Kapitel 10

Eva machte es sich in ihrem superbequemen Ohrensessel gemütlich. Sie hing ihren Gedanken nach und sah derweil aus dem Fenster. Zum Glück schien die Sonne wieder und alles in allem fühlte sie sich froh und zufrieden. Dann und wann nahm sie sich ein Karamellbonbon aus der Tüte und lutschte es genussvoll. Es war ihre Lieblingssorte und sie war stets darauf bedacht, einen ausreichend großen Vorrat im Schrank zu haben. Als sich jedoch Vince (wie hätte sie es vermeiden können?) in ihre Gedanken schlich und diese in eine bestimmte Richtung drängte, war es mit ihrer Zufriedenheit vorbei. Sie wollte nicht an ihn denken! Er hatte sie doch nicht einmal eines Blickes gewürdigt. Und dann dieser Vamp mit dieser bodenlos unverschämt guten Figur, die sogar Marianna aus dem Rennen geworfen hatte ... Sie wollte sich keinesfalls unnötige Hoffnungen machen. Keinesfalls! Es konnte nur tragisch enden; damit hatte sie genügend Erfahrung. Sie war plötzlich genervt, mit ihrer Ruhe war es dahin, worüber sie sich ziemlich ärgerte. Sie nahm noch ein Bonbon und gleich noch eins hinterher, stand seufzend auf und holte sich ein Buch aus dem Regal: Ein Märchen war jetzt genau das Richtige!

Es war einmal ein armes Mädchen, das lebte ganz allein mitten in der Wildnis. Eine missgünstige Zauberin hatte sie vor langer Zeit dorthin verbannt und sie dann vergessen. In der Einöde, in welcher sie von dichten Dornenhecken eingeschlossen war, stand ein hohler Baum, der ihr als Wohnung diente. Sie lebte von dem, was die Natur ihr gab und vergaß mit der Zeit, dass sie einmal ein Menschenkind gewesen war. Ihre einzige Gesellschaft waren ein Falke und eine Eichhörnchenfamilie und manchmal kam ein alter Dachs vorbei. Die Jahreszeiten wechselten in gleichförmigem Rhythmus, die Bäume strebten beharrlich in die Höhe und aus dem lieblichen Mädchen wurde eine alte Frau. Das lange Haar hing ihr in dünnen, grauen Strähnen über den gebeugten Rücken bis hinab zum Boden. Sie fühlte ihr Ende nahen und wurde zum ersten Mal rebellisch. Sie wollte nicht in dieser Einöde sterben. Doch wie sollte sie von hier fortkommen? Es führte kein Weg durch die Hecke. Traurig berührte sie die todbringenden Stacheln vorsichtig mit dem Zeigefinger und erschrak zutiefst. Die Berührung schien die Hecke zum Leben erweckt zu haben, denn mit einem Mal bewegte sich das Geäst derart heftig, als rausche ein gewaltiger Wind hindurch. Als wieder Ruhe einkehrte, gewahrte die alte Frau einen schmalen Pfad, der sich inmitten der Hecken aufgetan hatte. Sie war frei! Endlich! Sie rief dem Falken und den Eichhörnchen einen Abschiedsgruß zu und machte sich auf den Weg.
Das dichte Blätterdach des Waldes ließ kaum Tageslicht durch. In dem diffusen, grünlichen Dunkel stolperte sie an bleichen Gebeinen und Schädeln vorbei, die sie aus leeren Augenhöhlen bedrohlich anglotzten; gerade so, als wollten sie sie am Weggehen hindern. Doch nachdem sie einmal so weit gekommen war, ließ sie sich nicht abschrecken und setzte tapfer die mühselige Wanderung durch den fast undurchdringlichen Wald fort. Mehr als einmal kam sie in Versuchung, sich für ihren Wagemut zu verfluchen, doch besann sie sich jedesmal eines Besseren. Die Lichtung war zwar ihre Heimat gewesen, aber sterben wollte sie dort nicht. Mehr als einmal sank sie weinend zusammen, wenn die schmerzenden Füße den Dienst verweigerten, wenn Gesicht und Hände blutig gekratzt waren. Doch es gab kein Zurück. So verging ein Tag nach dem anderen und allmählich lichtete sich der Wald, so dass sie bequem zwischen den Bäumen hindurchgehen konnte. An einer Quelle traf sie eine Schar gar wunderlicher Gesellen. Abend für Abend saß sie mit am Lagerfeuer und hörte ihren fröhlichen Gesängen zu. Eines Tages bemerkte sie mit eisigem Schreck, dass die muntere Schar auf einen traurigen Rest zusammengeschrumpft war. Sie sangen keine Lieder mehr, sondern verbrachten die Nächte damit, in alten Erinnerungen zu schwelgen.
Das war nichts für sie, also nahm sie ihre Wanderschaft wieder auf. Die Bäume standen mittlerweile so weit auseinander, dass sechsspännige Kutschen bequem zwischen ihnen hindurchfahren konnten. In schöner Regelmäßigkeit donnerten diese, gezogen von prächtig geschmückten Pferden, an ihr vorbei. Sie folgte der Spur, die die Wagenräder in die Erde gebahnt hatten und kam schließlich zu einem prächtigen Schloss. Die Tore waren geöffnet und rotblühende Rosenhecken schmückten die weißen Mauern. Sie trat ein und hatte das Gefühl, endlich angekommen zu sein. Sie blieb vor dem Bild eines wunderschönen jungen Mädchens stehen, das sie mit strahlenden Augen und rosigen Wangen ansah. Ihr Schreck hätte nicht größer sein können als sie erkannte, dass es ihr eigenes Spiegelbild war, denn die Lumpen, in die sie gehüllt war, zeugten von der Vergangenheit. Noch während sie so dastand und sich betrachtete, kamen eifrige Diener herbeigeeilt und führten sie in ein vornehmes Zimmer. Sie wuschen sie und kleideten sie in ein prächtiges Gewand, zündeten ein Feuer an, brachten ihr zu essen und zu trinken und ließen sie dann allein. Wie durch Zauberhand lagen tagtäglich frische Früchte und allerlei Köstlichkeiten in silbernen Schalen und Kannen auf dem Tisch. Sie unternahm ausgedehnte Spaziergänge durch das Schloss und den Garten, doch nie begegnete sie einem anderen Menschen. Außer den Dienern, die sie selten genug zu sehen bekam, schien es keine Bewohner zu geben. In einer mondlosen Nacht überfiel sie tiefe Wehmut und noch vor dem Morgengrauen verließ sie den gastlichen Ort.
Die Sonne war gerade erst aufgegangen, als zu ihrer großen Überraschung der Wald unvermittelt aufhörte. Sie war so überwältigt von dem Anblick, dass sie mit tränenfeuchten Augen auf die Knie sank. Großartig und erhaben in ihrer Unendlichkeit breitete sich eine sonnenüberflutete Ebene vor ihr aus. Es schien fast, als habe die Sonne die Nacht nur deswegen vertrieben, damit sie sich an diesem Anblick ergötzen konnte. Weiches, saftiges Gras reichte so weit das Auge sah, und vereinte sich weit hinten am Horizont mit dem sanften Blau eines wolkenlosen Himmels. Inmitten dieser grünen Weite erkannte sie, dunkel und bedrohlich, die Zinnen Mutabors. Sie erinnerte sich, dass dort diejenigen eingekerkert waren, die versucht hatten, sich die Unendlichkeit Untertan zu machen. War sie einst von dort gekommen? Sie wusste es nicht und wollte es auch nicht wissen, denn um nichts in der Welt hätte sie dort hingehen wollen. Sie wollte nichts zu tun haben mit den grausigen Herren der Festung. Sie schloss die Augen gerade in dem Augenblick, als ein dunkelblau gefiederter Engel vom Himmel fiel und sich ein Schloss erbaute auf einer einsamen Insel. Eine silberne Fee schwebte vorüber und verschwand im düsteren Heim des Engels. Ein prächtig blühender Rosenbusch streckte seine Zweige aus und rankte emsig an Mauer und Turm empor, bis bald nur noch die Spitze heraussah. Sie lachte darüber, denn es sah schön aus, und obwohl so unendlich weit fort, streckte sie die Hand aus und pflückte sich eine Rose, roch daran und blies sanft darüber.
Die Blüte öffnete sich und brachte ein winzig kleines Männchen zum Vorschein. Es trug eine Augenklappe und einen Federhut, den er sich mit elegantem Schwung vom Kopf riss, als er sich verbeugte. Sie war verblüfft, doch hielt sie die Hand wacker um den Stiel geschlossen.
"Küss' mich schnell, Du schöne Maid, ich warte doch zu bang. Dein Schade soll's gewiß nicht sein. Bin ein Pirat und stets allein und leb' so schon zu lang!"
Sie spürte, wie eine hysterische Welle sie inwendig kitzelte. Da stand dieser Winzling von Pirat und reckte ihr das Mündchen, gespitzt und kussbereit, entgegen.
"Ich flehe Dich an", piepste der Minipirat, "und schenk mir nur einen Kuss!"
Sie ließ sich erweichen, denn was konnte es schaden, und hielt ihre andere Hand auf. Mit einem verwegenen Sprung hechtete er auf ihre Handfläche und landete nach einem  weiteren verwegenen Sprung sicher auf dem Boden. Sogleich fing er an zu wachsen, wurde größer und größer, bis er sie um Haupteslänge überragte. Dann nahm er sie an beiden Händen, zog sie zu sich heran und hauchte ihr einen Kuss auf die Lippen. Es war ein Kuss, der kürzer nicht hätte sein können, und doch brannten ihre Lippen wie Feuer.
"Warte auf mich!" flüsterte er in ihr Ohr und sprang schwertschwingend davon. "Ich bin gleich wieder zurück!" Sie zog ein Spitzentaschentuch aus dem Mieder und tupfte sich die Stirn ab. Ach was, dachte sie. Nach der unendlich langen Zeit, die sie alleine verbracht hatte, erschien es ihr unsinnig, ausgerechnet hier und ausgerechnet auf einen Piraten zu warten. Wer garantierte ihr denn, dass er überhaupt zurückkam. Es gab noch so viel zu sehen! Eine kleine Erinnerung würde sie ihm dalassen, das musste genügen. Sie hob das Taschentuch an ihre Lippen und ließ es fallen. Er würde es schon finden, wenn er zurückkäme. Versonnen lenkte sie ihre Schritte Richtung Süden und erfreute sich an dem fröhlichen Gezwitscher der Paradiesvögel, die zu hunderten um sie herumflatterten, bis unerbittliches Klingeln sie davonscheuchte.

Eva hatte Mühe, sich so schnell zurechtzufinden, wie es die Situation erfordert hätte. Sie war im Sessel eingeschlafen und einer ihrer Füße schlief immer noch. Mehr zufällig sah sie auf ihre Armbanduhr."Oh Himmel! Schon so spät!" murmelte sie erschrocken.

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