Kapitel 5

Elisabeth Grünberg löschte das Licht in der tadellos aufgeräumten Küche. Es war schon nach Mitternacht, doch ihr Sohn war immer noch nicht nach Hause gekommen.
"Lisbeth!" rief ihr Ehemann vom Schlafzimmer aus. "Nun komm endlich ins Bett. Es geht nicht schneller, wenn Du aufbleibst! Der Junge kommt bestimmt bald!"
Karl-Heinz hatte so recht, es war höchste Zeit, schlafen zu gehen. Im Bad trödelte sie jedoch herum, was sonst nicht ihre Art war. Karl-Heinz schlief tief und fest, als sie endlich ins Schlafzimmer kam und ebenfalls zu Bett ging. Unruhig wälzte sie sich von einer Seite zur anderen. Die Stunden verstrichen quälend langsam, ohne dass das Geräusch der sich öffnenden Haustür sie erlöst hätte. Karl-Heinz bemerkte nichts. Ruhig und gleichmäßig verschlief er das nächtliche Ausbleiben seines Sohnes und die Unruhe seiner Frau.
Elisabeth hatte Angst um das Leben ihres Sohnes. Diese Angst, hervorgerufen durch das Geschwätz einer alten Frau vor vielen Jahren, geisterte seit Alexanders Geburt, aller Vernunft zum Trotz, hartnäckig durch ihre Gedanken.

Die Volkshochschullehrerin hatte zum Abschluss des Französischkurses eine 5tägige Bildungsreise nach Paris organisiert. Alle fuhren mit, sogar die alte Frau Huber mit ihren 75 Jahren. Elisabeth konnte nicht absagen, das sah sogar Karl-Heinz ein, obwohl er gegen diese Reise war. Während eines Stadtrundganges, trat ihnen eine alte Frau, die sich als Wahrsagerin ausgab, in den Weg. Einige ließen sich bereitwillig und unter Gelächter aus der Hand lesen. Elisabeth wollte erst nicht, doch auf Drängen der anderen gab sie nach. Die Alte prophezeite ihr in fast unverständlichem Französisch die Geburt eines Sohnes: Ein tapferer Sohn sollte es sein, dazu bestimmt, große Taten zu vollbringen, geleitet von fremden Sternen, die zu gegebener Zeit ein Opfer fordern würden. Das war die Bedingung. Das war die Zukunft. Elisabeth lachte verlegen und wollte ihre Hand wegziehen, doch die Alte ließ nicht los. Sie musterte Elisabeth durchdringend und krächzte weiter: von einem übermächtigen Vater, der seine Tochter verstoßen hatte, von einer nachlässigen Mutter, der die Tochter genommen worden war. Elisabeth wurde blass. Wie konnte die Alte wissen, was damals geschehen war? Elisabeth zog und zerrte, bis es ihr schließlich gelang, ihre Hand freizubekommen. Sie hätte nicht vermutet, dass die klapprige Alte so viel Kraft hatte. Erschüttert floh sie, gefolgt von ihrer keifenden Stimme, die ihren Lohn einforderte. In dieser Nacht weinte sie zum ersten Mal seit langem wieder um ihre kleine Tochter.
Die Nachbarskinder, die auf Alessa aufpassen sollten, hatten gezündelt, das Gartenhäuschen war in Flammen aufgegangen. Sie war zu dieser Zeit beim Friseur gewesen. Niemals hatte sie sich verziehen, dass sie die Kleine damals nicht wie sonst mitgenommen hatte. Danach war nichts mehr so gewesen wie vorher. Tief in ihr drin hatte sich eine Stille ausgebreitet, die nichts und niemand zu durchbrechen vermochte.
Einige Zeit später war die alljährliche gynäkologische Routineuntersuchung fällig. Ihr war, als griffe eine eisige Hand nach ihrem Leben, als die Ärztin ihr eröffnete, dass sie schwanger war. Die alte Wahrsagerin hatte recht behalten. Sieben Monate später kam Alexander zur Welt. Seine Geburt gab ihr endlich den Trost, dessen sie so dringend bedurft hatte und füllte die Lücke, die der Tod ihrer Tochter hinterlassen hatte. Sie liebte ihn von Anfang an mit übermäßiger Inbrunst und ertrug es kaum, von ihm getrennt zu sein. Als er in die Schule kam, suchte sie sich eine Halbtagsstelle, letztendlich nur, um den langen Vormittagen ohne ihn zu entkommen.
Die Jahre zogen ins Land, in gleichförmigem Auf und Ab und Elisabeth vergaß die düstere Prophezeiung und ihre diffuse Angst, bis eines Tages das Schicksal zuschlug. An seinem achtzehnten Geburtstag verschwand Alexander spurlos. Drei lange Tage war er wie vom Erdboden verschluckt, und Elisabeth verlor fast den Verstand. Am Abend des dritten Tages tauchte er plötzlich neben ihr in der Küche auf und tat so, als wäre nichts gewesen. Er verstand weder die Bestürzung und schon gar nicht die überschwängliche Freude, die sein Wunsch nach einem Glas Milch auslöste. Er konnte sich an gar nichts erinnern und stritt entschieden ab, jemals und überhaupt verschwunden gewesen zu sein.

Mehr als einmal stand sie in dieser Nacht auf, ging zum Telefon und starrte es wie hypnotisiert an, als könne sie es dadurch zum Klingeln bewegen. Aber nichts geschah. Das Telefon blieb gnadenlos stumm, während die Zeiger der Uhr unaufhaltsam weiterrückten. Und immer noch kein Lebenszeichen von ihrem Sohn. Bin ich das?  fragte sie sich entsetzt, als sie in den Garderobenspiegel starrte: Ungekämmtes Haar, dunkle Augenringe und ein wirrer Blick ließen sie aussehen wie die Insassin einer Irrenanstalt. Die strengen Falten, die die Qual dieser Nacht ihr ins Gesicht gemeißelt hatte, hatten eine alte Frau aus ihr gemacht. War es soweit? War das die Nacht, in der das Schicksal ein weiteres Opfer von ihr fordern würde? Unsinn, Unsinn, alles Unsinn, ermahnte sie sich selbst, Alexander ist auf einer Party! Doch umsonst! Die Angst hielt Herz und Verstand felsenfest umklammert und versagte ihr jedweden vernünftigen Gedanken. Mit jeder Minute, die verging, wurde sie erregter. Als sie ihre Verfassung nicht mehr ertragen konnte, ging sie an das Erste-Hilfe-Kästchen und schluckte zwei von den kleinen weißen Pillen, die noch immer zuverlässig geholfen hatten. Sie wollte jetzt nur noch schlafen. Schlafen und vergessen!

weiter

No Internet Connection