bloß nicht auf die Idee, ihr auch nur irgendwas zu erzählen! Wenn Du das machst, dann rede ich nie wieder mit Dir!  ... Ich komm' nicht mit. So! Erstens habe ich keine Lust zum Feiern; so ein Theater nur wegen so einer blöden Werbeveranstaltung. Und zweitens habe ich eine Verabredung. Damit Du's nur weißt! Und wenn Dir nicht passt, wie mein Gesicht aussieht, musst Du eben wegsehn!" Alexander sah den Freund biestig an.
"Ach?! Verabredet?! Du?! Mit wem denn?" Vince war neugierig, doch gab dieser nicht nach, anderes war wichtiger. "Dann kommst Du eben nicht mit! Ist auch nicht so wichtig, Andreas hat schon recht, ich hätte es sagen müssen, aber dann hätte keiner von Euch mitgemacht, aber ich sage dir, auch wenn dieser Gig ein lausiger ist, so ist es doch ein guter, der uns vorwärts bringt und auf jeden Fall ins Kino! Hörst du, es wird ein Werbefilm fürs KINO! ... Also dann, bis Samstag, ich hol' Dich pünktlich ab, versprochen. Machs gut!" Vince klopfte ihm aufmunternd auf den Rücken und eilte den anderen hinterher.

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