Kapitel 60

Marianna kam es vor, als habe die Nachricht von Alexanders Tod einen unsichtbaren Keil zwischen Eva und sie getrieben. Die beiden sprachen nur das absolut Notwendigste miteinander und gingen sich, soweit das in der gemeinsamen Wohnung möglich war, unauffällig aus dem Weg. Marianna verstand das alles nicht, denn Alexander hinterließ eine Lücke, die eigentlich gar nicht hätte vorhanden sein dürfen. Sie hatten sich ja kaum gekannt!
Einige Zeit später kam es zur Trennung von Bernhard. Ein handfester Streit trieb sie auseinander, keine Stunde nachdem Bernhard hatte den lang angekündigten Heiratsantrag gemacht und ihr einen großartigen Ring an den Finger gesteckt. Sie fühlte sich geschmeichelt, und natürlich hatte sie „ja“ gesagt und gelacht aus vollen Herzen. Doch das Lachen war ihr vergangen, als Bernhard, fast schon beiläufig, gesagt hatte, dass er einen Käufer für ihre Agentur hatte, der bereit war, einen sehr guten Preis zu zahlen.
„Und warum soll ich verkaufen?“ hatte sie verdutzt zurückgefragt, nichts Schlimmes ahnend.
„Als meine Ehefrau wirst du es nicht nötig haben, zu arbeiten“, hatte er ernst geantwortet, Champagner eingegossen und ihr ein Glas gereicht.
„Ich glaub es nicht!“ sagte Marianna ungläubig, denn sie glaubte es wirklich nicht. „Das ist ein Scherz, nicht wahr?“ fuhr sie lachend fort und stieß mit ihm an.
„Kein Scherz!“, antwortete Bernhard, „ich möchte nicht, dass du weiterarbeitest, ich möchte, dass du deine Zeit mit mir verbringst.“
Eine ganze Weile hatte sie versucht, vernünftig zu argumentieren, aber umsonst, am Schluss schrie sie nur noch wild um sich. Und Bernhard, völlig außergewöhnlich für den sonst so gesetzten Mann, hatte zurückgebrüllt. Schließlich war sie so in Rage geraten, dass sie blindlings nach einem der zahlreichen Bilderrahmen auf dem Kaminsims griff und damit nach Bernhard warf. Sie traf zwar nicht, aber das Bild ging zu Bruch.
Bernhard hielt abrupt inne, wurde erst rot, dann blass, kniete sich hin, zog das Bild vorsichtig aus dem zerbrochenen Rahmen, drückte es an seine Brust und verließ wortlos das Wohnzimmer. Kurz danach kam die Haushälterin mit Besen und Schaufel und missbilligendem Gesichtsausdruck.
„Sie gehen jetzt besser, Frau Meinhard!“ sagte sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. „Der gnädige Herr braucht jetzt seine Ruhe!“
„War das seine Mutter auf dem Bild?“ fragte Marianna, über Bernhards Reaktion mehr als befremdet.
„Nein!“ antwortete die Haushälterin mit undefinierbarem Gesichtsausdruck. „Das war seine frühere Verlobte, sie hat ihm vor vielen Jahren das Herz gebrochen, als sie nach Südamerika ging, um dort einen anderen zu heiraten. Er ist nie wirklich darüber hinweggekommen. Sie hätten sein Herz heilen können, denken aber nur an sich, so wie viele junge Frauen heutzutage. Der gnädige Herr ist ein feiner Mensch, er hat es nicht verdient, dass die Frauen so mit ihm umgehen. Ich habe nie verstanden, was er an Ihnen gefunden hat, Sie passen nicht zu ihm.“ Die Haushälterin sah Marianna streng an. „Gehen Sie jetzt“, fuhr sie fort, „Ihre werde Ihre Sachen packen und sie Ihnen zukommen lassen!“
„Aber das kann ich doch selbst …“, antwortete Marianna, perplex über diesen Hinauswurf.
„Sie gehen jetzt!“ wiederholte die Haushälterin nur, „verlassen Sie sofort dieses Haus!“
Also ging sie, was hätte sie sonst auch tun sollen? Es war schließlich Bernhards Haus. Seltsamerweise fühlte sie sich befreit, auf gewisse Weise zumindest. Es hätte nicht so sein sollen, denn er war ihr in all den Jahren ein guter und lieber Freund gewesen. Sie hätte tief traurig sein müssen, aber so war es nicht, wie sie irritiert feststellte.
Am Montag drauf teilte ihr die Haushälterin telefonisch mit, dass ein Kurierdienst die Sachen bringen würde. Wie versehentlich verplapperte sie sich und so erfuhr Marianna, dass Bernhard sich auf eine längere Reise nach Südamerika begeben hatten.
Marianna tat, was sie am besten konnte, und stürzte sich in den nächsten Wochen mit verbissenem Eifer in die Arbeit. Sie akquirierte einen Auftrag nach dem anderen und das Geschäft florierte. Es wäre ewig so weitergegangen, wenn ihre Crew nicht hinter ihrem Rücken drei Wochen Betriebsferien anberaumt hätte. Marianna ließ sie gewähren, denn sie hatten ja recht. Doch ihr graute vor den Ferien, sie wollte keine Ferien, sie brauchte die Arbeit - mehr denn je.
An einem der ersten Ferientage erwachte Marianna höllisch verkatert und mit schmerzendem Knöchel. Meine Güte, dachte sie, wie ist das bloß passiert, so viel kann ich gar nicht getrunken haben, dass ich mich DARAN nicht erinnere.
Sie hatte spät abends noch den Fernseher eingeschaltet und dazu Wein getrunken. So viel? Sie angelte behutsam nach dem Programmheft, das aufgeschlagen neben dem Bett auf dem Boden lag. Ganz klar, da stand es: "Vom Winde verweht" um 23.15 Uhr. Zu bestimmten Gelegenheiten war dieser Film genau das Richtige. Das war diesmal offensichtlich nicht der Fall gewesen. Wie peinlich! Zum Glück hatte sie niemand in diesem Zustand gesehen; Eva war auf Dienstreise und Manfred mit Frau und Kind im bayrischen Wald. Vermutlich wäre es gar nicht so weit gekommen, wenn einer der beiden dagewesen wäre.
Auch das noch, dachte sie empört, als sie einen roten Fleck auf dem Laken entdeckte. Doch es war kein Blut, es war nur ein Stein, ein wunderschöner dazu, rubinrot mit Goldsprenkeln. Sie drehte und wendete ihn einen Moment in den Händen, an irgendetwas erinnerte er sie, aber sie kam nicht drauf.
Sie erhob sie sich behutsam, machte sich etwas frisch und ging hinunter zum Einkaufen. Sie brauchte dringend eine Salbe für ihren Knöchel, eine Tablette für den Kopf und etwas zu Essen für den Magen. Frisches, deftiges Vollkornbrot mit viel Butter und rohem Schinken. Schon bei dem Gedanken daran lief ihr das Wasser im Munde zusammen und sie konnte es kaum erwarten, gerade so, als hätte sie tagelang nichts Vernünftiges zu essen bekommen. Nun ja, dachte sie grimmig, vielleicht geht mir die Trennung von Bernhard doch mehr ans Herz, als ich wahrhaben will. Im Grunde genommen und Grund genug für ein sinnloses Besäufnis, aber da war sie doch eindeutig weit über das Ziel hinausgeschossen. Also schwor sie sich, in nächster Zeit alkoholische Getränke strengstens zu meiden und im Gegenzug etwas für ihre Gesundheit zu tun, dann wären die restlichen zwei Ferienwochen wenigstens sinnvoll genutzt.

Eva betrat das Reisebüro, wo sie von ihrer Chefin erwartet wurde. Mit den „Nachtgestalten“ hatte sich das Reisebüro Müller-Colon einmal mehr für das besondere Reiseerlebnis qualifiziert. Das Reisebüro wurde geradezu gestürmt, nachdem in den Medien diverse mehr oder weniger seriöse Artikel zum Thema erschienen waren, ausschlaggebend war hier sicherlich der Artikel, der sich auf die tatsächlich stattgefundene Reise ins Herzland der Nachgestalten bezog und behauptete, währenddessen seien nachgewiesenermaßen gleich vier Männer von einem Vampir getötet worden.
Selbstverständlich distanzierte sich Claudia Müller-Colon vehement von dieser Art Berichterstattung und verwies auf den örtlichen Polizeibericht. Aber Eva wurde den Verdacht nicht los, dass die Chefin höchstpersönlich ihren Teil zu dieser Berichterstattung beigetragen hatte. Dass auf Burg Rothenstein merkwürdige Dinge vorgingen, mochte ja schon sein, aber dass dort ein mörderischer Vampir sein Unwesen trieb, das war schlichtweg gelogen. Die vier tödlich verunglückten Männer waren jeweils ziemlich betrunken gewesen, drei von ihnen waren von einem Felsen gestürzt, einer von einer Treppe. Dennoch fragte Eva sich zuweilen, ob es nicht ihre Pflicht gewesen wäre, dies zu verhindern. Und nun saß sie ihrer Chefin gegenüber, die sie mehrere Wochen genau dort verpflichtet hatte, alle 4 Tage eine neue Gruppe, dazwischen 1 Tag frei.
„Sie haben sich nichts vorzuwerfen, Frau Vollmer, absolut gar nichts, sie haben sich in dieser unangenehmen Situation absolut korrekt verhalten, wenn sie nicht fahren wollen, habe ich dafür Verständnis, aber ich müsste Ihnen dann kündigen, das möchte ich aber nicht, Sie kennen sich dort aus, Sie sind eine großartige Reiseleiterin und Hotelbesitzer und Direktorin haben sie höchstpersönlich in den höchsten Tönen gelobt. Und Sie die einzige im Team, die die Landessprache beherrscht, und … Sie sind doch ein Profi, oder?"
„Ja, natürlich!“ antwortete Eva, eine Kündigung war natürlich keine Alternative.
Zu Evas Wohlbefinden hatte es sehr beigetragen, dass es im Weiteren keine absonderlichen Zwischenfälle mehr gegeben hatte und alle Reisteilnehmer immer wohlbehalten nach Hause zurückgekehrt waren. Und so schön und angenehm es dort auch war, so war sie doch froh, als ihr Einsatz dort vorbei war. Claudia Müller-Colon wusste immer genau, wann sie aufhören musste, eine Event-Reise anzubieten, damit der Markt nicht übersättigt wurde.
Eine Woche später machte sie Eva auf, selbst in die Ferien zu fahren, ein Wanderurlaub in Irland sollte es werden. Sie saß schon im Taxi zum Flughafen, als ihre Mutter anrief. Zuhause stand es sehr schlecht, wovon Eva bislang nichts gewusst hatte. Der Vater war zum Pflegefall geworden war, die Brüder, die einst so selbstherrlich das Ruder übernommen hatten, hatten sich mehrfach verspekuliert und sich vor wenigen Tagen ins Ausland abgesetzt. Die Mutter verzweifelt, das Personal weitgehend davongehlaufen, das Hotel war unrentabel geworden, die wenigen Gäste waren nicht zufrieden. Eva konnte die Schadenfreude nicht unterdrücken, ganz und gar nicht, aber sie brachte es nicht übers Herz, ihre Mutter mit dem Schlamassel allein zu lassen. Also ließ sie das Taxi wenden und zum Bahnhof fahren, wo sie den ersten Zug nach, der Richtung Heimat fuhr. Sie konnte sich dieser Pflicht nicht entziehen, denn sie wusste, dass sie die einzige war, die helfen konnte, denn noch während ihre Mutter mit ihr sprach, war die Idee eines Plans in ihr gereift.
Zuhause angekommen organisierte sie als erstes eine Pflegekraft für den Vater um die Mutter zu entlasten. Als zweites beriet sie sich ausgiebig mit Claudia Müller-Colon und holte diese schließlich mit ins Boot. Als drittes überzeugte sie ihren Vater davon, dass nur eine Übertragung des Hotels an sie den Familienbetrieb retten würde. Doch sogar jetzt noch sträubte sich der Vater, ihr das Hotel zu überschreiben. Aber schließlich gab er nach, unterschrieb, was sie ihm vorlegte, und dann konnte sie loslegen. Sie stellte sie einen umfänglichen Geschäfts- und Veranstaltungsplan auf, verhandelte über die Sanierungsfinanzierung mit Bankdirektoren und mit dem Bauernverband über die Belieferung mit regionalen Produkten. Fast rund um die Uhr wirbelte sie an vielen Fronten, bis das Hotel schließlich mit einer großen Party wiedereröffnet wurde. Selbstverständlich war Claudia Müller-Colon dabei, und selbstverständlich berichtete die Presse von diesem Ereignis. Alles lief nun wie am Schnürchen, die Gäste waren außerordentlich zufrieden und kamen in Scharen.
Eva indes war sie reif für die Insel, was gut passte, denn die nächste Dienstreise führte sie in die Karibik. Das war genau richtig so: von einer Herausforderung gleich weiter zur nächsten. Irgendwann würde der Schmerz um Alexanders Tod hoffentlich nachlassen, und irgendwann würde sie mit Marianna wieder normal reden können, und irgendwann vielleicht sogar Vince wiedersehen wollen. Noch immer quälte sie sich mit dem Gedanken, dass sie die Schuld an Alexanders Tod trug. Hätte sie ihn nicht überredet, mit ihr zu fahren, wäre er sicher noch am Leben. ´

Vince, der länger als geplant bei seiner Großmutter hatte bleiben müssen, erfuhr erst Ende Oktober, dass Alexander tödlich verunglückt war.
Gleich nach seiner Rückkehr war er bei Alexander vorbeigefahren, der Vater hatte geöffnet und mit zittriger Stimme und wenigen Worten erzählt, was seinem Sohn zugestoßen war. Vince wusste nicht, was er sagen sollte und konnte es nicht fassen. Wie konnte das sein? Doch nicht Alex! Von einer Klippe gestürzt und ertrunken? Er konnte und wollte es nicht glauben, viel schlimmer noch war, dass er erst jetzt davon erfuhr. Wussten es die anderen oder nicht? Die Bandmitglieder, Eva und Marianna? Oder hatte es in der Zeitung gestanden? Er musste sie fragen, er musste es ihnen sagen, er musste darüber reden. Doch das ging jetzt nicht, auch nicht nächsten Tag und auch nicht am übernächsten. Erst am darauffolgenden Donnerstag, als sich Andreas erkundigte, wann die Bandproben wieder losging, schaffte er es, die Nachricht von Alexanders Tod loszuwerden.
Andreas war nicht weniger schockiert als Vince, doch er trug es mit mehr Fassung. Seine Bindung zu Alexander war nicht so eng gewesen. Er nahm ihm die Last ab, es den anderen zu sagen. Sie verabredeten sich noch für den gleichen Abend im Übungsraum. Sie mussten darüber reden, sie müssten sich darüber klar werden, ob sie ohne Alexander weitermachen wollten und ob sie einen Ersatz für ihn wollten. Vince ging nicht hin. Er wollte mit niemandem sprechen.
Immer wieder sah er zu der Stelle, wo lange Zeit das kleine Ritterpferd gestanden hatte. Nur gut, dass es schon verschwunden war, sonst hätte er es jetzt weggeworfen. Er wollte nichts um sich haben, was ihn an Alexander erinnerte. Eva werde sie anrufen, nahm er sich vor, und Marianna auch, später, irgendwann später.
Als das Telefon klingelte, wartete er erst den Anrufbeantworter ab, bevor er selbst dranging. Es war eine Firma, für die er früher einmal gearbeitet hatte und die dringend jemand suchte, der bereit war, ab sofort für unbestimmte Zeit im Ausland auf Montage zu gehen. Vince sagte sofort zu, heilfroh über die Aussicht, viel arbeiten und wenig schlafen zu können. Das war jetzt genau das Richtige. Alles andere hätte ihn nur verrückt gemacht.

weiter
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