Kapitel 47

Nachtgestalten
Was Sie schon immer über Vampire wissen wollten ... können Sie jetzt hautnah erleben! Buchen Sie noch heute!

Es folgten die üblichen Informationen, die Eva Vollmer kurz überflog, bevor sie die Broschüre zuklappte, die ihr Claudia Müller-Colon kommentarlos in die Hand gedrückt hatte. Text und Gestaltung waren unauffällig gehalten und bildeten einen starken Kontrast zu dem Deckblatt, das in bester Gruselromanmanier aufgemacht war. Es zeigte einen eleganten, graumelierten Vampir mit wallendem Umhang und gebleckten Reißzähnen, der sich gerade über den zurückgebeugten Hals seines leichtbekleideten, blondhaarigen Opfers hermachte. Die junge Reiseleiterin, ebenso blond und langhaarig wie das Opfer des Vampirs, fand das Titelbild ziemlich kitschig, wusste aber, dass die Chefin einen untrüglichen Instinkt hatte, wenn es galt, neue Kunden zu gewinnen. Ihr, in Evas Augen oft recht zweifelhafter Geschmack, hatte das Reisebüro zu einer wahren Goldgrube werden lassen, das in bestimmten Kreisen als der absolute Geheimtipp gehandelt wurde. So auch diesmal: die erste "Nachtgestalten"-Reise war schon ausgebucht. Das Reisebüro Müller-Colon richtete sich mit seinen Angeboten fast ausschließlich an Vereine und ähnlich geartete Verbindungen und stimmte jeden Trip individuell auf die Bedürfnisse und Besonderheiten der Reiselustigen ab.

"Nun, Frau Vollmer, was sagen Sie?" Claudia Müller-Colon erwartete, wie die junge Reiseleiterin mittlerweile gelernt hatte, keine Antwort auf Fragen dieser Art. "Die Location ist für weitere Gruppen vorgebucht, denn natürlich werden die "Nachtgestalten" ein großer Erfolg, meinen Sie nicht auch?" Eva nickte und lächelte. "Die Broschüre wurde einem eigens ausgewählten Kreis möglicher Interessenten zugänglich gemacht. Sehr nobel, sehr exklusiv und selbstverständlich sehr teuer. Sie werden die erste Gruppe betreuen. Ihr Flug geht morgen früh, ich glaube um sieben oder acht. Nun, was sagen Sie dazu?" Claudia Müller-Colon stand auf, öffnete schwungvoll eine Schranktür und reichte, ebenso schwungvoll, ihrer Angestellten einen schwarzen Aktenkoffer. Es war wie im Film: Die Super-Agentin erhielt die super-geheimen Instruktionen für die super-gefährliche Mission. "Hier sind wie immer sämtliche Informationen. Als besonderes Extra gibt es die passende Reiselektüre. Eigens für das Reisebüro Müller-Colon aufgelegte Vampirgeschichten berühmter Autoren. Ich erwarte natürlich, dass sie das Büchlein lesen, auch wenn diese Art Geschichten nicht zu Ihrer bevorzugten Lektüre gehören sollten." Eva Vollmer beeilte sich, der Chefin gewissenhaft zu versichern, dass dies selbstverständlich kein Problem sei, und eine Winzigkeit von einem Lächeln huschte Claudia Müller-Colon für einen Sekundenbruchteil übers Gesicht. Sie lächelte selten, ein Lachen kam nie vor, zumindest nicht im Dienst, dazu war keine Zeit. "Entschuldigen Sie mich jetzt bitte, ich habe noch einen Termin. Viel Erfolg und gute Reise." Claudia Müller-Colon stand auf, zackig und schwungvoll, wie es ihrem Wesen entsprach und drückte der jungen Reiseleiterin kurz und kräftig die Hand. "Ich sehe Sie nächsten Montag um 16.00 Uhr und erwarte Ihren Bericht, ausführlich und schriftlich."

Eva Vollmer sah auf die Uhr. Wie immer hatte die Übergabe exakt fünfzehn Minuten gedauert. Die Sekretärin würde gleich hereinkommen und ein großes Glas frisch gepressten Orangensaft servieren. Auch dies war Teil des Rituales, das mit der Kofferübergabe einherging. Sie ließ die Kofferschlösser aufschnappen und begann, das umfängliche Dossier zu lesen.
Sie betreuen eine Gruppe von zwölf Personen, die die 4-tägige Reise "Nachtgestalten" anlässlich einer pompösen Tombola zugunsten eines guten Zweckes gewonnen haben. Sämtliche Kosten trägt Giesbert vom Steingarten, der die Buchung dieser Reise für seine persönliche Publicity ausnutzt. Es könnte also sein, dass sich unter den Mitreisenden ein Reporter befindet, also geben Sie Ihr Bestes. Die Teilnehmer sind entweder Geschäftspartner, Freunde oder Bekannte dieses Herrn, und ich möchte nicht, dass sich jemand bei ihm beschwert. Aber ich bin sicher, dass Sie allen anfallenden Bedürfnissen und Wünschen gerecht werden. Die "Nachtgestalten" führt in eine Region ganz besonderer Art. Ein Großgrundbesitzer, Graf Rotenstein, der sich der direkten Verwandtschaft mit dem legendären Graf Dracula rühmt, hat einen Teil seiner uralten Burganlage aufwendig restauriert und in ein Hotel verwandelt, das reichlich Gruseleffekte bietet und gleichzeitig all den Luxus, den verwöhnte Touristen niemals und nirgendwo missen möchten. Die Zimmer sind so ausgestattet, dass ein moderner Mensch keine Entzugserscheinungen bekommt und problemlos jederzeit seine unaufschiebbaren Geschäfte erledigen kann. Der eisige Wind, der durch die Räume weht und für Gänsehaut sorgt, wird durch eine computergesteuerte Klimaanlage erzeugt und im düsteren Schlosskeller, gleich neben der gutsortierten Folterkammer, befindet sich ein großes Schwimmbad nebst Sauna, Fitness- und Massageräumen. In der Tanzbar treiben sich am Abend schaurig aussehende Wesen herum, die böse die Zähne fletschen, wenn man nicht tanzen oder ihnen keine Drinks ausgeben will. Sie sehen, ein perfekter Ort für das ultimative Gruselfeeling. Für ganz Mutige werden Nachtfahrten in alten Kutschen angeboten, die sie durch finstere Wälder und menschenleere Ruinen führt. Krönender Abschluss dieses Spektakels ist eine mitternächtliche Friedhofsbegehung. Als besonders bemerkenswert muss hervorgehoben werden, dass nicht nur die Burganlage für den Tourismus erschlossen wurde, sondern drei zur Grafschaft gehörende Dörfer ebenfalls. Landwirtschaft war in dieser kargen Landschaft nie besonders ertragreich und eine Industrialisierung hatte niemals stattgefunden. Die Einwohner dieser Region waren fast alle in die Städte abgewandert, so dass zu guter Letzt nur noch ein paar alte Menschen von der Hand in den Mund zwischen größtenteils eingestürzten Häusern lebten. Der Graf restaurierte die drei Dörfer ohne Rücksicht auf die Kosten. Häuser, Werkstätten und Gasthöfe wurden mit allem ausgestattet, was das Wohnen in modernen Zeiten behaglich macht. Andererseits wurde alles, was auf den Einsatz moderner Technik hinweisen könnte, sorgfältig verborgen. Indem er billigen Wohnraum und die Möglichkeit bot, sich dort den Lebensunterhalt zu verdienen gelang es ihm, die Dörfer binnen kürzester Zeit wieder zu bevölkern. Die zugezogenen Bewohner fanden schon bald Gefallen an dem neuen alten Leben und ließen viele alte Handwerkstechniken in neu errichteten Werkstätten originalgetreu wieder aufleben. Bald schon wurden die Kunst- und Folkloregegenstände, denen man im Anfangsstadium den Vermerk 'Made in Honkong' entfernen musste, in sorgsamer Handarbeit hergestellt. Die Investition des Grafen hat sich mehr als gelohnt. Sein mittelalterlicher Abenteuerspielplatz hat sich als echte Goldgrube erwiesen.

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