Kapitel 26

"Ach! Sieh mal an! Du! Auch wieder da?" Alexander zuckte unter Mariannas eisigem Blick zusammen wie unter einem Keulenschlag. Sie hatte allen Grund, ungehalten zu sein. Immerhin hatte sie fast eine Viertelstunde dumm herumgesessen und auf ihn gewartet. "Ich dachte schon, du wärst gegangen, ohne Dich zu verabschieden!"
"Ich ... ich war kurz mal an der frischen Luft", stammelte er verstört. "Mir dröhnte der Kopf so ..."
"Wie dem auch sei ... jetzt bist Du jedenfalls wieder da." Er sah derart zerknirscht aus, dass es ihr leichtfiel, ihm zu vergeben. "Lass uns weitermachen, wo wir aufgehört haben!" Ohne seine Antwort abzuwarten, schlang sie besitzergreifend ihren Arm um seine Taille und zog ihn an sich.
"Oh nein", stammelte Alexander verwirrt.
"Na! Na! Nun mach hier bloß nicht einen auf Unschuldslamm ...!" kommentierte Marianna mit einem leicht aggressiven Unterton in der Stimme.
"Ich bin nicht Dein Spielzeug", entschlüpfte es ihm kaum hörbar. Mit trotzig zusammengekniffenen Lippen starrte er an ihr vorbei.
"Keine Angst, mein Lieber, ich spiele nicht", beschwichtigte sie ihn. "Es ist mir sehr ernst, sehr ernst sogar ..."
Heiß spürte er ihren Atem an seinem Ohr. In ihren Augen flackerte ein leidenschaftliches Glitzern, ihr lächelnder Mund versprach ihm den Himmel auf Erden. Alexanders Vorbehalte schmolzen dahin wie ein Schneemann in der Sonne.
"Komm! Ich möchte mir Dir tanzen! Mein Lieblingslied." Es war eine Lüge. Aber was machte das schon? Auf der Tanzfläche riss sie ihn übermütig lachend in ihre Arme, und mit einer schnellen Bewegung beugte sie sich über ihn und presste ihre Lippen fest auf seinen Mund.
Ehe Alexander wusste, wie ihm geschah, erwiderten seine Lippen ihren fordernden Kuss. Eng drängte er sich an die Geliebte. Er war bereit, ihr alles zu verzeihen und entschuldigte ihr verletzendes Benehmen. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als für immer und ewig in ihrer Nähe bleiben zu können und hoffte, dass die Musik niemals enden würde. Er war bereit, ihr zu geben, was immer sie von ihm verlangte.
Schwer atmend und mühsam ihre Erregung unterdrückend, führte Marianna ihn schließlich zurück an ihre Plätze. Sie brauchte dringend eine Erfrischung und auch Alexander sah aus, als könne er einen Schluck vertragen. Als sie die Drinks bestellte, erzählte der Barkeeper ungefragt, dass "FRS" die Abkürzung für "freies rollierendes System" war. Marianna fing darüber an zu kichern wie ein kleines Schulmädchen. Sie schien nicht mehr ganz nüchtern zu sein, doch Alexander störte sich nicht daran. So war sie ihm allemal lieber. Unter großem Gelächter dachten sie sich alle möglichen Bedeutungen für diese merkwürdige Bezeichnung aus, doch deren wahren Sinn errieten sie nicht. So verging unter Lachen und Küssen die Zeit wie im Fluge.
"Ich habe Hunger! Zeit für ein frühes Frühstück!", unterbrach Marianna ihr Geturtel und lachte fröhlich. "Lass uns gehen!" Eng umschlugen und immer noch lachend verließen sie die Diskothek und wurden auf der Straße vom Tageslicht empfangen.

Ein Einhorn scharrte mit den Hufen, ein Pfau schlug krächzend ein Rad. Alexander taumelte und wäre gestürzt, hätte Marianna ihn nicht festgehalten und geküsst. Dieser Kuss jagte einen Schauer des Entzückens durch seinen Körper und entlockte ihm ein lustvolles Stöhnen. Dieser Kuss, der Ewigkeiten zu dauern schien, vertrieb jedwede Erinnerung an Pfauen und Einhörner.
"Zeit zu gehen!" flüsterte sie heiser, als sie endlich seinen Mund freigab. Alexander hätte sich zu gerne weiter von Marianna küssen lassen, aber sie tat es zu seiner Enttäuschung nicht, sondern stieg in das Taxi, das sie soeben herbeigewinkt hatte. "Na komm, steig schon ein! Oder willst Du nicht mit zu mir?" fragte sie durch die geöffnete Wagentür. Alexander starrte Marianna wie vom Donner gerührt an. DAMIT hatte er nicht gerechnet. Jetzt würde alles gut werden! Sie hatte endlich erkannt, dass sie ... Sonst hätte sie ihn doch nicht ... "Was ist? Kommst Du mit?" Marianna war schon wieder etwas ungeduldig; dass die Jungs immer nicht wussten, was sie wollten und sich erstmal ordentlich zieren mussten.
"Ja ... also ... sehr gerne ... wenn Du meinst ... also, ich meine, wenn Du möchtest ..." Er wagte nicht, sie anzuschauen.
"Ich hätte Dich doch sonst wohl nicht gefragt, oder? Also, dann steig jetzt endlich ein!"

Alexander begutachtete den Inhalt des Kühlschrankes, während er überlegte, was Marianna wohl schmecken würde. Schließlich richtete er ein paar Schinkenbrote, die er liebevoll mit Essiggürkchen garnierte. Schmunzelnd goss er sich ein Glas Vitaminsaft ein. "... schenkt Ihnen frische Energie, wann immer Sie sie brauchen ..." stand auf der Flasche zu lesen. Vor lauter Aufregung verschluckte er sich.
Marianna hatte einen bodenlangen Bademantel an als sie zu Alexander in die Küche kam. Ihm schien es, als schwebte sie, eingehüllt in eine weiße Wolke, zur Tür herein. Sie hatte sich abgeschminkt und sah vom Duschen frisch und rosig aus. (Die Glückliche, wer sieht um die Zeit schon so aus?)
"Hm, danke", sagte sie, als Alexander ihr den Teller mit den belegten Broten hinschob und biss herzhaft zu.
Alexander saß ihr gegenüber und sah ihr beim Essen zu. Er war überglücklich und strahlte über’ s ganze Gesicht.
"Du kannst ja auch noch duschen", sagte sie. "Handtücher sind im Schrank hinter der Tür. Ich geh schon mal in mein Zimmer. (Alexander sprang hurtig auf.) Beeil Dich. Ich warte ...!" rief sie ihm hinterher, wobei sie vergnügt lachte.
Wie ein Wilder fuhrwerkte Alexander im Bad herum, und konnte sein Glück noch immer nicht fassen. In ein großes Badetuch gehüllt, sein Kleiderbündel unterm Arm, ging er zu Marianna.

Die weißen Vorhänge waren zugezogen und sorgten für gedämpftes Licht. Marianna lag im Bett und sah ihm schweigend zu, wie er sich zaghaft neben sie aufs Bett setzte. Ein nachsichtiges Lächeln umspielte ihren Lippen und linderte seine Unsicherheit ein wenig. So viel wollte er ihr sagen ... und noch tausend Millionen Dinge mehr. Er brachte jedoch keinen Ton über die Lippen. Übervoll mit Liebe, saß er reglos und stumm auf ihrem Bett. Da griff sie nach seinem Kopf und zog ihn zu sich hinunter. Ihre Lippen waren weich und warm, ihre Zunge feucht und neugierig. Verzückt genoss er die betörende Endlosigkeit dieses Kusses. Seine angeborene Scheu verschwand und schrankenlos stürmte seine Leidenschaft hervor. Er wollte sie nur noch glücklich machen, sie küssen und berühren. Als sie ihn aus dem Badetuch wickelte, wehrte er sich nicht. Der Wunsch, ihr ganz nahe zu sein und ihren Körper zu spüren, ließ ihn alle Zurückhaltung vergessen. Flüchtig wunderte er sich über sich selbst. Es wäre ihm nicht in den Sinn gekommen, es erneut gut und richtig zu finden, nackt bei ihr zu liegen. Sie zog ihn zu sich heran und er spürte beglückt ihre Weiblichkeit. Seine Glückseligkeit steigerte sich ins Unermessliche, als sie leise aufstöhnte. Marianna bedeckte seinen Hals mit heißen, fordernden Küssen und ließ ihre Zunge über seine Brustwarzen kreisen. Ohne die geringste Nötigung drängte sie sich dicht an ihn heran, so dass er jeden Muskel ihrer Oberschenkel spürte. Behutsam schob sie ihn ein Stück zurück und umfasste mit beiden Händen seine Männlichkeit. Alexander schloss die Augen und stöhnte. Ihren Griff lösend, liebkoste sie erneut seinen Oberkörper mit den Lippen. Leidenschaftlich klammerte er sich an sie.
"Komm!" stieß er hervor, aber Marianna schob ihn zurück, um mit ihren Fingern liebevoll seinen Körper nachzuzeichnen. Sie verstand es wunderbar, bereits das Vorspiel zu einem alles vergessen lassenden Erlebnis zu gestalten. Doch schließlich nahm sie ihn, wild und zügellos wie ein Orkan und gemeinsam tauchten sie ein in die feurigen Fluten der Lust, und es dauerte lange, bis der Orkan verebbte und sie gemächlich an den Strand der Realität zurücktrieben.

Alexander erwachte mit verklärtem Gesichtsausdruck und schmiegte sich frohen Herzens an die noch schlafende Geliebte. Jetzt war alles gut! Bevor er leise aufstand, küsste er andächtig ihre Schultern. Es war ruhig und es schien niemand sonst in der Wohnung zu sein. In der Küche öffnete er die Fenster und sah hinaus. Es war ein wunderbarer Tag. Ein Sonntag eben! Die Sonne schien, kein Wölkchen am Himmel, einfach perfekt. Dann schaltete er das Radio ein. Beschwingt huschte er hin und her, stellte Teller und Tassen auf den Tisch, kochte Kaffee und Eier. Er war einfach nur glücklich. Sein Leben war endlich so, wie er es sich immer erträumt hatte: leidenschaftlich, aufregend und abenteuerlich. Und Marianna war das Wunderbarste daran; sie war der Schlüssel zu allem. Jetzt war alles gut! Die letzten Monate, ausgefüllt mit abgrundtiefem Liebeskummer, waren wie durch Zauberhand vergessen. Wonnetrunken summte er leise zu einem Lied im Radio. Es endete mit einem mächtigen Paukenschlag, der Alexander aus seiner Heiterkeit aufschreckte. Ohne dass er es gewollte hätte, schlich sich ein leiser Zweifel in sein Herz. Was, wenn er sich geirrt hatte? Nein! Niemals! Nicht dran denken! Es war so schön gewesen, so wundervoll. Hatte Marianna denn nicht glücklich in seinen Armen gelegen? Hatte sie denn nicht jede seiner Zärtlichkeiten und jede Minute ihres Zusammenseins genossen? Sie hatten sich wunderbar unterhalten und viel gelacht. Ja! Aber ob es für sie reichte? Für eine Frau wie Marianna? Alexander seufzte tief und schob energisch diese dummen Gedanken zur Seite. Er goss sich Kaffee in eine mit roten Herzen bemalte Tasse und fischte sich aus dem Zeitschriftenstapel in der Ecke einen Gruselroman heraus.

Mitten in einer blutrünstigen Horrorszene zuckte er entsetzt zusammen; eine eiskalte Hand hatte ihn im Nacken gepackt.
"Marianna! Du bist es!" Er strahlte sie erleichtert an. "Hast Du mich aber erschreckt!"
"Hab ich gemerkt. Du warst ganz vertieft und hast mich nicht kommen hören", erwiderte sie lachend. "Guten Morgen, jedenfalls! Hat Dich der Gruselwahn gepackt?"
Verlegen schüttelte Alexander heftig mit dem Kopf. "Nein! Ich habe auf Dich gewartet. Willst du Kaffee?" eifrig hob er ihr die Kanne entgegen.
"Ja!" Sie ließ sich ihm gegenüber auf einen Stuhl fallen. "Ist sonst keiner da?'"
"Ich habe niemand gesehen. Ich bin schon eine Weile wach. Ich habe schon das Frühstück gerichtet", sprudelte es überschwänglich aus ihm heraus. Er baute alles vor ihr auf: Kaffee, Milch, Zucker, Marmelade, Wurst, Butter, Käse, Brot, Cornflakes, Erdnusscreme und Vitaminsaft.
"Nee, nee, danke. Ich will jetzt nichts essen. Ich habe keinen Hunger. Ich frühstücke nie! Nur Kaffee ... und eine Kopfwehtablette. Mir ist nicht so gut," bremste sie seinen Eifer ein wenig unwirsch. Sein treuherziges Gesicht und seine fröhliche Fürsorge machten sie fast wahnsinnig. "Ich glaube, ich geh erstmal duschen. Ich hab gleich noch einen Termin." Sie sah einen Schatten über sein Gesicht huschen. "Ich fürchte, ich bin noch nicht ganz wach", meinte sie entschuldigend und schaffte es sogar, von irgendwoher ein kleines Lächeln hervorzuzaubern. Schließlich konnte er ja nun wirklich nichts dafür, dass sie ein Morgenmuffel und überdies verkatert war. Aber hätte er nicht einfach gehen können, so wie es sich gehörte nach so einer Nacht? Wahrscheinlich nicht. Er war eben anders als die anderen. Heimlich schielte sie nach dem Gruselroman, der aufgeblättert neben Alexander lag. Es wäre jetzt zu schön, allein zu sein und sich in diesem Schmöker vergraben zu können. Sie sagte sicherheitshalber nichts mehr, denn nur zu gut erinnerte sie sich daran, was das letzte Mal geschehen war.
Das Schweigen setzte sich unangenehm zwischen ihnen fest. Da wurde Alexander, der sich verzweifelt um ein Gesprächsthema bemühte hatte, endlich fündig.
"Sag mal, gehst Du gerne ins Kino? Siehst Du Dir auch Gruselfilme an, oder liest Du nur sowas? (Marianna sah von ihrer Kaffeetasse auf.) Neulich hab ich einen Gruselfilm im Fernsehen gesehen, war ganz schön spannend. Möchtest Du heute mit mir ins Kino gehen? Es gibt einen neuen Vampirfilm."
"Heute hab ich leider keine Zeit. Ich muss noch einiges erledigen, vielleicht ein andermal", antwortete sie lapidar, nicht erkennend, welche Überwindung Alexander es gekostet hatte, diese Frage überhaupt zu stellen. Sie sah jedoch, wie sein strahlendes Gesicht erlosch und seine Augen verdächtig zu glänzen begannen.
Oh, oh, oh, dachte sie, nicht schon wieder. Da hätt ich gestern besser die Finger weggelassen ... nun ist der Kleine wieder unglücklich. Ein Drama aber auch, und ich bin schuld daran ... Marianna, die sich unter seinem brennenden Blick äußerst unbehaglich fühlte, stand auf, um die Milch in den Kühlschrank zu stellen.
"Sieh mich nicht so an!" fuhr sie ihn unvermittelt an, was ihr im selben Moment auch schon wieder leidtat. "Ich hab Dir nichts versprochen. Es war ein sehr schöner Abend, ich habe mich köstlich amüsiert, aber ..." Sie ging zu ihm und fasste ihn von hinten an den Schultern an. Eigentlich hatte sie ihn schütteln wollen, damit er zur Vernunft käme, doch es gelang ihr nicht. Stattdessen starrte sie wie gebannt auf die Line seines Nackens und drückte ihre Lippen darauf. Sie zog ihn an sich und ließ ihn auch nicht los, als sie weiterredete, obwohl sie genau wusste, dass es falsch war. Alles würde noch viel schlimmer werden. "Ich habe später noch einen Termin. Ab morgen bin ich für einige Zeit geschäftlich verreist ... und dann ... und dann ... und dann ... Versteh das bitte nicht falsch. Es hat nichts mit Dir zu tun. Ich habe einfach keine Zeit." Sie küsste ihn auf den Nacken und hielt ihn mit einer Hand immer noch fest umschlungen, während sie mit der anderen mit geradezu akrobatischer Geschicklichkeit nach ihrer Kaffeetasse angelte.
"Aber," begann Alexander, dem es ein Leichtes gewesen wäre, sich ihrem Griff zu entziehen, sich aber stattdessen lieber den Hals verrenkte, um sie anzusehen. "Aber Du hast doch gesagt ..."
"Nichts ABER, ich habe nichts gesagt und nichts versprochen und ich will nichts mehr davon hören", schnitt sie ihm energisch das Wort ab. Dann ließ sie ihn los, trat einen Schritt zurück, beugte sich vor und küsste ihn flüchtig auf die Stirn. "Irgendwann gehen wir zusammen ins Kino, ganz bestimmt! Jetzt muss ich erstmal unter die Dusche, damit ich einen klaren Kopf bekomme!" Glücklicherweise kam Eva in diesem Moment in die Küche und Marianna huschte schnell hinaus.

"Na, alle gesund und munter? Geht's gut?" grüßte Eva fröhlich.
"Nein!" antwortet Alexander kurz und bündig. "Überhaupt nicht!"
Eva sah ihn verstehend an. Sie goss sich Kaffee ein und lehnte sich zum geöffneten Fenster hinaus. Die Sonne schien verheißungsvoll, die Vögel sangen aus voller Kehle. Kinder lärmten im Hof, unterschiedlichste Musik drang durchs Fenster und vermischte sich zu einem beeindruckenden Gewirr von Tönen. Eigentlich war es ein herrlicher Tag.
So verging die Zeit in einträchtigem Schweigen, bis Marianna frisch geduscht und geschäftsmäßig kostümiert hereinplatzte.
"Alex, ich muss los! Soll ich Dich mitnehmen?" Sie klapperte mit ihrem Schlüsselbund, ging in den Flur und öffnete die Wohnungstür. "Alex! Was ist? Kommst Du mit?"
Alexander, bisher unschlüssig gewesen, sprang auf und rannte hinter Marianna her.
Kopfschüttelnd schloss Eva die Wohnungstür und klopfte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.

Die Fahrt ging in unbehaglichem Schweigen vonstatten und Alexander bereute zutiefst, nicht bei Eva geblieben zu sein. Sie verstand ihn wenigstens. Marianna raste mit quietschenden Reifen durch die Gegend und er hielt sich mit beiden Händen am Sitz fest. Mehr als einmal warf er ihr einen ängstlichen Seitenblick zu. Marianna! Ich liebe Dich! schrie alles in ihm, doch sie hörte ihn nicht und dumpfe Verzweiflung kroch hervor und zermalmte sein Herz. Er biss die Zähne zusammen und wünschte sich nur noch, dass sie anhalten möge, um ihn aussteigen zu lassen.
Endlich waren sie vor seinem Elternhaus angelangt. In einem Anfall bitterster Verzweiflung griff er nach ihrer Hand und zog sie an seinem Mund. Sekundenlang verharrte er in dieser Haltung. Marianna, die seine Tränen spürte, reagierte nicht, sondern sah stur geradeaus.

Marianna gab Gas und bog um die Ecke. Ohne Umwege fuhr sie direkt nach Hause. Natürlich hatte sie nichts zu erledigen. Sie fragte sich, nicht zu Unrecht, was sie sich eigentlich dabei gedacht hatte. Sie fand keine Antwort. Zugegebenermaßen bemühte sie sich nicht sonderlich, da sie im gleichen Atemzug beschloss, erstmal nicht weiter darüber nachzudenken und jedweden Gedanken an Alexander rigoros zu ignorieren. Nur keine Panik, nur kein schlechtes Gewissen. Nie wieder Alkohol! Nie wieder Männer! Nie wieder! So wie immer!
Zu Hause angekommen ging sie schnurstracks in die Küche, kochte nochmal Kaffee, drehte das Radio auf und schnappte sich noch stehend ein Gruselheftchen. Endlich! Doch irgendwas ging schief. Konzentrationsgeschwächt starrte sie mal hierhin und mal dorthin und stellte erst zwei Kaffeetassen später fest, dass sie ein Heft mit Kochrezepten in der Hand hielt. Angewidert pfefferte sie es in die Ecke und entschied sich zum Spazierengehen, drehte aber im Treppenhaus wieder um. Dann entschied sie sich, ein Bad zu nehmen, schaffte es aber nicht bis ins Badezimmer. Dann versuchte sie es nochmal mit Lesen, was aber immer noch nicht klappte. Als sie in diesem Zustand über das auf dem Boden liegende Kinoprogramm stolperte, beschloss sie, es diesmal richtig zu machen. Aufmerksam studierte sie das Nachmittagsprogramm und fand schließlich einen Film, von dem sie wusste, dass er Überlänge und ein trauriges Ende hatte. Ohne weitere Verzögerungen setzte sie ihr Vorhaben um und begab sich ohne Umwege in das glücklicherweise nahegelegene Kino.

Alexander indes verstand die Welt nicht mehr. Eine ganze Weile stand er noch vor dem Gartentor und starrte dem längst verschwundenen Auto hinterher. Eine Horde kreischender Kinder, die ihn fast umrannten, brachte ihn in die Wirklichkeit zurück. Er schniefte und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen fort. Ein Taschentuch hatte er natürlich nicht. Nun regte sich auch das schlechte Gewissen und leise schlich er ins Haus. Er hatte schon zum zweiten Mal versäumt, seiner Mutter Bescheid zu sagen. Er hatte es wieder einmal völlig vergessen. Und wer war schuld daran? Marianna! Er hoffte, dass seine Mutter sich nicht wieder so aufregen würde, und vor allem hoffte er, dass sie ihn nicht ausgerechnet jetzt erwischte. Doch umsonst!
"Wo kommst Du denn jetzt her? Weißt Du denn wie spät es ist? Weißt Du nicht, was für Sorgen ich mir gemacht habe? Weißt Du nicht, was Du mir versprochen hast?" schreckensbleich und zeternd kam sie aus der Küche und stellte sich ihm in den Weg. "Dieser Vince hat einen schlechten Einfluss auf Dich! Der setzt Dir lauter so Flausen in den Kopf. Zuerst diese Band, dann diese Ausgeherei. Immer wenn Du mit dem ausgehst ... Wie konntest du nur! Alexander! Ich habe mir solche Sorgen gemacht ..." sie brach schluchzend ab.
"Mama! Bitte! Es ist doch alles gut! Wir waren in einer Diskothek und danach ... Mama! Ich bin doch kein Baby mehr! Ich bin doch schon längst nicht mehr in dem Alter, wo ich abends um zehn im Bett liegen muss! Es ist doch nichts dabei, wenn ich nachts nicht nach Hause komme und mal woanders frühstücke. Jetzt bin ich doch wieder da. Du musst keine Angst haben! Mama! Bitte! Beruhige Dich doch! Ist doch alles ok!" Er nahm sie in die Arme und strich ihr sanft und begütigend über den Rücken bis sie aufhörte zu schluchzen.

Die Erinnerung an eine blaugeschweifte Sternschnuppe half Elisabeth, sich zu fassen. Alexander hatte ja recht. Es war nichts dabei. Sie sollte sich nicht so aufregen. Sie sollte sich nicht so ängstigen. Es war wirklich zu albern, von einem Jungen in Alexanders Alter zu erwarten, dass er über jeden seiner Schritte Rechenschaft ablegte. Es war wirklich zu albern, einen erwachsenen jungen Mann derart auszuschimpfen. Ja, er war erwachsen und groß, mindestens einen Kopf größer sie. Und schlecht sah er aus, wie man eben aussah nach einer Nacht mit zu wenig Schlaf. Sie lächelte nachsichtig. Und traurig sah er aus, ganz und gar nicht so, als hätte er sich köstlich amüsiert. Ob er zu viel getrunken und jetzt einen Kater hatte? Oder ...
"Wer war denn die Frau, die Dich hergefahren hat?"
"Eine Bekannte ..." Seine Stimme schepperte und zitterte und er lächelte gequält. Es zerriss ihm fast das Herz, dass er Marianna so verleugnen musste; sie wollte es nicht anders. "... eine Bekannte von Vince ... ich ... ich habe sie neulich kennengelernt ..."
"Aber sie ist doch bestimmt schon älter, wenn sie so ein Auto fährt ... ", Seine Mutter schluckte heftig und dachte, was rede ich nur für einen Unsinn! "Ich möchte doch nur, dass Du glücklich bist!" Weil sie nichts mehr zu sagen wusste, streichelte sie ihm übers Haar. "Ich werde Dir jetzt etwas zu essen machen! Du wirst bestimmt Hunger haben! Du darfst mir nie wieder solchen Kummer machen, hörst Du!?"

Alexander hatte natürlich keinen Hunger und war sich sogar sicher, keinen Bissen hinunterzubekommen. Trotzdem kam er folgsam in die Küche. Unter ihrem besorgten Blick stopfte er Rühreier und Schinken in sich hinein und setzte sich nach getaner Arbeit mit einer Tasse Kaffee zu seinem Vater aufs Sofa, der sich durchs Sonntagsnachmittagsprogramm zappte. Zum Weinen viel zu traurig, starrte er dumpf in den Fernseher. Seine Liebe war sinnlos, war von Anfang an sinnlos gewesen.

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