Kapitel 18

Er spürte einen feuchten Stups am Arm, schlug die Augen auf und sah zwei Reihen überdimensionaler Zähne direkt über seinem Gesicht. Er blinzelte, die Zähne wichen zurück und gaben den Blick frei auf das dazugehörige Maul eines imposanten Schlachtrosses. Es schnaubte ungeduldig und scharrte mit den Hufen. Er verstand sofort, was es wollte und kletterte, wenn auch ein wenig umständlich, nämlich unter Zuhilfenahme eines Hockers, auf dessen Rücken. Es war erst das zweite Mal in seinem Leben, dass er auf einem Pferd saß und es fehlte ihm eindeutig an der notwendigen Eleganz. Mit beiden Händen klammerte er sich am Sattelknauf fest, während das Pferd aus dem Fenster sprang. Sanft und sicher landete es dort, wo er vor nicht allzu langer Zeit schon mal gewesen war. Was sollte er hier eigentlich? Das Tier blieb neben Geröllhaufen stehen und er stieg ab. Das Ross wollte offensichtlich nicht mitkommen. So ging das aber nicht, dachte er, das Pferd muss mit, ganz klar, entweder alle oder keiner! Also, was macht man in so einer Situation mit einem eigensinnigen Gaul? Er lachte übermütig, als ihm etwas einfiel. "Hokuspokusfidibus, dass das Pferdchen klein sein muss!" sagte er laut und deutlich und siehe da, es funktionierte. Er bückte sich und steckte es in seine Hosentasche. Dann hob er das Schwert vom Boden auf, streckte es vor sich wie eine Wünschelrute und siehe da, auch dies funktionierte. Er ließ sich von ihm führen und es dauerte nicht lange, da gelangte er zu einer Großen Halle. Dort war stockfinster, doch allen Naturgesetzen zum Trotz, sah er mehr, als er hätte sehen wollen. Kopflose Gestalten mit Spinnenbeinen und Affenarmen umkreisten mit hüpfenden Schritten einen grob behauenen Stein, derweil ihre überlangen Klauenfinger ekstatisch zuckten. Am Kopfende des Steines kauerte laut schnaufend eine monströse Gestalt, eine Mischung zwischen Riesenfrosch und Riesenmaikäfer, letzteres vor allem der pumpenden Flügel wegen. Sie hielt einen sehr scharf aussehenden Dolch. Auf dem Stein, kaum zu erkennen, lag etwas, was wohl das Opfer sein musste.

"Verdammt!" rutschte es ihm heraus, doch keiner nahm davon Notiz. Als er dies erkannte, gab er sich keine Mühe mehr, leise zu sein. "Hier stimmt ja gar nichts!" rief er laut und voller Empörung. "Kein schlafendes Dornröschen weit und breit, stattdessen dieses Gruselkabinett." Das Schwert in seiner Hand meldete sich durch ein heftiges Zucken. Es verlangte energisch nach dem Kopf des Froschungeheuers. "Ok, ok! Ich mach's! Aber dass sich hinterher keiner bei mir beschwert! Ich hab‘ mir das nicht ausgedacht! Ich bin nur ein unbedeutender Statist!"
Das Schwert zitterte vor Aufregung und Tatendrang, so dass es nichts ausmachte, dass er es hielt, als sei es ein Küchenmesser. Er ging einen Schritt auf das Monster zu, einen und noch einen, holte aus und hielt inne. Was auch immer dieses Ding darstellen sollte, es hatte ihn bemerkt und sah ihn mit seinen grausigen Augen an. Er schrie laut auf vor Schreck, denn der Blick fuhr ihm fühlbar durch Mark und Bein. "Nein!" gellte es von irgendwoher. Doch das Schwert in seiner Hand ließ sich davon nicht beirren. Er musste nur festhalten, das wusste er, also tat er es, schloss die Augen und ließ das Schwert tun, was getan werden musste. Eine Sekunde später rollte der Kopf des Monsters direkt vor seine Füße. "Nein!" gellte erneut eine schrille Stimme von irgendwoher. Ein Schwerthieb und noch einer und noch einer, dann war der Kopf ab, der Rest des Monsters zerfloss in eine glitschige Masse, die ekstatischen Gruselgestalten versanken darin.

Neugierig beugte er sich über den Stein um zu sehen, wen er da eigentlich gerettet hatte. "Küsse sie!" drängte ihn jemand, der direkt hinter ihm stehen musste, doch als er sich umdrehte, war da keiner. Natürlich nicht! Da! Schon wieder! Das konnte doch nicht ernst gemeint sein? "Küss die Königin!" drängte die schmeichelnde Stimme, doch er hörte nicht darauf. Natürlich nicht. Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, diese steinalte Vettel zu küssen. Lebte die überhaupt noch? War er zu spät gekommen? Hatte sich seine Mühe überhaupt gelohnt? So alt wie die war, würde sie sowieso nicht mehr lange leben! Er schüttelte unwillig den Kopf. Da hat man mich ja ganz schön reingelegt: Kein Dornröschen weit und breit!
Angeekelt starrte er auf das kopflose Ungeheuer. Und wie ein Kind, das eine totes Tier findet, stocherte er, fasziniert und angeekelt zugleich, mit der Schwertspitze in der Masse herum, förderte etwas Rotglänzendes zutage und hob es geschickt mit der Schwertspitze auf.
"Nein! Berührt es nicht!" warnte ihn die Alte, die irgendwie wieder zu Kräften gekommen war und mit baumelnden Beinen auf dem Stein saß. "Nehmt es nicht. Es gehörte dem Dämon!"
"Keine Angst! Es gehört mir", beruhigte er sie. "Ich hätte nicht gedacht, dass ich es ausgerechnet hier finde." Er bückte sich, steckte das rote Ding in die Hosentasche und machte einen weiten Satz rückwärts, als plötzlich ein Flügel ein letztes Mal zuckte.
"Tut, was Ihr nicht lassen könnt. Aber kommt jetzt endlich! Wir müssen fort von hier!" drängte die Alte. "Beeilt Euch! Bringt mich hier weg. Schnell! Helft mir!"
"Klar!" stimmte er ihr zu. "Nichts wie weg! Besonders gemütlich ist es hier nun wahrlich nicht."
Vor dem Stein ging er in die Hocke und die Alte kletterte auf seinen Rücken. Er hielt den Atem an, denn sie stank fürchterlich. Zum Glück war sie leicht. Er spürte ihr Gewicht kaum, so dass er schneller vorankam, als er befürchtete. Das Schwert hüpfte behände hinter ihm her. Er hastete über die Zugbrücke und hielt einen Moment inne, um sich umzusehen. Seine Erleichterung hätte nicht größer sein können, als nur nackte, schwarzes Mauerwerk vor sich sah: Keine Rosenranken weit und breit.
"Los! Weiter!" keifte die Alte auf seinem Rücken und schlug ihm heftig auf den Kopf, ganz so, als sei er ein störrischer Esel.
Und wie ein störrischer Esel blieb er stehen. Die Zugbrücke wurde quietschend und knarrend hochgezogen und die Mauer löste sich zu flirrendem Staub auf. Auch der Turm war schon verschwunden. Das schrille Geräusch der Zugbrückenketten hing noch unangenehm in der Luft, als alles mit einem dumpfen "plopp" verschwand. Da erst lief er mit seiner Last weiter. Bei einem alten Baum hielt er an. Sie waren jetzt weit genug weg. Er ließ sich mitsamt seiner Last ins Gras fallen. Er war fix und fertig von der ungewohnten Plackerei. Er fühlte unendlich erschöpft und ausgelaugt und so gar nicht wie ein siegreicher Held. Die alte Frau hüpfte von seinem Rücken und ging um ihn herum. Er selbst war viel zu müde zum Aufstehen.

"Ihr habt Euch Zeit gelassen, Herr Ritter, viel zu viel Zeit, Herr Ritter. Doch glücklicherweise ist nun alles zu einem guten Ende gekommen", schniefte sie und ein paar Tränen rannen ihr über die faltigen Wangen.
"Hier!" Verlegen reichte er ihr ein zerknülltes Papiertaschentuch hoch.
"Mein Dank ist Euch gewiss", sagte sie, nachdem sie sich die Nase geputzt hatte. "Ihr habt Euch wacker geschlagen. Als Belohnung habt Ihr einen Wunsch frei!"
"Küsse sie!" hörte er da wieder die Stimme von vorher. "Küss die Königin!" drängte die Stimme unerbittlich, doch er gab nichts darauf. Königin hin oder her, es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, diese Frau, die seine Mutter hätte sein könnte, zu küssen.
"Nennt mir Euren Wunsch!" Sie zupfte in aufmerksamkeitsfordernd am Ärmel. "Nennt mir Euren Wunsch damit ich ihn erfüllen kann und Ihr Eures Weges ziehen könnt. Ihr solltet nicht länger als notwendig hier verweilen."
"Ok! Ok! Ein Wunsch? Nicht schlecht! Nur einer?" antwortete er, immer noch im Unklaren darüber, was gespielt wurde. "Also gut. Wenn ich hier nicht länger bleiben soll, möchte ich zurück. Ich habe genug von verrückten Märchen, schwarzen Messen und faulem Zauber. Ich möchte nach Hause! Einfach nur nach Hause!"
Die Frau hob die Hände elegant in die Höhe. Vermutlich beginnt jetzt eine Beschwörung, dachte er und wartete gespannt, wie es wohl sein würde. "Halt!" rief er laut. "Einen Moment noch!" Unvermittelt sprang er auf, drehte sich um, rannte ein paar Schritte. Als er zurückgerannt kam, schwenkte er ein weißes Spitzentaschentuch in der Hand. "Was man hier nicht alles findet! Sie können jetzt beginnen! Ich bin bereit! Muss ich irgendwas tun?"
"Nein, nein!" beruhigte ihn die Frau. "Ich mach das schon. Schließt die Augen und denkt an daheim. Das ist alles!"

Valin erhob zum zweiten Mal Hände, murmelte ein paar Worte, bewegte die Finger in der vorgeschriebenen Reihenfolge und der Fremde verschwand. Erst viel später sollte sie herausfinden, dass er seinen roten Stein verloren hatte, als er sich bückte, um das weiße Tuch aufzuheben.

Der Lichtpalast erwachte zu neuem Leben, als Valin das Schwert auf dem Hügel Gladiol in die Erde steckte. Er war wesentlich kleiner als zuvor, denn das Schlachtross hatte der Ritter mitgenommen. Sie würde es holen müssen, sobald ihr Körper die Auswirkungen der Gefangenschaft vollständig überwunden hatte. Das war nur eine Frage der Zeit, doch den Kummer über die Geschehnisse würde sie niemals überwinden. Und für Malfé war jede Hilfe zu spät gekommen. Es gab nichts, was sie hätte tun können. Nichts!
Obwohl der Magier tot war, blieb Malfé seine Gefangene. Sie würde es bleiben bis in alle Ewigkeit. Von geborstenem Mauerwerk und Gestrüpp umgeben, stand sie, verwandelt in eine gläserne Statue, und reckte die Hände anklagend zum Himmel.

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