Der Schrank

Es war einmal ein Junge, der hieß Marlon. Er wohnte in einem kleinen Haus, zusammen mit seiner Schwester Marleen und seiner Mutter. Seine Schwester war sehr neugierig und schaute immerzu in Schränke, zuweilen mehrmals täglich. Damit war sie sehr beschäftigt, denn sie hatten viele Schränke, was seltsam war, denn sie wohnten in einem wirklich kleinen Haus.

Eines Nachts blinkte ein Lichtschimmer durch den offenen Türspalt, davon erwachte Marlon. Neugierig geworden stand auf und spähte zur Tür hinaus. Oh, dachte er, da ist ja meine Schwester. Nur Marleens Hinterteil und ihre Beine waren zu sehen, der Rest von ihr steckte im Schrank. Aha, dachte Marlon, Mutter hat vergessen, den Schlüssel abzuziehen. In diesen Schrank musste Marleen auf jeden Fall hineinschauen, das konnte gar nicht anders sein, denn dies war der einzige Schrank, der sonst immer verschlossen war.
Rasch schlüpfte er in seine Pantoffeln und schlich zum Flur hinaus. Nur kein Geräusch machen, dachte er, sonst gibt’s Ärger. Mit ein bisschen Abstand zu seiner Schwester stellte er sich auf die Zehenspitzen, und schaute ebenfalls hinein in den Schrank. Doch da war nichts Interessantes: Fächer mit Bettwäsche nahmen die eine Hälfte ein, in der anderen Hälfte stand ein einzelner Besen.
„Na, das hat sich aber gelohnt!“ höhnte Marlon, lachte jedoch freundlich dabei und tätschelte seiner Schwester tröstend auf die Schulter. „Ach, was ist das denn?“ fragte er leise, mehr zu sich selbst und beugte sich tiefer hinab. Auf dem Schrankboden saß eine graue Maus, die piepste mit leisen Tönen und putzte sich die Barthaare. „Was ist das denn für ein süßes Mäuslein“ schwärmte Marlon.
„Das ist eine Koniferen-Maus“, erklärte Marleen in ernstem Tonfall, „ein sehr seltenes Exemplar, diese Tierchen leben überwiegend in alten Schränken, dort geht es ihnen gut, denn sie verfügen über einen bestimmten Zauber, der sie vor Entdeckung schützt. Die meisten können die Menschensprache verstehen und sie sind im Allgemeinen sehr zutraulich. Dieser Maus hier geht es sehr gut, wie du sehen kannst!“
„Oh!“ flüsterte Marlon verzückt, „das süße Koniferen-Mäuslein. Ob es wohl anfassen kann?“
„Ja natürlich“, antwortete Marleen, „nimm sie nur und dann schnell ins Bett, denn sie mögen es gerne warm und kuschlig in der Nacht. Aber du darfst Mutter nicht erzählen, wo wir die Maus gefunden haben, sonst gibt es Ärger. So und jetzt ab ins Bett mit dir. Es ist doch mitten in der Nacht!“
Marlon gehorchte ohne Widerworte, so hin und weg war er von der kleinen Maus, die in seiner hohlen Hand saß und ihn aufmerksam ansah. Er drückte sie an seine Brust, ging ins Zimmer zurück und schlüpfte unter die Decken.
Marlon wäre ich also wieder los, dachte Marleen, zum Glück war diese Maus im Schrank und hat ihn abgelenkt. Sicherheitshalber warf sie noch einen Blick auf ihren Bruder, der schon wieder tief und fest schlief.
Zurück beim Schrank, kletterte sie hinein, öffnete eine Klappe an der hinteren Schrankwand, schlüpfte durch und verschwand.
Marlon glaubte seiner Schwester so gut wie alles, was daran lag, dass sie es schaffte, ihn mit ihren Geschichten zu verzaubern, ganz so, als wäre sie eine Fee. Leichtgläubig war ja, aber er war nicht dumm. Er hatte schnell bemerkt, dass die Maus keine seltene Koniferen-Maus, sondern eine ganz normale Hausmaus war und überdies kein bisschen zutraulich. Denn sie war davongelaufen und verschwunden, noch bevor er wieder im Bett lag. Da wurde ihm klar, dass reingefallen war und wie Marleen ins Zimmer schaute, stellte er sich schlafend. Warte nur, dachte er, dich kriege ich!
Er wartete noch ein paar Minuten, bevor er wieder auf den Flur hinausging. Die Schranktüren waren immer noch offen, aber von seiner Schwester keine Spur. Auch im Schrank war sie nicht. Doch irgendwo musste sie ja sein. Er schaute ins Bad und in die Küche, auch da war sie nicht. Da nahm er das Nachtlicht vom Küchentisch und leuchtete in den Schrank hinein.

Im Lichtschein sah der Besen rot aus, wo er zuvor schwarz gewesen war und an der hinteren Schrankwand entdeckte er etwas, das aussah wie eine kleine Türklinke! Beherzt stieg er in den Schrank hinein und tatsächlich: Da war eine kleine Klinke und passend dazu, im Licht der Lampe nun gut zu erkennen, eine kleine Tür. Ohne nachzudenken drückte er die Klinke, die Tür ging auf und vor Schreck fiel ihm Lampe aus der Hand. Es polterte laut. Doch sein Herz, so schien es, polterte noch lauter. Dreimal tief durchatmen, befahl er sich, und schon ging es besser. Er nahm die Lampe wieder hoch und trat entschlossen durch die kleine Tür. Ganz sicher war Marleen durch diese Tür gegangen. Hinter sich machte er wieder zu. Das hatte seine Schwester auch getan, denn sonst wäre sie ja noch offen gewesen.

Auf der anderen Seite war ein schmaler Gang aus Mauerwerk, diesem folgte er. Nach einer sanften Biegung endete der Gang in einem hohen Kellergewölbe, die aus sich heraus leuchtete. Es war wirklich erstaunlich: Von der Decke herunter und aus den Wänden heraus wuchsen leuchtende Hörner, eines neben dem anderen, in unterschiedlichen Größen und Farben. Um jedes Horn war eine Kette geschlungen, die war aus Gold und verziert mit Perlen und Edelsteinen, grade so, als wären die Hörner schöne Frauen. Das hat Marleen bestimmt gefallen, dachte er.
Ziemlich genau in der Mitte der Höhle lag auf dem Boden eine Flöte. Vielleicht hat die einer verloren, überlegte Marlon, oder nicht richtig aufgeräumt. Er ging näher heran und sah, dass auch sie wunderschön war, goldglänzend, mit einer Spitze aus Kristall und mit einer Kugel am oberen Ende, direkt unterhalb der Stelle, wo man hineinblies. Aus der Kugel heraus wuchsen kleine weiße Flügel. Ein bisschen sah die Flöte aus wie ein Speer. Aber es war eindeutig eine Flöte, da war er ganz sicher. Mit Flöten kannte er sich aus. Er erinnerte sich an seine erste Blockflöte in der Grundschule, damit hatte alles angefangen. Behutsam und mit vor Aufregung leicht zittrigen Fingern, hob er die Flöte vom Boden auf und blies hinein. Eine einfache, aber herrliche Melodie kam aus der Flöte heraus, ohne dass er etwas anderes tat, außer gleichmäßig hineinzublasen. Und als er erst die Finger aufsetzte und richtig spielte, hörte es sich so schön an, dass er vor Freude hätte weinen mögen. Langsam ließ er den letzten Ton ausklingen und setzte die Flöte ab.
Plötzlich raschelte es rechts hinter ihm, ganz knorrig hörte es sich an, gefährlich und gruslig gleichermaßen. Ihm wurde ganz kalt von diesem Geräusch. Langsam drehte er sich um, schrie laut auf vor Schreck als er erkannte, was da so knorrig geraschelt hatte: Es war eine Kobra, eine riesige Riesenkobra! Der aufgeblähte Hals war groß wie ein Ball, die Zähne fingerlang. Die Kobra fauchte und bewegte sich vor und zurück und ihre gelben Augen rollten wild. Er hatte Angst und wusste sich nicht anders zu verteidigen, deshalb hieb er die Kristallspitze der Flöte kräftig in den Schlangenkörper, doch umsonst, die Schlange merkte es nicht einmal. Sie zischte und fauchte weiterhin und das riesige Maul pendelte hin und her. Gleich wird sie mich verschlingen, dachte er panisch. Er wollte davonlaufen, doch seine Füße bewegten sich nicht.
Schlangenbändiger dachte er verzweifelt, Schlangenbändiger flöten! Mit einem heftigen Ruck zog er die Flöte wieder aus dem Schlangenkörper heraus und blies hinein, ganz ohne Fingerspiel, so wie am Anfang, und die Eigenmelodie der Flöte erklang. Und tatsächlich, es gelang: die Kobra wurde ruhiger, ihr grässliches Maul klappte zu, der Hals wurde schmal, sie sank in sich zusammen und bewegte sich nicht mehr. Sie war eingeschlafen.
Er griff nach der Lampe und gleichmäßig weiterblasend und ging er rückwärts zurück zu jenem Gang, der ihn hergeführt hatte. An seine Schwester dachte er in diesem Augenblick nicht, er wollte nur noch weg.
Als er in den Gang trat, hörte er auf zu spielen und bekam den nächsten Schreck, denn dies war nicht der Gang, durch welchen er hergekommen war. Dieser Gang führte nicht zurück zum Schrank, nicht zurück nach Hause.
„Verdammt, verdammt, verdammt!“ murmelte er leise, „jetzt hab‘ ich mich verlaufen und muss wieder zurück und vorbei an diesem Riesenvieh und wo meine Schwester ist, weiß ich immer noch nicht!“
Marlon hob die Lampe in die Höhe und leuchtete in den Gang hinein. Rechts und links erkannte er viele waren Türen, mit vergitterten Fensterchen darin, eine neben der anderen, den ganzen Gang lang. Doch die Fensterchen waren viel zu hoch, als dass er hätte hineinsehen können. Außen an den Türen befanden sich große Schlösser in Form zusammengerollter Schlangen. Ein richtiges Schlangenverlies war das. Er hätte wohl gerne gewusst, was sich hinter den Türen verbarg, aber nachschauen würde er ganz bestimmt nicht.
In der Mitte der Schlösser saßen Schlangenaugen, die waren blau und matt waren wie Samt. Aber eines der Augen funkelte lebhaft. Was es wohl damit auf sich hatte? Er musste näher ran, ob er wollte oder nicht. Dann stand er davor und hatte seine Schwester gefunden. Nun, zunächst hörte er sie nur, doch es war ganz eindeutig: Das, was hinter der Tür heulte und schluchzte, war ganz ohne Zweifel seine Schwester. An ihrem Weinen hätte er sie überall erkannt, es war so typisch, vor allem dann, wenn sie wütend war, und sie weinte eigentlich nur, wenn sie wütend war.
„Marleen“ rief er leise, „hör auf zu weinen, ich bin da, ich befreie dich.“
Sofort hörte sie auf und presste ihr Gesicht an das Fenstergitter, denn sie war groß genug, um hindurchzuschauen. „Du willst mich befreien?“ fragte sie ungläubig.
„Ja natürlich, pass bloß auf!“
Marlon war aufgefallen, dass inmitten des Schlangenauges ein kleiner Schlitz war, genau passend für die Kristallspitze der Flöte. Und so steckte er sie hinein. Zuerst drehte er hin und her wie bei einem normalen Schlüsselloch, davon ging das Schloss aber nicht auf. Also blies er sachte in die Flöte. Das war genau richtig, denn das Schlangenschloss öffnete sich sogleich. Als hätte seine Schwester auf der anderen Seite der Tür gesehen, was er tat, riss sie im selben Moment die Tür auf und stürmte hinaus.
„Oh Marlon!“ sagte sie nur, umarmte ihn kurz und übernahm das Kommando.
„Wir müssen hier weg, sofort, das ist ein ungeheuerlicher Ort, ich weiß noch nicht mal, wie ich in das Verlies hineingekommen bin, ich habe keine Ahnung, wer mir das angetan hat, doch zum Glück bist du gekommen, ich weiß gar nicht, wie das alles gekommen ist, erst war ich im Schrank und dann war ich plötzlich in dieser grässlichen Zelle, das stinkt da drin ganz fürchterlich ...“ Sie schüttelte sich vor Abscheu, fasste ihn an der Hand, rannte los und zog ihn mit Leichtigkeit hinter sich her. „Wir müssen sofort zurück nach Hause!“
„Leise! Langsam! Sie wacht sonst auf!“ flüsterte Marlon eindringlich und stemmte sich gegen seine Schwester. „Wir müssen sehr vorsichtig sein und dürfen nicht so herumtrampeln!“
„Hör mal, ich trampel nicht! Und wer soll nicht aufwachen? Was soll der Quatsch?“ rief Marleen und tat empört, in Wirklichkeit hatte sie aber Angst und deswegen redete sie so laut.
Das war ein Fehler, denn genau deswegen passierte es: die Kobra erwachte. Noch war nichts weiter zu erkennen, nur eine dunkle, formlose Masse auf dem Boden, die sich nicht rührte. Doch Marlon spürte, wie sich die Schlange mehr und mehr anspannte und wie sie schließlich ganz und gar erwachte. In einer eleganten Bewegung richtete sie ihren Oberkörper auf, blähte den Hals und wiegte sich vor und zurück und von den riesigen Zähnen tropfte das Gift herunter.
„Aber …? Was …? Ist …? Das ..?“ stammelte seine Schwester, fassungslos und sah ihren Bruder mit aufgerissen Augen an. „Das ist die Kobra! Sag ich doch!“ flüsterte er zurück. „Bleib hinter mir“, befahl er ihr und täuschte Sicherheit vor, die er nicht wirklich hatte. „Ich weiß was zu tun ist!“ beruhigte Marlon und setzte die Flöte an die Lippen um sich erneut als Schlangenbändiger zu versuchen.
„Da kannst du lange flöten!“ flüsterte sie mit verdrießlichem Unterton und verdrehte verächtlich die Augen. Doch als sie sah, wie die Schlange wieder zu Boden sank, war sie erstaunt und froh gleichermaßen und drückte ihren kleinen Bruder fest an sich.
„Jetzt! Schnell weg hier“, drängte Marlon und packte seine Schwester, „bevor die Kobra wieder aufwacht.“
Die Schwester schaute ihren Bruder nur an, baff vor Staunen, dann folgte sie ihm stumm. Durch die Höhle, durch den Gang, durch die kleine Schranktür, durch die große Schranktür und schließlich durch die Zimmertür.
Die Flöte hatte Marlon zurückgelassen, denn genau neben der kleinen Tür hatte er die passende Halterung dafür gefunden. Das macht auch Sinn, dachte er, wer diese Höhle betritt, braucht unbedingt diese Flöte.

„Puh!“ sagte die Schwester, „das war knapp! Danke, dass du mich gerettet hast! Alleine wäre ich da nicht mehr rausgekommen. Das war vielleicht ein Riesenbiest!“ Marleen schüttelte sich bei dem Gedanken, was alles hätte geschehen können und tätschelte ihrem Bruder über den Kopf. „Diese Kobra muss mich hypnotisiert haben! Das weiß man doch, dass Schlangen das tun. Ich lass mich doch nicht freiwillig einsperren.“
„Ja!“ bestätigte Marlon mit großem Ernst. „Sie hat dich hypnotisiert und eingesperrt. Und ich habe sie hypnotisiert und dich befreit.“ Er gähnte, schlüpfte aus Hausmantel und Pantoffeln und ins Bett.
„Und kein Wort zu Mama!“ sagten beide wie aus einem Munde und kicherten leise.

Der Mond lächelte zufrieden und zog weiter auf seiner Bahn. Die kleine Maus trippelte zu Marlons Bett, hüpfte hoch und kroch unter seine Decke.

Ende

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