Kapitel 52

Michael, der zu Hóol geworden war, machte sich auf die Suche. Er durchstöberte jeden noch so abgelegenen Keller, sah sich in jedem Raum um, spähte in jeden Kamin, klopfte Wände ab, verlief sich in endlosen Gängen und öffnete jede Tür. Was er suchte, fand er nicht. Im Vorübergehen nahm er eines Tages einen alten Umhang von irgendeinem Haken und zog die Kapuze tief ins Gesicht. Als er wieder einmal eine Tür öffnete, befand er sich unvermutet im Freien. Die Luft roch herrlich frisch. Genüsslich sog er sie ein und lächelte selbstvergessen. Rosen blühten auf den Mauern, ein Pferd schnaubte neben seinem Ohr. Er hob den Kopf, schloss die Augen und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Da schüttelte ihn plötzlich jemand an der Schulter und eh er sich's versah, hatte er eine Mistgabel in der Hand.
"Steh nicht rum. Wenn der junge Herr dich sieht, bekommst du seine Peitsche zu schmecken. Die Ställe müssen ausgemistet werden. Los Alter, an die Arbeit!" Die Stimme hielt kurz inne und Hóol spürte, wie der andere ihn musterte. "Du bist neu hier", stellte der Stallmeister fest. "Ich rate dir gut, dich nie beim Nichtstun vom jungen Herrn erwischen zu lassen, du wärst nicht der erste, den er deswegen zu Tode geprügelt hätte."
Hóol nickte ernst und machte sich gründlich und gewissenhaft an die Arbeit. Die anfängliche Feindseligkeit, die jeder Neue über sich ergehen lassen musste, zumal so ein schweigsamer Sonderling wie Hóol, den man niemals barhäuptig sah, verlor sich bald wieder und mit der Zeit tauchte er in der Masse des Gesindes unter. Während der gemeinsamen Mahlzeiten löffelte er bedächtig und wortlos seine Suppe. Er war immer der erste, der sich setzte und immer der letzte, der vom Tisch aufstand. Nach und nach sickerte es ins Bewusstsein der anderen, dass die gefürchteten Besuche des jungen Herrn nie während Hóols Anwesenheit stattfanden. Wie oft hatte er sie in der Vergangenheit mit der Peitsche aufgescheucht, ihnen nicht einmal die karge Mahlzeit gegönnt. Wie sonderbar er auch sein mochte, Hóols Anwesenheit verhalf dem Gesinde zu ungestörten Mahlzeiten. Die Jahre gingen gemächlich ins Land. Hóol merkte nicht viel davon. Sein Leben war vorhersehbar und gleichförmig geworden, dirigiert durch den Stallmeister und die Küchenaufseherin.

Mittlerweile schrieb man das Jahr 1473. Im März war der Graf im hohen Alter von 61 endlich gestorben. Michael, der Erbe, eine längst vergessene Episode, Mara, die Ahnherrin hatte sich nicht mehr gezeigt. Paul, längst ungeduldig wartend, wurde endlich Graf. Es gab keinen, der sich darüber gefreut hätte.
Im Mai zog ein gutaussehender Mann im besten Alter mit großem Pomp auf der Burg ein. Er nannte sich Jassy von Samarkand und behauptete, ein Enkel der legendären Gräfin Regine zu sein. Jassy von Samarkand brachte ein großes Gefolge, unermessliche Reichtümer und junge Frauen mit, deren Gesichter hinter bunt schillernden Schleiern verborgen waren. Innerhalb kürzester Zeit gewann er das Vertrauen von Graf Paul. Jassy schließlich gelang sogar das Unmögliche: er konnte Ferdinand von Tombil davon überzeugen, seine Tochter mit Paul zu verheiraten. Er war Pauls dritte Ehe und besiegelte das Bündnis von Jassy und Paul endgültig: Clothild von Tombil war eine reiche Frau und brachte das dringend benötigte Geld mit in die Ehe.
Paul, besessen von dem Wunsch, endlich einen Nachfolger zu zeugen, tat alles, was Jassy von ihm verlangte. Doch weder die bitteren Mixturen, die er tapfer hinunterwürgte noch die scheußlichen Zeremonien, an denen er teils angeekelt, teils fasziniert teilnahm, sollten von Erfolg gekrönt sein. Weder die brave Clothild noch eine der anderen Frauen, die er unermüdlich bestieg, wann immer sich die Gelegenheit bot, wurde jemals von ihm schwanger. Andere hatten mehr Glück; insgesamt sonnten sich in diesem Jahr drei seiner Verwandten im Vaterglück, von denen einer sogar Zwillinge bekommen hatte. Überschattet wurden diese glanzvollen Ereignisse durch den gewaltsamen Tod durch vier Brüder, deren Mutter die Cousine des Grafen war. Man hatte die abgetrennten Köpfe der Jungen im Burggraben gefunden. Graf Paul brach daraufhin zu einem Vergeltungszug in die umliegenden Dörfer auf. Die mitgebrachten Köpfe von enthaupteten Dorfbewohnern spießte er zur Abschreckung auf die Zinne über dem Burgtor. Von ebendieser Zinne stürzte sich die Mutter der Brüder in den Tod.
Jassy von Samarkand hatte einen Spiegel mitgebracht und alle, von der edelsten Dame bis zum lumpigsten Knecht, mussten sich dieses Ding, Teufelswerk, wie viele glaubten, anschauen. Es war das erste und letzte Mal, dass alle, die auf der Burg lebten und arbeiteten, sich gemeinsam versammelten. In einer langen Reihe defilierten sie an dem Spiegel vorbei. Zuerst die gräfliche Familie, dann die Verwandten der Seitenlinien, gefolgt von den Hausdienern bis hin zu den niedersten Knechten und Mägden. Den Schluss bildete die Truppe der Wachsoldaten, die sonst nie jemand zu Gesicht bekam. Selbst der Graf hatte nicht genau gewusst, dass seine Wachtruppe so zahlreich war.
Hóol war der Einzige, der sich nicht anschloss, sondern wartete, bis er das Spiegelzimmer allein betreten konnte. Was er dort sah, erfüllte ihn mit Grauen. Er sah einen alten Mann, gebeugt von der Last mühevoller Arbeit, ein Gesicht, grau und ausgezehrt von zu wenig Schlaf und schlechtem Essen. Unbarmherzig zeigte ihm der Spiegel allerdings auch, dass dies alles nur eine Maske war, eine Maske, die jederzeit fallen konnte und zutage brachte, was er fast zwei Jahrzehnte lang verdrängt hatte. In Wirklichkeit war er ein junger Mann und seit dem Tag, an dem er Mara und Calyban begegnet war, äußerlich um keinen Tag gealtert. Ausreichend Bewegung an der frischen Luft, genügend Schlaf und satt zu essen würde diese Tatsache unweigerlich binnen kürzester Zeit zum Vorschein bringen. Lange stand er davor und sah sich schwermütig in die Augen, bevor er den Spiegel wieder behutsam mit der schweren Brokatdecke verdeckte. Die Vergangenheit hatte ihn eingeholt.

Es war Ende September, als die Küchenaufseherin kurz vor Tagesanbruch Hóol weckte. "Du musst sie mitnehmen in die Stadt. Sie muss fort, bevor der junge Herr sie bemerkt ..." Hóol hörte von dem Augenblick an nicht mehr zu, als er die junge Frau ansah. Die Welt um ihn herum hörte auf zu existieren. Niemals, das stand vom ersten Augenblick an für ihn fest, niemals würde er sie wegbringen, niemals würde er sie loslassen! Niemals! Jetzt doch nicht! Nicht doch jetzt, nachdem er sie endlich gefunden hatte. Er nahm sie bei der Hand und zog sie hinaus auf den Hof, wo sie Hand in Hand den neuen Morgen begrüßten. Die Küchenaufseherin starrte ihnen verblüfft hinterher, wie sie hinausgingen und dort in der Sonne standen, frei und furchtlos. Nun, sollten sie doch, so früh am Morgen war der junge Herr selten unterwegs. Ohne weitere Gedanken an die beiden zu verschwenden, wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu. Sie verpasste dadurch, wie sich im Küchenhof ein kleines Wunder vollzog. Die Zeit blieb stehen und betrachtete die beiden eine Weile wohlgefällig. In diesem Fall lohnte es sich tatsächlich, die Welt ein wenig aus den Angeln zu heben. Als die ersten Sonnenstrahlen des Tages in den Hof schienen, verschwand Hóol und Michael kehrte zurück

Zum ersten Mal empfanden Daira und Michael ihr Anderssein nicht als mutwilligen Schicksalsstreich, sondern schätzen sich überglücklich, alle Zeit der Welt zur Verfügung zu haben. In einem unbenutzten Turm richteten sie sich häuslich ein; alles was sie brauchten, fanden sie in der Burg. Hoch droben, dem Himmel ganz nah, waren sie vor neugierigen Blicken geschützt. Der baufällige Zustand des Turmes bewahrte sie vor ungebetenen Besuchern. Fortan lebten sie dort oben, so gut wie unsichtbar für den Rest der Welt. Sie waren froh und heiter, liebten sich über alles und vergaßen es nie.
In alte Lumpen gehüllt streiften sie unbehelligt durch die umfangreiche Burganlage, die ihr Michael, jetzt ganz Hausherr, mit kindlicher Freude vorführte: Daira sollte alles kennenlernen. Sie wanderte mit ihm durch weiße Tropfsteinhöhlen, die, einer Perlenkette gleich, hintereinander lagen. Vergnügt plantschte sie mit ihm in einem unterirdischen See, dessen Wasser warm und samtweich war und an dessen Ufer Pflanzen wuchsen, die in der Dunkelheit leuchteten. In einer anderen Höhle, sie war klein und schwer zu finden, blitzten, vom Licht der Fackel angelockt, silberne Sterne auf. Ziemlich genau in der Höhlenmitte ruhte ein rechteckiger Stein mit weichen Kanten aus blauem Marmor, kniehoch und so groß, dass man sich bequem darauf ausstrecken konnte. Die Oberfläche war durch die andächtige Berührung zahlreicher Hände seidenglatt poliert. Ehrfürchtig berührte Daira ebenfalls diesen seltsam lebendigen Stein. Er strahlte ein Gefühl heiligen Wohlbehagens aus, das durch ihre Fingerspitzen hereinströmte und bis in ihr Herz floss. Michael, der es ihr nachtat, sah sie an und lächelte selig. Worte waren überflüssig. Nach und nach brachten sie Licht in Michaels Vergangenheit. Mit Daira an der Hand öffneten sich Türen, von deren Existenz Michael bisher nichts geahnt hatte. Dahinter verbargen sich wundersame Dinge, die preisgaben, was sie über diejenigen wussten, deren Nachkomme Michael war. Die Zeit verging, ohne dass sie sich darüber Gedanken machen mussten, es hätte ewig so weitergehen können. Möglicherweise rief ihr Glück einen missgünstigen Gott auf den Plan, vielleicht war es auch purer Zufall, jedenfalls öffneten sie eines Tages eine jener verborgenen Türen und machten einen grausigen Fund.

Völlig unvorbereitet auf das, was sie erwartete, betraten sie mit gespannter Neugier einen niedrigen Höhlenstollen, dessen Ende sich in der Dunkelheit verlor. Auf dem Boden lag, auf welkes Eichenlaub gebettet und von Totentrompeten umrahmt, ein weiblicher Körper neben dem andern, so weit das Auge reichte. Es hätten Puppen sein können, so leblos sahen sie aus, so jung, so schön, so blass. Sie waren tot und schliefen doch nur: Ein grausamer Zauber hielt ihre Seelen gefangen, und ein übles Gift bewahrte ihre Körper vor dem Verfall. Die Fackel entglitt Michaels Händen und erlosch zischend, noch bevor sie lautlos auf dem Boden aufschlug. Daira fühlte es zuerst, dann auch Michael: ein Moloch erwachte. In einem sinnlosen Reflex hielten sie sich die Ohren zu, um das Kreischen auszuschließen, das bis in ihr Innerstes vordrang und ihnen den Boden unter den Füßen wegzog.
Michael, blind und taub in diesem Chaos, war kurz davor, den Verstand zu verlieren und längst bereit, sein Leben zu opfern, um der kreischenden Ausgeburt der Hölle zu geben, wonach es sie verlangte. Das Monstrum hatte Hunger, unersättlichen, rücksichtslosen Hunger. Er gierte nach Michaels Seele, einziges Mittel, seinen Hunger zu stillen und seine Pein zu lindern; zumindest vorübergehend. Daira, selbst in diesem Hexenkessel gefangen, spürte dennoch Michaels Kampf mit den nachtschwarzen Schwingen, sah die geifernden Tentakel, die sich an ihm zu schaffen machte, hörte den entsetzten Aufschrei seines Herzens. Selbst fast wahnsinnig vor Angst, hielt sie dem wütenden Toben der infernalischen Gewalt stand. Sie wollte Michael nicht verlieren. Niemals! Da mischte sich, kaum wahrnehmbar, eine andere Stimme in das zornige Brüllen des Moloch.

Eine rubinrote Perle hatte in den geknechteten Mädchenseelen Hoffnung geweckt. Sie taten sich zusammen, riefen nach Daira, flehten um Hilfe und Daira erinnerte sich. Kraftvoll reckte sie beide Arme nach oben. Ein lautloser Schrei entfuhr ihrer Kehle und rief den blauseidenen Dämon herbei. Der fand eine Lücke im Geflecht der Finsternis und verhalf den gequälten Mädchenseelen zur Flucht. Der Moloch, seiner Gefangenen und somit seiner Kraft beraubt, fiel zusammen und verlor sich in der Ewigkeit. Die Lücke schloss sich wieder und Daira vergaß, was sie getan hatte.

Michael fühlte die anheimelnde Wärme der Sonne auf seinem Gesicht. Weiches Gras kitzelte seine Ohren. Er lächelte zufrieden, räkelte sich entspannt und streckte die Glieder in behaglicher Wonne. Blinzelnd öffnete er die Augen und sah direkt in Dairas Gesicht. Der Mund so einladend, die Augen so zärtlich, die Haut so blass. Das Lächeln gefror ihm auf den Lippen: so blass wie ... ruckartig setzte er sich auf. Ein Alptraum hatte ihn eingeholt.
"Es war nur ein Traum! Alles nur ein Traum! du hast schlecht geträumt, Liebster, du hast im Schlaf um dich geschlagen und geschrien, davon wurde ich wach. Wir beide haben schlecht geträumt. Kein Wunder! Wir sind mitten in der prallen Sonne eingeschlafen. Ein Gewitter zieht auf. Es wird bald regnen." Behände sprang sie auf und zog Michael übermütig lachend an den Haaren. "Los! Steh auf, du Faulpelz! Ich will nicht nass werden!"

Zu spät! Er war zu spät gekommen! Das ohnmächtige Toben des schwarzen Seelenfressers verklang, noch bevor der Schattenmeister die Höhle erreichte. Zu spät! Er war zu spät gekommen! Der Moloch war fort. Wie konnte das nur geschehen? Abrupt hielt er inne und blickte suchend um sich. Er hatte etwas gewittert. Sein Zorn verflog. Er roch etwas, das er überall und unter jeden Umständen immer erkennen würde, etwas, wovon er niemals genug bekam: echte, unverfälschte Macht. Schnüffelnd, einem gut dressierten Jagdhund gleich, nahm er die noch frische Spur auf. Sie führte zu zwei zerlumpten, altersgebeugten Gestalten, die sorglos über die Wiese schlenderten. Siegessicher bleckte er die Zähne: er, ein Schattenmeister höchster Güte, ließ sich doch nicht von dieser albernen Verkleidung nicht täuschen.
"Halt, ihr armseligen Wichte! Kniet nieder! Kniet nieder vor dem Großmeister der Schattenheit! Euer armseliges Leben liegt in meiner Hand! Eure armseligen Kräfte gehören mir! Ich werde sie euch entreißen und ihr werdet mir nie wieder in die Quere kommen. Nie wieder!" Ein gellendes Lachen schoss aus seinem Mund und war noch weit entfernt zu hören. Schaudernd bekreuzigten sich diejenigen, auf deren Ohr es traf. Er griff unter seinen Mantel, zog den Schwarzen Skorpion hervor und warf ihn mit geübter Hand.
Es war, als ginge ein Ruck durch die Zeit. Einen Lidschlag lang flimmerte die Luft und der Skorpion verfehlte sein Ziel, zum ersten Mal. Er landete auf der Schulter der Kräuterhexe, die ihn gelassen abpflückte und ihn hoch in die Luft warf, wo er spurlos verschwand. "Das werdet ihr mir büßen", brüllte der Schattenmeister rasend vor Zorn. Zuerst der Moloch, nun der Skorpion: zwei seiner besten Kreationen, vernichtet von armseligen Wichten, die noch nicht einmal wussten, mit welchen Kräften sie herumspielten. "Das werdet ihr bitter bereuen! Ihr werdet euch selbst verfluchen dafür, leichtfertig meine Kreise gestört zu haben! Ihr werdet wünschen, niemals geboren worden zu sein! Ihr werdet flehen nach einem gnädigen Tod! Ergebt euch! Ihr könnt nicht gewinnen, nicht gegen mich! Niemals!" Noch bevor Zeit gewesen wäre für eine Antwort, schleuderte er den Schwarzen Dolch, der sich im Flug verdoppelte. Die alte Hexe hob abwehrend die Hände hoch, die Dolche prallten gegen ein unsichtbares Hindernis und trudelten zu Boden, wo sie wirkungslos verpufften.
"Halt ein, oh edler Großmeister! Halt ein! Verzeiht! Verzeiht! Verzeiht!" rief die Hexe mit klarer, fester Stimme. Sie hob beide Arme gen Himmel und der Umhang glitt ihr von den Schultern. Der Mund so rot, die Haut so weiß, das Haar so schwarz. Hypnotisiert starrte der Großmeister auf die goldene Kette, die zwischen den formvollendeten Brüsten der Hexe lockte. Er musste sie haben! Auf jeden Fall! Um jeden Preis! "Sie gehört Euch, oh edler Großmeister! Findet sie, und sie gehört Euch! Sucht sie! Jetzt! Sofort!" Mit einer schnellen Bewegung streifte sich die Hexe die Kette über den Kopf und warf sie in die Höhe. Ein Donnern ertönte, ein Blitz schlug ein, es wurde dunkel. Zu Füßen der Hexe erschien ein gemauerter Brunnen, die Kette fiel hinein, ein Frosch hinterher, das Gewitter brach los und die Hexe zusammen.
Fluchend, innerhalb einer Sekunde völlig durchnässt, hechtete der Schattenmeister die fünf Schritte zum Brunnen. Zu spät! Er war zu spät gekommen! Hilflos stand er vor dem bröckelnden Rund der Brunnensteine: ein Dimensionszauber höchster Güte. Er war zu spät gekommen! In blinder Raserei trat er gegen die Steine und verlor dabei einen Schuh ans Nichts. Bleich vor Entsetzen sprang er zurück, drauf und dran sich selbst den Hals umzudrehen aus Wut darüber, das Wissen der elenden Kräuterhexe unterschätzt zu haben. Doch er hätte es wissen müssen! Es war unverzeihlich, dass er ihr unvorbereitet entgegengetreten war, nur weil er gedacht hatte, der Moloch wäre von einem DRAG freigesetzt worden.
Verächtlich spuckte der Schattenmeister auf das alte Weib, das sterbend am Boden lag. Sie war zu nichts mehr nutze. Unverzüglich rief er die Hunde, wunderbar widerliche Kreaturen, die sich schnüffelnd an der Sterbenden zu schaffen machten. Ihr fieses Gebell war noch weit entfernt zu hören. Erschaudernd bekreuzigten sich diejenigen, auf deren Ohr es traf. Der Schattenmeister lachte höhnisch. All ihrer Zauberkunststückchen zum Trotz hatte der schwarze Skorpion sie gestochen. Ein fröhliches Liedchen pfeifend ging er seiner Wege. Seine Hunde würden die Spur aufnehmen und die Kette finden.

Das Donnern verklag, der Regen ließ nach, die Nacht senkte sich herab. All dies geschah allmählich und unbeachtet von Michael, der, Gefangener des Turmes, rastlos von einem Fenster zum anderen wanderte. Er hieb sich verzweifelt die Fäuste an den Kopf. Wo war Daira? Der Schleier, der hartnäckig über seiner Erinnerung lag, lüftete sich nicht.
"Daira! Liebste! Wo bist du?" schrie er laut und immer wieder in der unsinnigen Hoffnung, eine Antwort zu bekommen und hämmerte verzweifelt mit den Fäusten an die Tür, die sich nicht öffnen lassen wollte.
"Halt ein! Liebster, halt ein!" erklang, es war wenig mehr als ein kaum Hauch, plötzlich ihre Stimme von irgendwoher. "Halt ein! Warte! Erst wenn der Mond am Himmel steht, kannst du mich finden! Warte! Hab' Geduld! Warte auf den Mond! Er wird dich leiten!"
Verblüfft hielt Michael inne mit seiner Raserei und gehorchte, so wie er ihrem Befehl schon einmal gehorcht hatte. Er wartete. Sekunden verloren sich in der Ewigkeit. Der Sand des Stundenglases gerann zu Stein. Unbegreifliches geschah. Er hörte nichts mehr, sah nichts mehr. Unvergleichlich die Vergangenheit, unbekannt die Zukunft. Ein Orakel flüsterte. Die Zeit verging. Hilflos wich er vor der Ewigkeit zurück, wollte keine Prophezeiung, wollte Daira.
Der Mond tat wie immer seine Pflicht, ohne Hast und ohne Eile, bis er schließlich zur vorbestimmten Zeit in vollem Rund am Himmel erstrahlte und mit seinen Silberstrahlen die Nacht liebkoste. Da entließ der Turm seinen Gefangenen. Michael stolperte mit waghalsiger Geschwindigkeit die baufälligen Treppen hinunter, angetrieben von der Erinnerung an einen Alptraum. Alle Vorsicht außer Acht lassend, rannte er gehetzt über Stock und Stein, geleitet von einem feinen Silberfaden, der ihn zu Daira führte. Entsetzt schrie Michael auf. Seine Klage hallte weithin durch die Nacht. Ein einsamer alter Wolf stimmte mit ein. Zusammengekrümmt lag Daira im Gras. Aufstöhnend ließ er sich neben sie fallen und nahm ihre Hand. Sie war so kalt, so still.
Ein leichtes Beben durchlief ihren geschundenen Körper. Langsam, unendlich langsam öffnete sie die geschwollenen Lider. Mühsam, unendlich mühsam formten die blutverkrusteten Lippen kaum hörbare Worte. "Schnell! Bring mich zum Turm ... der Skorpion, die Hunde ... Bring mich zum Turm!"
Michael legte die ohnmächtige Geliebte behutsam aufs Bett. Er ließ ihre Hand nur los, um Wasser zu holen, das einzige, wonach sie verlangte. Er kühlte ihre Stirn, wechselte regelmäßig die schweißnassen Laken und hängte sie zum Trocknen auf. Es war weder Zeit, Wäsche zu waschen noch frische zu besorgen. Es war nicht viel, was er tun konnte, so sehr er es sich auch gewünscht hätte. Endlich schien es ihr besser zu gehen. Sie sah ihn zum ersten Mal seit jener Nacht wieder richtig an, lächelte sogar. Doch ihre Worte, deren Sinn ihm gänzlich unverständlich waren, beraubten ihn sofort jeder Hoffnung.
"Ich habe einen Fehler gemacht, einen unverzeihlichen Fehler. Der schwarze Skorpion, weitaus fähiger als sein Herr, war zu schnell. Ich kann der Wirkung seines Giftes vorübergehend Einhalt gebieten. Befreien kann ich mich nicht. Ich bin zu schwach. Etwas ..." Sie suchte nach Worten. "Die ... die Verbindung ist abgerissen. Ich habe einen Fehler gemacht, einen unverzeihlichen Fehler", wiederholte sie bitter und rang keuchend nach Luft. "Küss mich Liebster, küss mich! Und dann bring mich in die Gruft! Der Schattenmeister schläft!" Sie machte Anstalten aufzustehen, was Michael energisch verhinderte. "Nein Liebster, lass mich. Es muss sein! Ich muss tun, was getan werden muss! Hilf mir, bring mich zu ihm, bevor er wieder aufwacht," flehte sie inständig. Michael, der kein Wort verstand, schüttelte nachsichtig den Kopf. Er würde nicht dulden, dass sie das Bett verließ. "Hilf mir! Alleine schaffe ich es nicht. Um unserer Liebe willen, bring mich in die Gruft!" Er zwang sie mit sanfter Gewalt in die Kissen zurück: Das Fieber hatte sie um den Verstand gebracht. "Hör zu Michael! Hör zu und entscheide dann selbst." Eine Träne löste sich von ihrem Augenwinkel und machte ihn gefügig. "Alles was du willst, Liebste. Ich tue alles, was du willst. Ohne dich bin ich nichts. Ich werde dir ewig dienen!" Versicherte er ihr beschämt, unglücklich darüber, dass er sie zum Weinen gebracht hatte.
Sie nahm seine Hand, sah ihm tief in die Augen und der Schleier lüftete sich. Aus seinem Unterbewusstsein stieg ein Bild empor, grauenvoll, alptraumhaft: ein dunkler, todbringender Schatten und eine Frau, die sich ihm entgegenstellte. Heiß wallte Scham in ihm empor als er sich daran erinnerte, wie er geflohen war und Daira zurückgelassen hatte. "Gräm' dich nicht Liebster," tröstete sie ihn. "du hattest keine Wahl. Er wollte dich, wollte deine Seele, deine Vergangenheit. Ich musste es verhindern und schickte dich fort. Er hätte dich vernichtet, denn er ist wie du, doch von bösen Mächten durchdrungen," beschwichtigte ihn Daira, die in Michael las wie in einem offenen Buch. "Er hätte dich getötet, unzweifelhaft und unwiederbringlich. Dein Blut und deine Seele hätten ihm große Dienste erwiesen und viel Übles wäre über die Welt gekommen. Ich lenkte ihn von dir ab, wollte ihn auf die Suche schicken. Er wäre bis in alle Ewigkeit damit beschäftigt gewesen. Doch der Skorpion hatte mich schon gebissen, und ich konnte nicht mehr klar denken. Ich traf eine falsche Entscheidung ... Ich habe versagt, habe leichtsinnig ..." Sie sah völlig ratlos aus. "Leichtsinn! Verlust! ... Ich verlor ... die Verbindung, verlor ... die Kontrolle. Er ging nicht selbst auf die Suche." Die quälende Erinnerung an seine teuflischen Hunde hinderte sie minutenlang am Weitersprechen. Und das, wo ihr zum ersten Mal die Zeit davonlief. Als sie sich wieder gefasst hatte, sprach sie weiter, doch sie schien schwächer geworden zu sein. "Jetzt habe ich die Gelegenheit etwas gutzumachen. Etwas ist geschehen ... Er hat liegt in einem Sarg in der Familiengruft, scheinbar tot, aber er wird auferstehen!“ Sie lachte bitter. "Das kann und muss ich verhindern! Bring mich zu ihm!"
"Nein! Ich bringe dich nicht zu diesem Ungeheuer. Unmöglich! Das kannst du nicht von mir verlangen!" flehte Michael sie an.
"Ich muss es tun, es muss sein, es gibt keinen anderen Weg. Du musst mich zu ihm bringen. Ich muss ihn töten!" beschwor sie ihn und diesem Moment schien es, als kehre das Leben wieder in ihren Körper zurück. "Bring mich zu ihm! Bring mich in die Gruft! Jetzt! Sofort!"
Daira stützte sich schwer auf ihn, als sie mit letzter Kraft den Arm hob und Unverständliches murmelte. Ein blauer Blitz fuhr durch den Sargdeckel mitten ins Herz. Ein Feuer flackerte auf und erlosch. Vom Sarg und seinem Inhalt blieb nur ein Häufchen Asche übrig.

"Und nun!" flüsterte Daira mit ersterbender Stimme. "Bring mich in unsere Höhle zu den silbernen Sternen und dem blauen Stein! Es ist vorbei, ich muss dich bald verlassen!" Tränenblind nahm er sie abermals in die Arme und trug sie hinab. Das war das Ende. Er wusste es. Sie wusste es. Behutsam legte er sie auf den blauen Stein.
"Liebster!" Es schien, als hauche ihr der blaue Marmor neues Leben ein. Er sah in ihre Augen, fieberglänzend aber wach. Ihre Hand, nun nicht mehr kalt, drückte fast unmerklich seine Finger. Die Wangen hatten eine rosige Farbe bekommen. Doch es war nichts weiter als ein letztes Aufbäumen, bevor ein trügerischer Tod sie voneinander trennen würde. Er wusste es. Sie wusste es.
"Liebster, es ist vorbei. Ich verlasse dich jetzt. Sei nicht traurig. Das Gift raubt mir das Leben, wird aber auch meinen Körper vor dem Verfall schützen. Schütze du die Höhle. Falls einmal ein Heilmittel gefunden wird, kann ich wieder bei dir sein. Eines Tages, irgendwann. Was ist schon Zeit für solche wie wir es sind?" Die Berührung mit dem Stein bewirkte, dass sie sich an etwas erinnerte, was sie fast vergessen hätte. "Ich kann nicht ohne Hilfe zurückkehren. Die Verbindung ist abgebrochen, etwas ist verlorengegangen. Ich kann mich nicht erinnern. Ich habe etwas verloren und weiß es nicht mehr, doch es ist wichtig." Flehentlich sah sie ihn an. "Erinnere du dich für mich! Erinnere dich! Jetzt! Sofort!"
"Die Kette! Es ist die Kette!" rief er unangebracht laut und schlug sich die flache Hand an die Stirn. "Deine Kette! Du hast sie nicht mehr! Die Kette, die Kette, die Kette! Warum habe ich es nicht früher bemerkt?" Michael sprang fast in die Luft, überglücklich darüber, ihr die Rettung gebracht zu haben.
"Liebster!" Ein schwaches Leuchten huschte über Dairas Gesicht, doch die Trauer blieb. "Liebster! Hör gut zu und verzeih! Sie ist verborgen vor dir und deinesgleichen. Du wirst Hilfe brauchen. Mit etwas Glück wirst du sie zur rechten Zeit erhalten." Ihre Lider flatterten, ihre Lippen zitterten, aus ihrem Augenwinkel löste sich eine Träne. Michael blieb das Herz stehen. "Ich muss jetzt gehen. Sei nicht traurig!" Mit einem letzten Seufzen schloss sie die Augen. Die Daira, die er gekannt und geliebt hatte, gab es nicht mehr. Vor ihm lag nichts weiter als eine leere Hülle, wunderschön anzuschauen, aber leer. So würde es bleiben bis in alle Ewigkeit, wenn nicht ... Michael war allein. Allein! Verlassen! Einsam! "Warte auf mich! Ich komme wieder! Verzage nicht!" Ihre Stimme, weit entfernt, ein schwaches Echo vergangenen Glücks, erfüllte sein gebrochenes Herz und überdeckte seinen Schmerz mit schicksalsergebener Zuversicht. Er würde immer auf sie warten.

Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis seine Tränen versiegten. Noch einmal solange dauerte es, bis ihn der Hunger schließlich zwang, Daira zu verlassen. Mit dem schleppenden Gang eines uralten Mannes verließ er die Höhle und versiegelte den Eingang. Niemand außer ihm sollte sie betreten. Wohin sollte er nur gehen? Sein knurrender Magen nahm ihm die Entscheidung ab. Sein ausgemergelter Körper verlangte energisch nach seinem Recht. Zu lange schon hatte er ihn vernachlässigt. Michael wusste nicht mehr, wann er das letzte Mal gegessen oder geschlafen hatte; auch ein Bad würde bestimmt nicht schaden.
Je näher er der Oberfläche kam, desto durchdringender wurde der Brandgeruch. Er verließ den Geheimgang aus alter Gewohnheit in der Gesindeküche und verharrte schreckensstarr in der offenen Tür: Ein fürchterlicher Brand hatte hier gewütet, so gewaltig, dass sogar die eisernen Kochgeräte geschmolzen waren. Und nicht nur hier, überall auf der Burg hatte das Feuer tagelang gewütet haben, bis ihm schließlich die Nahrung ausgegangen und es von selbst erloschen war. Hatten die Bewohner rechtzeitig flüchten können? Einzig das mächtige Tor der großen Halle, rußgeschwärzt zwar, hatte dem Feuer standgehalten. Ein durchdringender Gestank hing in der Luft. Er schob einen Torflügel auf.
Lange weigerte sich sein Verstand zu begreifen, was seine Augen sahen. Schwärme von Fliegen stoben auf und ließen sich wieder nieder. Der Gestank war unerträglich. Er erkannte die Mitglieder der gräflichen Familie, selbst im Tod abgesondert von den anderen. Sein Instinkt sagte ihm, dass keiner überlebt hatte. Von den übrigen Burgbewohnern schien ebenfalls keiner diesem unwürdigen Tod entkommen zu sein. Alle lagen sie da, mit abgeschlagenen Gliedern und durchstochenen Leibern. Hier hatte kein Feuer gewütet, hier hatten Menschen ihr grausiges Werk vollbracht, waren nicht einmal davor zurückgeschreckt, Säuglinge niederzumetzeln.

Nun war er Graf! Keiner würde ihm diesen Titel mehr streitig machen. Welch ein Hohn! Voller Entsetzen rannte Michael davon. Weg, nur weg von diesem grauenvollen Ort. Wohin sollte er nur gehen? Er rannte und rannte und rannte, bis er schließlich vor Erschöpfung umfiel und einfach liegenblieb. Auch diesmal war es der beißende Hunger in seinen Eingeweiden, der ihm den Weg wies. Halbverhungert, in stinkende Lumpen gehüllt, stritt er sich mit räudigen Dorfhunden um die Küchenabfälle. Schließlich erbarmte sich eine verwitwete Bäuerin seiner und machte wieder einen Menschen aus ihm. Überdies wusste sie genau Bescheid über die Ereignisse auf der Burg und berichtete Michael ausführlich davon.

Die Kaiserin höchstpersönlich hatte Jassy von Samarkand öffentlich der Hexerei bezichtigt und sich von ihm losgesagt. Man munkelte etwas von Eifersucht und nahm in höfischen Kreisen die Anklage nicht ernst. Der freigiebige Jassy erfreute sich weiterhin größter Beliebtheit. Es war, als erhöhe der Verdacht seine Attraktion. Doch schon bald darauf hatte man ihn verhaftet und in Ketten gelegt. Die kaiserlichen Garden durchsuchten die Burg und entdeckten den Eingang zu einem geheimen Labor. Allein die Gerätschaften in diesem Raum hätten genügt, ihn der Hexerei zu überführen. Doch zu aller Entsetzen machte man überdies einen grausigen Fund, der jeden Zweifel an seiner Schuld beseitigte. In einem kleinen fensterlosen Raum fand man die Leichen von dreizehn Mädchen, seltsam lebendig noch im Tod. Sie lagen auf den Boden, wie Puppen, derer man überdrüssig geworden war. Jassy von Samarkand wurde noch am selben Tag zum Tod durch Verbrennen verurteilt. Ausgerechnet in dieser Nacht starb er in seiner Zelle. Graf Paul setzte daraufhin alle Hebel in Bewegung um zu verhindern, dass der Leichnam öffentlich verbrannt wurde. Letztendlich erhielt er die Erlaubnis, ihn in der Familiengruft bestatten zu dürfen. Warum er sich so sehr darum bemühte, war ein Rätsel. Der Graf hätte doch froh sein müssen, den Hexer, der sich bei ihm eingenistet hatte, loszuwerden. So aber erweckte er den Eindruck, mit seinem dubiosen Ratgeber unter einer Decke gesteckt zu haben.
Der Volkszorn erwachte zurecht und kochte schließlich über. Die Bauern, betrogen um das Schauspiel einer Hexerverbrennung, wollten Rache für ihre toten Töchter. Aufgestachelt von Adligen am Hof, die Jassys verborgene Schätze bergen wollten, unterstützt durch intrigante Familienmitglieder, die ihre Chance witterten, stürmte zwei Nächte später ein zorniges Heer die Burg. Bewaffnet mit Mistgabeln, Dreschflegeln und hungrigen Hunden schleiften sie wie gut ausgebildete Söldner die Burg und ließen keine Gnade walten. Es waren nur diejenigen gewarnt worden, die Verwandte in den umliegenden Dörfern und Gehöften hatten.
Und Michael begriff: Der Großmeister der Schattenheit war nichts weiter als Jassy von Samarkand. Wie hatte er es nur übersehen können? Sein unerschöpflicher Reichtum, sein immenser Einfluss auf Paul und bei Hofe. Er hätte bemerken müssen, dass Jassy von Samarkand in Wahrheit ein DRAG gewesen war, der sich mit schwarzer Magie eingelassen hatte. Wieviel Leid wäre zu verhindern gewesen. Es wäre seine Pflicht gewesen, Daira und die Burgbewohner zu schützen, vor Jassy, vor Paul, vor einem derart grauenvollen Tod. Michael hatte wenig Mitleid mit seiner Verwandtschaft, am allerwenigsten mit Paul. Es tat ihm nur unendlich leid um die Kinder, um diese Menschen, die nichts weiter getan hatten, als der gräflichen Familie, meist widerwillig sogar, zu dienen.

Noch am selben Tag kehrte Michael wieder zur Burg zurück und machte sich an die Arbeit und erfüllte seine selbstauferlegte Pflicht den Toten gegenüber. Tagelang schleppte er Holz in die Halle und bedeckte die Toten damit. Der Mond stand in vollem Rund am Himmel und ließ silberne Tränen zur Erde tropfen, als Michael den Scheiterhaufen in Brand setzte. Ein gnädiger Sturm zerstreute anderntags den zurückgebliebenen Ascheberg in alle Himmelsrichtungen. Dann nahm sich Michael der zerstörten Burg an. Er würde zu verhindern wissen, dass habgierige Glücksritter sich des scheinbar herrenlosen Anwesens bemächtigten. Mit dem Wissen, das Daira ihm entdeckt hatte, verwandelte er seine Burg in eine uneinnehmbare Festung. Blutrote Rosen mit kräftigen, tödlichen Stacheln wuchsen über sich hinaus und bedeckten nach nur einem Tag und einer Nacht sämtliche Mauern. Lediglich Dairas Turm blieb von ihnen unberührt. Als alles zu Michaels Zufriedenheit getan war, begann das Warten auf Daira Wiederkehr.

Tage, Monate, Jahre und Jahrzehnte verstrichen, ohne dass sich etwas an Dairas Zustand änderte. Als das erste Jahrhundert voll war, hielt Michael es nicht mehr länger aus und begab sich auf eine lange Reise. Ein weiteres Jahrhundert später kehrte er als reicher Mann zurück. Nicht nur das: mit seinem neuerworbenen Reichtum, versehen mit ausländischen Adelstiteln, wurde er beim Kaiser vorstellig und erwarb die Grafschaft Rotenstein und den dazugehörigen Titel.
Erwartungsgemäß hatte kein menschlicher Fuß die Burg während Michaels Abwesenheit betreten. An diesem Zustand sollte sich auch nichts ändern. Die undurchdringliche Dornenhecke und die Schauergeschichten, die nach wie vor in Umlauf waren, hatten sich bewährt und keine Neugieriger verirrte sich auf die Burg.

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