Mutabor

Der Alchemist

Einst lebte im Königreich Mutabor ein berühmter Alchemist aus Snol, der einfältig war und gewissenlos obendrein. Aber Bryol aus Snol hatte das Wohlwollen des Königs von Mutabor, denn beide strebten nach Unsterblichkeit. Das Unsterblichkeits-Serum zu entdecken, das war Bryols Aufgabe und Pflicht und bei allem Luxus, den der König ihm zukommen ließ, war er doch nicht mehr als ein Leibeigener, dem grausame Folter drohte, sollte er diese Aufgabe nicht vollbringen. Tag und Nacht dampften und brodelten in seinem Laboratorium stinkende Brühen vor sich hin, die jedoch in der Regel samt ihrer Behältnisse explodierten. Noch hatte Bryol mit seinen Experimenten nichts weiter erreicht, als dass er das Leben von Sklaven sinnlos vergeudete.

Nun begab es sich, dass der König ungeduldig wurde, denn er war alt geworden und gebrechlich. Seine zahlreichen Söhnen bereiteten sich auf den Kampf um seine Nachfolge vor. Ein Kampf um Leben und Tod würde das werden, doch er würde nicht weinen um seine toten Söhne, denn das war nicht die Art dieses Volkes, wo schon immer nur der stärkste und listenreichste die Herrschaft inne hatte. Doch noch glaubte der König, der listenreichste von allen zu sein und sandte Boten aus, einen neuen Alchemisten zu finden. Davon erfuhr Bryol durch die Dienerschaft, und Meister Bryol und sein Gehilfe Aydin wussten, was das bedeutete, denn Gnade kannte der König von Mutabor nicht.
Schließlich brach die Nacht an, die ihre letzte sein sollte. Nichts mehr hatten sie geschaffen, nichts war gelungen, was ihre Rettung hätte sein können. Der Meister verlor den Verstand darüber, denn er wähnte sich (wie all die Zeit zuvor auch), kurz vor der Entdeckung des Geheimnisses. Er rührte und mixte alles, was ihm in die Finger kam. Der Gehilfe indes fügte sich in sein Schicksal, ging mit der Kehrschaufel hinterdrein und kippte alles, was dem Meister misslang, in den großen Kessel. Aydin wollte sich nicht den Henkersknechten ausliefern, wollte selbst über sein Ende bestimmen. Ein fulminanter Abgang sollte es werden, das ganze Laboratorium samt dem Turm, wollte er in die Luft sprengen. Das schien ihm allemal der bessere Tod, als zur Belustigung aller bei lebendigem Leib in Stücke gehackt zu werden. Es war noch dunkel draußen, noch stand der Morgenstern am Himmel, als Aydin das Feuer unter dem großen Kessel entzündete. Bryol erkannte in diesem Moment, was Aydin vorhatte zu tun. Da überkam ihn großer Zorn auf den jungen Gehilfen und der Zorn gab ihm die Kraft, Aydin niederzuschlagen und in den Kessel zu werfen. Er war sofort tot. Aydin war im Zeichen des Feuers geboren, normalerweise nichts Bemerkenswertes, aber durch die Umstände seines Todes geschah etwas Besonderes.
Bryols Verstand, oder besser sein Überlebenswille, begann wieder zu funktionieren, als Aydins Körper komplett in der brodelnden Masse versunken war. Sollte der Turm wirklich zerstört werden, so dachte er fieberhaft, und sollte er es schaffen, der Zerstörung zu entkommen, dann wäre er frei, frei zu fliehen und anderswo ein neues Leben zu beginnen, denn niemand, nicht einmal der König, würde daran zweifeln, dass er tot wäre.
Ein geheimer Gang führte vom Keller des Turms zu einem anderen Keller in der Vorstadt, ein Weg, den er in jungen Jahren oft benutzt hatte, wenn ihm nach Genüssen der Sinn stand, deren Befriedigung im Turm nicht möglich war. So rannte er die vielen Stufen nach unten. Just in dem Augenblick als er in den Gang kroch, erreichte die Masse im großen Kessel ihren Siedepunkt, riesige Blasen stiegen auf, platzen und tröpfelten zu Boden. Dort wo sie aufkamen fing der Stein sofort an zu brennen. Während der Bryol unter der Erde dahinkroch, loderte der Turm auf wie eine riesige Fackel und erhellte die Nacht. Eine Fackel die sich in den Himmel reckte, weit, weit hinauf und immer weiter und weiter bis sie sich schließlich mit dem Morgenstern vereinigte, der gerade günstig stand. Es flackerte und loderte, es gab eine Explosion mitten im Nirgendwo, das Feuer erlosch, wurde zu Glas, zerbröselte und staubte herab, rieselte zurück auf das Land, auf die Stadt auf die Festung, glitzernd wie Schnee, hart wie Diamant. Dies alles geschah, ohne dass jemand dies bemerkte, denn um diese Zeit lagen selbst die wildesten Bewohner Mutabors in tiefem Schlaf. Einzig Bryol war Zeuge, denn genau in diesem Augenblick trat er hinaus auf die Straße der Vorstadt.

Die Bestie

Ein lichtheller Faden spann sich zwischen dem Morgenstern und dem Turm der standgehalten hatte und nun ganz weiß war durch den Staub, welchen die Hitze unauflöslich mit dem Stein verbunden hatte. Innen jedoch war der Turm ausgebrannt und leer. In diese Leere hinein fiel ein Ding, das den lichthellen Faden entlanggerutschte von jenseits des Himmels. Rauch quoll heraus aus dem Turm, verteilte sich, verdichtete sich, sank herab und legte sich über den inneren Festungsring wie eine Blase. Das alles sah Bryol. Ohne es zu begreifen erfasste er jedoch, dass etwas Bedeutsames geschehen war. So schnell ihn seine erschöpften Beine trugen rannte er zurück zum Turm. Staunend blieb er vor dem Wänden des Turmes stehen, die kalt waren wie Eis, staunend trat er durch den unteren Torbogen hinein, staunend betrachtete er das leere Innenrund des Turmes bis ganz nach oben. Schließlich wagte er es und senkte den Blick und wünschte im selben Moment, er hätte es nicht getan. Was er dort sah war so unbeschreiblich grotesk, dass sich ein gellender Schrei seiner Kehle entrang und er ohnmächtig zu Boden sank. So bemerkte er auch nicht, dass das Wesen sich über ihn beugte, als wäre es neugierig und so eine ganze Weile verharrte. Eine rotglänzende Flüssigkeit tropfte herab auf den Ohnmächtigen und, als hätte die Flüssigkeit einen eigenständigen Willen, breitete sie sich aus und bedeckte schlussendlich Bryols gesamten Körper und sickerte in diesen hinein. Nach einer Weile wandte sich das Wesen wieder ab, reckte einen Teil seiner unmöglichen Glieder gen Himmel und erstarrte, schien aber doch zu leben, denn manche Teile bewegten sich in gemächlichen Rhythmus hin und her.

Recht schnell fand Bryol heraus, dass eine bestimmte Art von Geschrei die Bestie dazu brachte, eine Flüssigkeit abzusondern. Rasch erkannte er auch, dass die Flüssigkeit, auf welke Haut aufgetragen, einen Verjüngungsprozess in Gang setzte. Bald schon hatte er herausgefunden, dass die Bestie sich unter bestimmten Bedingungen verwandeln und ein nahezu menschliches Aussehen annehmen konnte. Im Grunde genommen sah die Bestie dann aus wie Aydin, jedoch um einiges Vielschichtiger und auch nicht mehr so eindeutig im Geschlecht wie jener seinerzeit. Etwas länger dauerte es bis er herausfand, dass die abgesonderte Flüssigkeit umso nachhaltiger wirkte, je gequälter die Schreie wirkten. Tränen, so die These des Bryol, waren es, die die Bestie weinte aus Mitleid. Es stellte sich auch bald heraus, dass die Bestie das Innenrund des Turmes nie verließ und somit keine Gefahr für die Bevölkerung darstellte. Ziemlich lange dauerte es indes bis Bryol herausfand, dass die Bestie die Zeit in der Festung außer Kraft gesetzt hatte. So hatten er und der Herrscher von Mutabor doch noch die Unsterblichkeit gewonnen, doch auf eine Weise, die weit jenseits ihrer Vorstellungskraft lag.

Die Bevölkerung von Mutabor kümmerte sich nicht weiter um die Geschehnisse im Inneren der Festung und schon gar kein Interesse hatte sie für die Begebenheiten im Turm. Sie bestellten die Felder, gingen auf die Jagd, brachten die Ernte ein und bekamen ihre Kinder.

Die Zeitblase

Einst war Mutabor ein blühendes Reich, mehr Stadt jedoch, denn es bestand aus einer gewaltigen Festung in mehreren Ringen. Selbst die Felder lagen hinter der Mauer. Die ältesten und größten Gebäude waren diejenigen, die über den Quellen errichtet wurden und dem Wasser galt die Dankbarkeit aller Bewohner, denn Mutabor lag inmitten der Wüste.
Nach der Ankunft der Bestie geriet der Innere Festungsring bald in Vergessenheit, wurde zum blinden Fleck, unsichtbar für die anderen jenseits der Mauer. Irgendwann erlitt die Stadt das Schicksal, das Wüstenstädten oftmals eigen ist: Das Wasser versiegte, die Menschen zogen fort, die Stadt versandete, die Mauern von Sandstürmen geschleift. Einige Jahrhunderte nach Ankunft der Bestie war von Mutabor wenig mehr übrig als eine Anhäufung zerfallener Gebäude, deren Zweck nicht mehr zu erkennen war. Mutabor verschwand von den Landkarten, verschwand aus dem Gedächtnis der Wüstenvölker und wurde vergessen.

Der innere Festungsring jedoch blieb erhalten, konserviert und verborgen unter einer Blase aus geronnener Zeit, die Quellen dort gaben nach wie vor Wasser. Die Tage vergingen, die Jahreszeiten wechselten im altbekannten Rhythmus, ohne dass dies jedoch eine Auswirkung auf die Menschen gehabt hätte. Niemand alterte mehr, Kinder blieben Kinder in alle Ewigkeit, es wurde niemand mehr geboren und niemand starb eines natürlichen Todes. Dies galt ebenso für die alle Säugetiere, zum Glück aber nicht für die Pflanzen, die tief in der Erde verwurzelt, ihren eigenen Lebenszyklus beibehielten. Und das galt auch für Vögel. Wäre dem nicht so gewesen, wären sie allesamt verhungert, denn verlassen konnten sie die Festung nicht mehr. Wagte es dennoch jemand, alterte er rasant und in den späteren Jahrhunderten zerfiel er innerhalb weniger Sekunden zu Staub. Das war, als der Sprung von der Mauer zur beliebtesten Selbstmordart wurde, solange, bis der König dies verbot, denn was war ein König ohne Volk?

Die Unsterblichkeit war eine große Herausforderung für die Menschen in Mutabor. Nachdem die erste Freude über die verlängerte Lebensdauer vorüber war, verging die Zeit danach in ermüdender Ereignislosigkeit und zermürbender Langeweile, knapp im Zaum gehalten durch die Notwendigkeit, sich zu nähren und zu kleiden. Das Vergehen der Zeit ließ sich einzig am Wechsel der Jahreszeiten messen und auch nur, wenn jemand mitzählte, was jedoch bald alle sein ließen. Irgendwann brach Streit aus unter den Familien, viele erschlugen sich im Zorn gegenseitig, doch nicht wenige waren dankbar, dass dadurch dieses unnatürliche Leben endlich zu Ende war.



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