Kapitel 45

Sie waren zu fünft, als sie die noble Privatbank betraten, die berühmte Rocklady Magnata Mai und ihre Eskorte. Sie legte nicht nur bei sich selbst großen Wert auf das Outfit, auch ihre Leibwächter waren entsprechend herausstaffiert. Sie steckten allesamt in legeren, schwarzen Anzügen, die dazu geeignet waren zu verbergen, was ein Leibwächter zu verbergen hatte. Sie waren getarnt mit offensichtlich falschen Bärten, breitkrempigen Hüten, verspiegelten Sonnenbrillen und weißen Handschuhen. Eni, Manni, Franz und Maik, wahre Bilderbuch-Bodyguards, flankierten dienstbeflissen ihre Schutzbefohlene, deren Aufmachung unweigerlich die Aufmerksamkeit auf sich zog. Eine üppige, platinblonde Haarmähne ergoss sich über Magnatas Rücken. Von ihrem Gesicht war allerdings nicht viel zu sehen; eine riesige Sonnenbrille ließ nur die Nasenspitze und den grellrot geschminkten Mund frei. Passend zu ihrer Leibgarde trug sie ebenfalls schwarz. Eine enge Lederhose schmiegte sich um ihre langen Beine, ein geschnürtes Mieder zeigte meh, als es verhüllte. Dazu trug sie rote Stiefel und Handschuhe, die ihr bis über die Ellbogen reichten.

Die drei weiblichen Bankangestellten unterbrachen ihre Arbeit und beobachteten gebannt den Auftritt der berühmten Rocklady, der ihnen schon vor Tagen angekündigt worden war. Mittwochvormittag war immer wenig los in der Bank und sie genossen die Abwechslung.
Der Bankdirektor stieß einen anerkennenden Pfiff aus, als er ihren Marsch durch den Schalterraum auf dem Bildschirm in seinem Büro beobachtete. Der Agent hatte wahrlich nicht zuviel versprochen. Allerdings fand er die Anzahl der Leibwächter etwas übertrieben, hatte aber gehört, dass diese Art von Stars zu Auffälligkeiten neigten. Man hatte ihm gesagt, dass sie eine berühmte Sängerin wäre, die im letzten Jahr außergewöhnlich hohe Gagen erhalten habe. Persönlich lehnte er diese Art Musik rigoros ab. Als Bankdirektor mit Leib und Seele hatte er aber wahrlich nichts dagegen, das Geld, das damit verdient wurde, zu verwalten.
Seine Sekretärin war im Urlaub, so dass er sich selbst in den Schalterraum bemühen musste, um die gewinnträchtige Kundin zu empfangen. Er begrüßte sie geschäftsmäßig neutral und wies ihr ohne übertriebene Höflichkeit den Weg zu seinem Büro.
Die Leibwächter blieben im Schalterraum zurück. Da die vier jedoch nichts weiter machten, als offensichtlich wichtig herumzustehen, verloren die drei Bankangestellten schnell das Interesse an ihnen. Stillschweigend wandten sie sich wieder der Beschäftigung zu, bei der sie unterbrochen worden waren.

Der Bankdirektor und Magnata Mai nahmen Platz. Er goss Kaffee in die bereitstehenden Tassen und sie ging sofort zum Geschäft über. Gekonnt ließ sie den Deckel des Aktenkoffers aufschnappen, den sie vor sich auf den Tisch gestellt hatte. Sie holte einen handelsüblichen Tacker und eine Rolle Paketklebeband heraus, ebenso einige Papiere, die sie, mit flinker Hand und leicht vornübergebeugt, vor dem Bankdirektor ausbreitete. Statt auf die Papiere zu sehen, wie es sich gehört hätte, versenkte er jedoch seinen Blick in ihr Dekolleté. Dieser Moment der Unachtsamkeit genügte. Schon nagelte ein Messer den Ärmel seines teuren Maßanzuges auf der hochglanzpolierten Schreibtischplatte aus Mahagoni fest. Das Messer zitterte ein wenig, der Bankdirektor etwas mehr, denn es steckte genau zwischen zwei Ärmelknöpfen, kaum einen Millimeter neben seinem Handgelenk. Blass, aber tapfer, lächelte er sein Gegenüber an, wollte sich als Mann von Welt beweisen, denn er hielt die Attacke für einen etwas misslungenen Scherz. Doch statt einer entschuldigenden Erklärung sprang die berühmte Rocklady katzengleich hinter ihn, ein zweites Messer in der Hand, das sie ihm an den Kehlkopf drückte. Als sie ihm ihre Anweisungen gab und wie zufällig mit den Lippen sein Ohr berührte, konnte er nicht verhindern, dass ihn eine eigentümliche Erregung überfiel.
"Der Safe," flüsterte sie. "Öffnen Sie den Safe! Und keine falsche Bewegung! Ich weiß, was drin ist. Sie sollten dafür nicht ihr Leben riskieren!" Mit einem Ruck zog sie das andere Messer aus dem Tisch und zeigte damit auf die Stelle, wo der Geheimsafe der noblen Privatbank verborgen war.
Das Blut wich aus dem Gesicht des Bankdirektors. Sie war bestens informiert. So wie sie wusste, dass er ausgerechnet heute einen Koffer voller Schwarzgeld eines stadtbekannten Immobilienhais zwischenlagerte, so mochte sie auch noch sehr viel mehr wissen. Das machte ihn gefügig. Die Klinge an seinem Hals sorgte überdies dafür, dass sein wenig ausgeprägter Heldenmut erst gar nicht auf den Plan gerufen wurde. Es dauerte nicht lange, bis sie die Scheine in dem mitgebrachten Aktenkoffer verstaut hatte. Sie vergaß nicht, ihn den Geheimsafe wieder schließen zu lassen. Dann tauschte sie eines der Messer gegen den Tacker, gebot ihm, sich zu setzen, Füße und Hände nebeneinander auf den Tisch zu legen und tackerte routiniert den teuren Maßanzug auf die Schreibtischplatte. Sie hob seinen Kopf hoch, klebte ihm mit dem Paketband den Mund zu und ließ ihn unsanft fallen. Der Schweiß brach ihm aus, als sie ihm ein "Danke für die Spende" ins Ohr hauchte.
Mehr! hätte er am liebsten laut gerufen. Mehr! Die Art, wie sie ihn fesselte, war ungemein faszinierend. Mehr! hätte er gerne von ihr verlangt, doch er traute sich nicht. Ihre Vorstellung war gar zu echt.

Ein kreischendes Geräusch durchschnitt plötzlich die arbeitsame Stille in der Schalterhalle.
"Was ist das?" fragte Eni mit barscher Stimme, der Aufstellung neben der Tür bezogen hatte.
"Ach, das ist nur ein Handwerker, der repariert einen Schrank im Waschraum", antwortet die Angestellte, ohne von ihrer Rechenmaschine aufzusehen.
"Los!" zischte Eni und deutete mit dem Finger auf Mani. "Sieh nach, was da los ist!"
Eine Hand unterm Jackett rannte Mani leichtfüßig nach hinten und um die Ecke und in den kleinen Flur, wo sich die Türen zum Direktorbüro, Hinterausgang und Waschraum befanden.

Die Tür zum Waschraum und die Tür zum Büro öffneten sich unglücklicherweise im selben Augenblick. Sekundenlang standen sich die Rocklady und der Handwerker gegenüber.
"Rob ...!?" stotterte dieser verdattert. "Was ...!?" Er hatte sie erkannt, trotz der Maskerade, er würde sie immer und überall erkennen. "Was ...!?"
Sie zog es vor, nicht zu antworten, sondern drehte ihm gelassen den Rücken zu, schloss die Bürotür ab und ließ den Schlüssel in ihr Mieder gleiten.
"Keine Bewegung" zischte es in diesem Moment an seinem Ohr und Vince hütete sich, dergleichen zu tun. Mit einem Messer im Rücken ist nicht zu spaßen.

Eine der Bankangestellten legte eine Zeitschrift, in der sie gelangweilt geblättert hatte, in die Schublade zurück und holte ihre Handtasche heraus. Ihre Bewegungen waren langsam und bedächtig, mit den Gedanken ganz woanders. Dadurch entging sie für Sekunden der Aufmerksamkeit ihres Bewachers. Erst als sie schon fast um die Ecke zum Waschraum gebogen war, spurtete Franz los, doch er kam zu spät. Die Angestellte, eine begeisterte Kriminalromanleserin, hatte die Situation sofort erfasst. Noch bevor sich die Hand ihres Verfolgers auf ihren Mund legen konnte, kreischte sie "Feuer". Die eine Bankangestellte, die immer noch mit ihrer Rechenmaschine beschäftigt war, reagierte nicht, wohl aber die andere, die es schaffte, den Alarmknopf zu drücken, bevor sie von einem rechten Haken niedergestreckt wurde. Mit einem gewaltigen Satz über einen Blumentrog hinweg erreichte Maik die Angestellte an der Rechenmaschine, versetzte ihr ebenfalls einen Kinnhaken und stürmte nach hinten.
Die junge Frau, die mit ihrem Gekreische den Alarm ausgelöst hatte, wurde von Franz ebenfalls mit einem Kinnhaken zum Schweigen gebracht. Vince packte daraufhin die Wut. Eine Frau schlagen, das ging eindeutig zu weit, und er vergaß darüber das Messer in seinem Rücken. Mit einem fast raubtierhaften Sprung überwand er die Entfernung zwischen sich und dem Peiniger der jungen Frau und noch bevor seine Füße den Boden wieder berührten, war Franz zu Boden gegangen und rührte sich nicht mehr. Blitzschnell drehte er sich, um den zweiten Kerl niederzumachen. Seine Chancen waren gut, doch er hatte nicht mit der Rocklady gerechnet.
"Schluss jetzt ..." hörte er noch, bevor ihre ringbestückte Faust erbarmungslos wie ein Hammerschlag gegen seine Schläfe krachte und eine dicke Schramme in die Kopfhaut riss. Er sackte wie ein leerer Sack in sich zusammen.
"Verdammt! Verdammt! Verdammt!" fluchte Robina vom Wald alias Magnata Mai. "Wir haben zuviel Zeit verloren." Wütend trat sie dem am Boden liegenden Vince in die Rippen. "Scheißkerl! Der macht immer nur Ärger!" Auch Franz erhielt einen Fußtritt in die Rippen, bevor sie sich hinabbeugte und ihn mit einem heftigen Ruck wieder auf die Beine stellte. Mani griff ihn am anderen Arm und sie zerrten ihn zum Ausgang.
An der Eingangstür bahnte sich mittlerweile ein zweiter Zwischenfall an. Der Mann vom Wachdienst erschien zu früh. Darauf getrimmt, Banken zu bewachen, fiel ihm natürlich sofort auf, dass etwas nicht stimmte. Es gab keine Bank der Welt, in der sich nicht mindestens ein Bankangestellter im Schalterraum aufhielt.
Eni, der ihm wohlerzogen die Tür aufgehalten hatte, verpasste ihm in dem Moment einen Kinnhaken, als er das Funkgerät aus der Tasche zog.
Gemessenen Schrittes und doch sehr zügig verließen Magnata Mai und ihre Eskorte den Ort des Geschehens und verschwanden im Eingang der nahegelegenen U-Bahn-Station. Im Laufen zog sich Magnata etwas über, und die vier anderen zogen etwas aus. Unten angekommen, unterschiedenen sie sich in nichts von den anderen Passagieren, die gelangweilt auf die Bahn warteten und dem oberirdischen Sirenengeheul keine Beachtung schenkten. Das mittlerweile vorgefahrene Polizeiaufgebot konnte ihnen nicht mehr gefährlich werden.

Vince, wie immer hart im Nehmen, war unterdessen schnell wieder auf die Beine gekommen. Völlig kopflos angesichts des unerwarteten Wiedersehens mit Rob, kam ihm überhaupt nicht in den Sinn, dass er Zeuge eines Banküberfalls geworden war. Er stürmte blindlings darauf los, übersprang reflexartig den am Boden liegenden Wachmann, stieß die Tür auf, rempelte sogar einen der Polizisten an, ohne sich aufhalten zu lassen. Der Gedanke an Rob beherrschte ihn völlig. Er musste sie unbedingt einholen. Das gab ihm so viel Schnelligkeit, dass die gut trainierten Polizisten überrascht wurden. Selbst der Ausruf "Stehenbleiben oder wir schießen" ließ ihn nur einen winzigen Moment lang zögern, doch nicht lange genug, um tatsächlich an Geschwindigkeit zu verlieren. Ein scharfer Schmerz am Oberarm brachte ihn für den Bruchteil einer Sekunde ins Trudeln. Instinktiv presste er die Hand auf die schmerzende Stelle und rannte nur noch schneller. Irgendwann lief er geradewegs in eine offenstehende Haustür, übersprang eine Hinterhofmauer fast aus dem Stand, kletterte in ein offenstehendes Fenster einer Parterrewohnung, sprintete einer erschrockenen alten Frau durch die Wohnung und sprang durch ein weiteres Fenster in den dahinterliegenden Hof, über eine andere Mauer, durch eine andere Tür, rechts um die Ecke, dann links herum, noch ein Hof, noch eine Mauer, noch eine Tür, sprang eine ausgetretene Steintreppe hinab, schlug am unteren Ende hin, spürte das Blut nicht, das ihm aus der Nase schoss, hinein in ein dunkles Kellerloch. Er kroch auf Knien unter Abflussrohren durch, stieß mit dem Kopf gegen einen Steinvorsprung, spürte das Blut nicht, das ihm von der Schläfe floss, kroch im Dunkeln über Kohlenreste und undefinierbaren Schutt auf einen kleinen Lichtschlitz zu, stieß eine Kohleneinfüllabdeckung auf, tauchte torkelnd zwischen Mülltonnen wieder ans Tageslicht, überquerte noch einen Hof, überwand noch eine Mauer, öffnete eine Tür. Völlig atemlos und mehr als erschöpft, schob er sie auf und stolperte in ein düsteres Treppenhaus. Dort drückte er sich in eine Ecke, wischte sich den Schweiß von der Stirn und wartete schweratmend, bis die Schritte, die ihm von oben entgegenkamen, verklungen waren. Wieder einigermaßen bei Atem, wischte er sich nochmal über die Stirn, stieg er die Stufen hinauf und drückte mit blutverschmierten Fingern auf einen Klingelknopf in der obersten Etage.

Vince war kein erfreulicher Anblick. Das Gesicht war verschrammt, blutverschmiert und kohlenschwarz, die Augen blickten glasig, sein Atem ging rasselnd.
"Rudi! ..." krächzte Vince und erschrak selbst beim fremden Klang seiner Stimme. "Rudi! ..."
Geistesgegenwärtig zog ihn Rudi in die Wohnung, nicht ohne zuvor einen argwöhnischen Blick ins Treppenhaus zu werfen. Hastig verriegelte er die Tür.
"Was willst du hier?!" Rudi war derart verärgert über Vince' Auftauchen in seiner Privatwohnung, dass er dessen Zustand keine Beachtung schenkte. "Du musst sofort wieder gehen! Was hast du dir überhaupt dabei gedacht?" Er machte Anstalten, die Tür wieder zu öffnen.
"Rudi ...!" krächzte Vince noch kläglicher als zuvor. "Ich kann so nicht auf die Straße ... ich kann nichts dafür ... ich ..."
"Stopp! Ich will nichts wissen! Gar nichts!" unterbrach er ihn rüde. "Du siehst ja ganz schön schlimm aus, so kannst du tatsächlich nicht unter die Leute. Komm, hier ins Bad." Rudi ging voran, drehte den Wasserhahn auf und drückte ihm eine Küchenrolle in die Hand. "Am besten beachtest du den Spiegel nicht!" riet er ihm und stieß ihm in die Rippen. "Und beeil dich!"
Vince tat, wie ihm geheißen und ließ mit zusammengebissenen Zähnen Wasser über Gesicht und Hände rinnen. Fasziniert beobachtete er, wie die schwarz-rote Brühe in den Abfluss gluckerte. Er gab sich einen Ruck und wiederholte die ganze Prozedur noch einmal mit Hilfe von Seife, sparte auch die Haare nicht aus, trocknete sich vorsichtig ab und biss die Zähne zusammen. Er sah fürchterlich aus. Die Nase rot und verquollen, eine lange dunkelrote Schramme, ringsherum bläulich verfärbt und leicht aufgebeult, zog sich von der Stirn über die Schläfe bis hin zum rechten Backenknochen. Seine Hand tastete vorsichtig über eine eigroße Beule am Hinterkopf und fuhr über den zerfetzten Jackenärmel. Da fiel es ihm wieder ein: der Schuss. Nur nicht dran denken, sagte er sich, nur nicht dran denken. Und dann musste er sich setzen.
Rudi kam ins Bad, gefolgt von zwei Männern, die ihm wie aus dem Gesicht geschnitten waren.
"Meine Brüder", erklärte Rudi überflüssigerweise. "Sie bringen dich nach Hause, oder wo auch immer du hinwillst ... Geht’s wieder?" fragte er mehr aus Höflichkeit als aus Interesse.
"Ach, alles halb so schlimm", antwortete Vince tapfer und versuchte sich an einem Lachen, das allerdings etwas kläglich ausfiel. "Alles was mir fehlt ist ein doppelter Whisky!"
Als hätten sie fest mit dieser Antwort gerechnet, holte der eine Bruder eine etikettenlose Flasche hervor, fast voll, zog den Korken gekonnt mit den Zähnen aus dem Flaschenhals, nahm einen langen Schluck und reichte sie Vince.
Vince, der natürlich nicht mit der sofortigen Erfüllung dieses unbedacht geäußerten Wunsches gerechnet hatte, sah sich nun genötigt, dem Beispiel des Bruders zu folgen, obwohl ihm der Sinn mehr nach Kamillentee stand. Heldenhaft nahm er nichtsdestotrotz einen kräftigen Schluck, unterdrückte ein Ächzen und reichte sie an Rudi weiter.
"Na, Kleiner, wo sollen wir dich denn hinbringen?" fragte der andere Bruder, bei dem die Flasche mittlerweile angelangt war und der sie zu Vince großer Erleichterung austrank. Jeder noch so kleine Schluck wäre zuviel gewesen.
"Nicole Lamay", kam seine Antwort wie aus der Pistole geschossen, noch bevor Vince Zeit gehabt hätte, überhaupt darüber nachzudenken. "Zu Nicole!" wiederholte er bestärkend. "Sie ist eine ausgezeichnete Krankenpflegerin."
"Nicole Lamay!" flötete Rudi, der es auf einmal nicht mehr so eilig zu haben schien, ihn loszuwerden. (Vince starrte ihn verblüfft an. Was habe ich da nur wieder angerichtet?) "Nicole Lamay!" kicherte Rudi verschmitzt. "Ich habe sie einmal gesehen. Bei ihrer Figur erwachen selbst Tote wieder zum Leben."
"Rudi! Wie kannst du nur ...!" entsetzte sich der eine Bruder ernsthaft, und Rudi bat daraufhin ebenso ernsthaft um Verzeihung.
Mit abwesendem Gesichtsausdruck hörte Vince einer vollkommen absurden Unterhaltung zu, in der es sich um die besonderen Fähigkeiten von Nicole Lamay drehte. Die Schmerzen in Kopf und Arm und die Übelkeit im Magen, hinderten ihn daran, sich zu wundern, unüberlegte Fragen zu stellen oder gar zu lachen.
"Regt euch ab, Jungs!" griff der andere Bruder beschwichtigend ein. "Er hat vollkommen recht. Eine junge Frau ist immer die beste Medizin, wenn es einem schlecht geht. Ich bin sicher, Nicole Lamay hätte Rudis Kommentar als Kompliment aufgefasst. Sie würde sich bestimmt freuen, so gelobt zu werden!"
Vince verstand immer weniger, aber es war ihm egal. Er hatte nur den einen Wunsch, sich zu übergeben, konnte sich aber glücklicherweise beherrschen.
"Nicole Lamay!" murmelte der eine Bruder nochmal und sah Vince mit unverhohlener Bewunderung an.

Vince war kein erfreulicher Anblick. Das Gesicht war verschrammt und verquollen, die Augen blickten glasig, die Haare hingen wirr am Kopf herab und sein Atem roch nach Alkohol.
"Nicole! ..." keuchte Vince und hielt sich mit einer Hand am Türrahmen fest. Nicole wurde blass und starrte ihn entgeistert an. "Nicole! ..." hauchte er ein weiteres Mal.
"Was willst du denn hier?" fuhr sie ihn an. "Du kannst nicht hereinkommen!" Nicole war derart fassungslos über Vince' Auftauchen, dass sie dessen Zustand keine Beachtung schenkte.
"Nicole! ... Bitte ... ich brauche deine Hilfe!" flehte er, mittlerweile schon ziemlich grün im Gesicht.
"Meine Hilfe? ... du?" war das letzte was er hörte, bevor er zusammenklappte.
Da Nicole ihn nicht zwischen Tür und Angel liegen lassen konnte, bückte sie sich, packte ihn an den Beinen und zog ihn herein. Mit geübtem Blick besah sie sich seine Verletzungen und öffnete danach ohne allzugroße Eile ihr wohlsortiertes Erste-Hilfe-Schränkchen.
Vince kam bald wieder zu sich und brummte ungehalten vor sich hin, als Nicole seinen Kopf abtastete.
"Du musst die Jacke ausziehen, damit ich deinen Arm versorgen kann!" wies sie ihn mit professioneller Unfreundlichkeit an. "Kannst du aufstehen?"
"Na klar!" antwortete er und richtete sich prompt viel zu schwungvoll auf. Er taumelte und glitt wieder zu Boden. Fast hätte er es nicht geschafft, den unwillkürlich aufsteigenden Schrei zurückzuhalten. Nach einigem Gejammer und Gestöhne saß er endlich in einer aufrechten Position. Nicole hatte seinen Anstrengungen ungerührt zugesehen und zog ihm nun, ziemlich unsanft, die Jacke aus. "Gib mir ein Stück Holz, ich klemm's zwischen die Zähne, während du die Kugel rausholst ..."
Nicole sah ihn minutenlang ungläubig an. Dann lachte sie mindestens genauso lange, bevor sie endlich wieder in der Lage war zu sprechen.
"Werd' jetzt bloß nicht theatralisch. Du siehst zwar ganz schön mitgenommen aus und hast sicher einiges abgekriegt, aber verlange nicht von mir, dass ich bei deinem Spiel mitmache. Das was du am Arm hast, ist weder ein Durchschuss, noch ein Einschuss, noch ein Streifschuss, noch sonst irgendein Schuss, genauso wenig, wie du ein Westernheld bist. Den einzigen Schuss, den ich hier sehe, ist der in deinem Kopf. In deinem Arm steckt keine Kugel, du brauchst kein Holz und auch keinen Whisky. Alles was du brauchst, ist ein großes Pflaster. Wer weiß, wo du dir den Arm aufgerissen hast, aber geschossen hat garantiert niemand auf dich. Alles was du brauchst ist eine Tracht Prügel für deine Unverschämtheit. Und jetzt Schluss mit dem Theater und halt endlich still!"
"Au!" schrie er ziemlich laut und ziemlich ehrlich, als Nicole auf die Wunde am Arm einen desinfizierenden Sprühverband auftrug.
"So stark und so zimperlich", spöttelte Nicole.
"Nicole! ... Es tut mir leid, du weißt schon, wegen neulich ..." stammelte Vince, dem allmählich klar wurde, warum Nicole ihn so grob behandelte. Auf der Fahrt zu ihr hatte er sich, angestachelt durch Rudis Brüder, ausgemalt, wie besorgt und bemüht sie um ihn sein würde, und nun das. Da war eindeutig etwas schiefgelaufen. Sie hatte allen Grund, sauer zu sein. Nach dem Besuch in der Villa hatte er die Verabredung mit ihr einfach vergessen. Er war nach Hause gegangen, hatte sich ins Bett gelegt und geschlafen. Bis heute hatte er nicht mehr an sie gedacht. Das konnte er ihr unmöglich beichten. Sie würde das niemals verzeihen.
"Nicole, hör' zu! Ich kann dir alles erklären ..."
"Spar dir deine Erklärungen. Sie interessieren mich nicht, ich will nichts davon wissen. Ich bin fertig mit dir. Du wirst jetzt gehen, und zwar sofort, und das war's dann! Ich will dich hier nie wieder sehen! Nie wieder! Ist das klar?" Mit spitzen Fingern hob sie die reichlich verschmutzte und lädierte Lederjacke auf und warf sie voraus durch die schon geöffnete Wohnungstür. Das war eindeutig. Die Sache hier war gelaufen. Er sollte also schleunigst das Weite suchen. Mühsam stemmte er sich hoch, darum bemüht, weder mit dem Kopf noch mit dem verletzten Arm die Wand zu berühren. Mit dem leidenden Blick des unverstandenen Helden hob er sie mühsam auf, sparte sich allerdings weitere Worte, als er den Blick ihrer Augen sah.

Als am nächsten Morgen der Wecker klingelte, fühlte er sich wie gerädert und war versucht, einfach weiterzuschlafen, zumal er gestern in der ganzen Aufregung nicht mehr daran gedacht hatte, sich in der Firma abzumelden. Nun ja, er hatte eine wunderbare Entschuldigung, nur ob sie ihm sein Chef glauben würde, wagte er doch zu bezweifeln. Dabei war der doch selbst Schuld daran! Hätte er ihn nicht in dieses blöde Bankhaus abkommandiert, wäre das alles nicht passiert. Und alles nur, weil die beiden zusammen Golf spielten, eine Import-Export-Firma betrieben und so manche Mittagspause bei einer Domina verbrachten. Genauso zufällig wie er dies rausbekommen hatte, erfuhr Vince auch, dass der Bankdirektor die vergessene Werkzeugtasche noch am gleichen Abend von seinem Chauffeur hatte zurückbringen lassen.

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