Kapitel 9

Mechanisch setzte Alexander einen Fuß vor den anderen und war froh über den plötzlich einsetzenden Regen, der verbarg, dass er weinte. Der Schmerz zerriss unbarmherzig sein Herz und schleuderte ihn in eine finstere Schattenwelt. Schritt für Schritt kämpfte er sich durch schwarzen Morast. Da hörte er plötzlich feine Glöckchen bimmeln, hielt inne, sah voller Verwunderung zum Himmel hinauf und sah voller Verwunderung, wie unzählige feenhafte Wesen herabschwebten. Mit filigranen Fingern woben sie zauberhafte Töne, fremd und doch vertraut, die seiner Seele schmeichelten und Balsam waren für sein wundes Herz. Als er sich besser fühlte, ertönte wieder feiner Glockenklang und die Feen verschwanden so unversehens wie sie gekommen waren. Er putzte sich die Nase, erfreute sich an den wärmenden Sonnenstrahlen, die gerade hinter den Wolken hervorkam. Tief sog er den frischen Frühlingsduft ein und schritt beschwingt aus.

"Alexander! Wo kommst Du denn jetzt bloß her?" empfing ihn seine Mutter lauthals zeternd, kaum dass er das Haus betreten hatte. "Ich konnte die ganze Nacht kein Auge zutun! Warum hast Du nicht angerufen? Und wie siehst Du denn aus? Wo hast Du Dich nur rumgetrieben? Einfach über Nacht wegbleiben ...! Was hast Du Dir bloß dabei gedacht? Nichts! Natürlich! Und dann in aller Seelenruhe am helllichten Tag nach Hause kommen! Das ist doch nicht zu fassen. Was hast Du Dir bloß dabei gedacht?"
Als Elisabeth Grünberg diesen letzten Satz mit sich überschlagender Stimme hervorgestoßen hatte wurde ihr klar, dass es ziemlich lächerlich wirken musste, so wie sie sich aufführte. Doch es war einfach zuviel für sie gewesen, sie konnte nicht anders. Es war diese fürchterliche Angst, die sie dazu trieb.
Alexander hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, doch das wäre ein schlichtweg unverzeihliches Verhalten gewesen. Also ließ er ihre Tirade stumm über sich ergehen und versuchte, so gut es eben ging, einen reumütigen Eindruck zu machen. Er hätte jetzt so gerne seine Ruhe gehabt, anstatt seiner hysterisch keifenden Mutter mit ihrer panischen Ängstlichkeit ausgeliefert zu sein. So viel war geschehen, so viel hatte sich verändert ... Er biss sich auf die Lippen. Schließlich war er alt genug, um über Nacht wegbleiben zu können! Wie gut hatte es doch Vince, mit seiner eigenen Wohnung. Nun ja, dachte er, angeregt durch das gerade eben erwachte schlechte Gewissen, anrufen hätte ich schon können. Aber wer denkt schon an die Mutter, wenn ... Was konnte er denn dafür, wenn sie partout nicht wahrhaben wollte, dass er längst erwachsen war. Trotzig sah er sie an und bekam dabei ein klammes Gefühl in der Magengegend, denn es war ihm, als sehe er sie zum ersten Mal. Vor ihm stand eine verhärmte Frau, die sich für ihre Familie aufgeopfert hatte, deren Lebensfreude erstickt worden war von der Eintönigkeit ihres Daseins und deren Träume sicher nicht in Erfüllung gegangen waren. Der Anblick ihrer tränenfeuchten Augen traf ihn mehr, als jedes ihrer Worte. Ihr Auftritt war keine Schikane, sie hatte wirklich Angst. Genau in diesem Augenblick überkam ihn eine sonderbare Vision. Er sah sie, wie sie hätte sein können oder vielleicht sogar einmal gewesen war. Er sah eine wunderschöne Frau, deren kraftvolle Ausstrahlung so gar nichts mit der Frau gemein hatte, die vor ihm stand. Dieses unwirkliche Bild wurde jedoch sofort wieder wegfegt von ihrem Gekeife, das sich unerbittlich in seine Gehörgänge zwängte.
"Es hätte alles Mögliche passiert sein können! Wie konntest Du mir das nur antun? Ich konnte die ganze Nacht kein Auge zutun! Also! Nein! Unmöglich! Ich wollte schon die Polizei anrufen, weil ... Soll ich Dir was zu essen machen? Hast Du Hunger? Soll ich Dir das Mittagessen aufwärmen? ... Oder möchtest Du lieber eine heiße Milch?"
Alexander sah verlegen zu Boden. Diese mütterliche Fürsorge hatte er nicht verdient. Er wollte sie auch gar nicht. Nicht jetzt!
"Tut mir echt leid, echt! Wirklich! Du wusstest doch, dass ich mit Vince weg war! Auf einer Party! Es ist ziemlich spät geworden, und da haben wir eben dort übernachtet. Es tut mir leid, dass ich nicht angerufen habe, ich hab nicht dran gedacht. Total vergessen! Ich hab auch keinen Hunger ... soll nicht wieder vorkommen ... Ich ... Ich geh' jetzt nach oben!"
Er ließ die Mutter stehen und stürmte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hoch.
"Alex!"
"Mama! Bitte! Es ist doch alles in Ordnung. Ich bin doch wieder da. Reg Dich doch bitte nicht mehr auf! Mir ist nichts passiert! (Zumindest nichts, weswegen man die Polizei hätte holen müssen, dachte er grimmig.) Es ist alles in Ordnung. Ich geh jetzt nach oben. Mama! Bitte!"

Alexander atmete erleichtert auf, als er die Tür hinter sich zumachte. Eine ganze Weile kramte er in seiner eher dürftigen CD-Sammlung, bis er das Richtige gefunden hatte. Er schaltete die Anlage ein, zog sich aus, ließ sich aufs Bett fallen und zog die Decke hoch. Er verschränkte die Arme unter dem Kopf und starrte mit verklärtem Blick an die Zimmerdecke, ohne zu wissen, was er denken sollte. Doch das änderte sich schnell, als er die Augen schloss und Mariannas Bild blitzartig erschien, so nah und so wirklich, als wäre sie bei ihm. Er flüsterte ihren Namen und jeder einzelne Buchstabe zerging wie Softeis auf seiner Zunge. Er strahlte glückselig vor sich hin und schwebte auf einer rosaroten Wolke davon. Seltsam erhaben fühlte er sich und aufgenommen in die Riege der Wissenden. ES war endlich geschehen! Bilder tauchten auf, wild und ungezügelt, die feurige Schauer durch seinen Körper jagten und seine Hände dazu verleiteten, unter der Bettdecke zu verschwinden. Als alles zu seiner Zufriedenheit getan war, drehte er sich gemächlich auf die Seite und nahm sein Kopfkissen fest in den Arm. Er blinzelte seinem alten Teddy, dessen schwarze Knopfaugen ihn bedeutungsvoll anzusehen schienen, verschwörerisch zu und schlief ein.

Ein Traumbild verschwand wie eine Fata Morgana und Alexander erwachte jäh und ungemütlich, als das Licht eingeschaltet wurde. Durch halbgeschlossene Augenlider sah er seine Mutter, die händeringend mitten im Zimmer stand. Er hörte nicht alles, was sie sagte; seine Ohren brauchten wohl etwas länger zum Wachwerden.
"... das darf doch wohl nicht wahr sein! Du bist noch nicht angezogen? Den lieben langen Tag im Bett herumliegen, aber nachts nicht nach Hause kommen! Wenn ich das gewusst hätte ... Du hättest mir helfen können. Es ist fast sieben und Tante Margarete und Onkel Hugo kommen gleich. Ich möchte bloß wissen, was das für eine Party gewesen ist! Du siehst ja völlig weggetreten aus!"
Vorwurfsvolles Schweigen füllte jeden Winkel des Zimmers aus. Alexander war versucht, die Decke über den Kopf zu ziehen, öffnete aber stattdessen seine Augen vollständig.
"Hast Du etwa getrunken ... oder ... womöglich sogar gehascht?" Seit Elisabeth Grünberg im Fernsehen einen aufsehenerregenden Bericht über jugendliche Rauschgiftsüchtige gesehen und erfahren hatte, wie schnell man auf die schiefe Bahn kommen konnte, fürchtete sie, dass es ihrem Kind genauso ergehen könnte. Die Welt war voller Gefahren und an jeder Ecke standen heutzutage Drogendealer herum. Wer weiß, auf was für einer Party er sich rumgetrieben hatte. Wer weiß, was er da zu sich genommen hatte? Er war doch sonst so ein zuverlässiger Junge. Und er hatte so merkwürdig ausgesehen, als er nach Hause kam, hatte sie so merkwürdig angesehen und ... Sie unterbrach sich selbst energisch in ihren Gedanken. "Los! Steh auf! Mach schon! Raus aus dem Bett! Sieh zu, dass Du Dich in Ordnung bringst. Was sollen denn Tante Margarete und Onkel Hugo von so einem Rumtreiber denken!"
Alexander schüttelte wacker Decke und Schlaf ab und quälte sich in eine sitzende Position. Er rieb sich die Augen, gähnte, streckte und reckte sich.
"Ach! Stimmt! Der zweite Sonntag im Monat! Feierliches Abendessen und geselliges Beisammensein mit Margarete und Hugo. Das hatte ich völlig vergessen!"
"Alexander!!! Was ist nur mit Dir los? Seit gestern scheinst Du ja andauernd irgendetwas zu vergessen! Was ist bloß in Dich gefahren? Hast Du wirklich nicht gehascht? Vielleicht hat Dir jemand was ins Glas getan? Man hört doch immer wieder so Sachen ... Nun mach schon endlich! Das kann ja kein Mensch mit ansehen! ... Dein Bruder hätte sich das niemals erlaubt ..."
Sie bedachte Alexander mit einem kurzen, aber umso böseren Blick und rauschte danach mit hoch erhobenem Kopf hinaus. Damit war klar, dass sie ihm noch längst nicht verziehen hatte. Die Anspielung auf Klaus hätte sie sich trotzdem sparen können, dachte Alexander missmutig, der mit seinem Bruder herzlich wenig anfangen konnte. Klaus hatte eine ordentliche Ehefrau und drei ordentliche Kinder, er hatte einen ordentlichen Beruf und einen ordentlichen Mittelklassewagen. Kurz er war ein ordentlicher, mustergültiger Sohn. Ihm nachzustreben hätte den Eltern sicherlich viel Freude bereitet. Doch Alexander interessierte dies alles nicht; heute noch weniger als jemals zuvor!

Alexander ging ins Bad stellte sich vor den Waschbeckenspiegel. Eigentlich sah er aus wie immer; nur die dunklen Schatten unter den Augen zeugten von zu wenig Schlaf. Dann zog er sich rasch aus, drehte den Wasserhahn bis zum Anschlag auf und stellte sich unter die Dusche. Er genoss mit neu erwachten Sinnen, wie das warme Wasser an seinem Körper herunterlief. Er dachte an Marianna und daran, wie sich ihre Hände auf seiner Haut angefühlt hatten und ihm wurde seltsam verlegen zumute. Schnell drehte er das Wasser aus und trocknete sich ab. Er wollte schon das Bad verlassen, als ihm etwas einfiel. Er öffnete das Schränken und holte eine BodyLotion hervor, die er zu Weihnachten bekommen und bisher erst einmal benutzt hatte, nämlich am ersten Weihnachtsfeiertag. Doch nun schien es ihm ausgesprochen wichtig, sich damit einzucremen, was er sogleich hingebungsvoll tat. Als er fertig war, wackelte er verwundert mit dem Kopf. Dieser Art von Körperpflege hatte er bisher nicht betrieben, lediglich das Nötigste und Schluss. Da hörte er auch schon die Mutter rufen. Sofort rannte er hinüber in sein Zimmer und riss den Kleiderschrank auf. Ratlos, mit schiefgelegtem Kopf und auf einer Lippe kauend, blieb er davor stehen. Es war wirklich nicht besonders aufregend, was da ordentlich auf Bügeln hing und feinsäuberlich in den Fächern übereinandergestapelt lag: Praktisch und außerordentlich langweilig! Es war ganz klar, neue Kleider brauchte der Mann. Das ganze Zeug im Schrank schien überhaupt nicht mehr zu ihm zu passen, wenn es überhaupt jemals zu ihm gepasst hatte. Er fühlte gerade in diesem Augenblick ein überaus drängendes Bedürfnis, sich schön zu machen für die Frau, deren Blicke er mit einer unglaublichen Intensität fühlte, sobald er die Augen schloss. In diesem Moment wuchs er über sich hinaus und beschloss, das Einkaufen nicht mehr seiner Mutter zu überlassen.
Elisabeth Grünberg riss zum zweiten Mal Alexanders Zimmertür ungestüm auf, nur um sofort angewurzelt stehenzubleiben. Alexander stand nackt vor dem Schrank und schlagartig wurde ihr bewusst, dass ihr Sohn kein kleiner Junge mehr, sondern längst ein erwachsener Mann war. Verlegen und mit hochrotem Kopf zog sie die Tür wieder zu.

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