Eine kleine Geschichte von Drachen und Spinnen

Es ist allgemein bekannt, dass Drachen zu den Feuergeschöpfen gehören. Am wohlsten fühlen sie sich dort, wo es heiß und trocken ist und es sehr viel Sand gibt. Wenn die Zeit kommt, dass ein Drachenkind geboren werden soll, legt die Drachenfrau ein Ei. Das Ei wird in eine Mulde aus Sand gelegt und mit Sand bedeckt. Wenn dann der Tag kommt, dass ein Drachenkind schlüpfen will, wackelt es in seinem Ei sehr kräftig hin und her. Die Dracheneltern schaufeln den Sand wieder weg, der kleine Drache bricht durch die Eierschale und krabbelt heraus.

Nun begab es sich vor langer Zeit, dass ein Drachenvolk vom Weg abkam und in ein Land gelangte, das über und über mit Eis bedeckt war. Es war bitterkalt und kein Sand weit und breit. Davon wurden sie traurig, wussten aber nicht, wo sie sonst hätten hingehen sollen, denn sie hatten sich hoffnungslos verirrt. So wanderten sie in der Eiswüste umher und wurden immer niedergeschlagener. Es war kalt und sie froren und meist knurrte ihnen der Magen. Nun gab es zwar Kaninchen und Schafe, doch nicht sehr viele. Überdies mussten sie diese auch noch mit den Eisbären teilen, die sahen das gar nicht gerne, dass die Drachen auch auf die Jagd gingen.
Dann endlich entdeckten sie den Eingang zu einer großen Höhle. Zur Freude aller war es dort drinnen ganz wunderbar warm. Nicht so heiß wie in der Wüste, nein ganz und gar nicht, aber doch warm genug, um in der Eiswüste überleben zu können. Es wuchsen auch Pilze dort und Flechten, die zwar nicht besonders gut schmeckten, aber sehr nahrhaft waren, so dass sie schon bald wieder zu Kräften kamen. Sie erforschten die Höhlen, denn derer waren es viele. So gelangten sie eines Tages in eine Höhle, in der sich zu ihrem großen Entzücken ein See befand. Dessen Wasser war tiefschwarz, aber wunderbar heiß. An der Decke über dem See wuchsen Pflanzen, die im Dunkeln leuchteten, so dass die ganze Höhle in einem sanften Licht erstrahlte. Wie allgemein bekannt, baden Drachen auch sehr gerne und bis auf den fehlenden Sand fühlten sie sich in ihrer neuen Heimat nun pudelwohl.

Bald entdeckten sie, dass sie nicht alleine waren. In einigen höher gelegenen Wandnischen fristete eine kleine Seidenspinnen-Kolonie ein kümmerliches Dasein. Weder die Eiswüste noch die feuchte Wasserhöhle war ihre Heimat. Das hatten sie mit den Drachen gemeinsam. So dauerte es nicht lange, da freundeten sich Drachenvolk und Spinnenvolk an. Sie verstanden sich bestens, trotz der großen Unterschiede, und hatten sich viel zu erzählen.

Die Seidenspinnen waren einst geflohen aus den Ländern der Menschen. Dort war Spinnenseide sehr begehrt und die Spinnen lebten fast überall in Gefangenschaft. Aus Spinnenseide wurden all die schönen Gewänder gemacht, die die Menschen trugen, wenn sie bei der Königin vorstellig wurden. Und da viele Menschen zur Königin wollten, brauchte es Spinnenseide ohne Ende.
Eine Zeitlang hatten sie glücklich und unbehelligt eine der oberen Höhlen besiedelt. Doch irgendwann wurden sie entdeckt von einem Menschen, der von Zeit zu Zeit mit seinem Hundeschlitten die Eiswüste durchquerte. Der hatte nicht lange gefackelt und so viel Spinnenseidenkokons mitgenommen, wie auf seinen Schlitten passten. Dabei war die Kolonie fast völlig zerstört worden. Wieder einmal waren sie geflohen, noch tiefer in die Höhlen hinab und erst als ihre Kräfte erschöpft waren, hatten sie Halt gemacht. Das war in der Wasserhöhle gewesen. Sie waren die Wände hochgeklettert und hatten sich in den vielen kleinen Nischen einigermaßen wohnlich eingerichtet. Hier waren sie zwar sicher, denn so tief hinab hatte sich der Mensch nicht gewagt, obwohl er noch mehrfach dagewesen und einige Höhlen durchsucht hatte. Aber so richtig gefallen tat es ihnen dort nicht, denn es war viel zu dunkel, und für ihren Geschmack war es zu warm und zu feucht.
Die Seidenspinnen liebten Eukalyptus und Pfefferminz über alles, aber in der Eiswüste wuchs weder das eine noch das andere. So musste immer wieder ein Trupp in den oberen Höhlen Jagd auf Ameisen und Käfer machen. Glücklich waren die Spinnen schon lange nicht mehr und da kann man sich ihre Freude gut vorstellen, als die Drachen ihre Hilfe anboten. Nicht umsonst, muss man dazu sagen, aber die Spinnen gaben gerne, was die Drachen verlangten.

Das Spinnenvolk zog wieder in die oberen Höhlen und wie ein Jahr vergangen war, war die Kolonie wieder groß und die Spinnen zahlreich. Dort lebten sie nun Seite an Seite mit den Drachen und hatten viel Spaß miteinander.

Dann kam der Tag, als der Mensch wieder einmal mit seinem Schlitten ankam, Halt machte und die Höhle betrat. Oh, wie staunte er, und rieb sich die Hände, als er mittenmang drei große Haufen mit Spinnenseidenkokons entdeckte. Fast wäre er ohnmächtig geworden vor Schreck, als er die Drachen entdeckte, die hinter den Kokons standen, die Flügel leicht ausgebreitet, die Köpfe drohend zu ihm nach unten gereckt. Er wurde ganz blass, als er tief drinnen in seinem Kopf die Drachenstimme hörte, die den Preis für die Spinnenseide nannte: Die gleiche Menge an Pfefferminz und Eukalyptus sollte er bringen und 100 blaue Edelsteine, dann sollte er die Seide bekommen. Erst sträubte er sich, versuchte gar, den Preis herunterzuhandeln, aber schließlich siegte seine Vernunft. Ihm war schnell klar geworden, dass die Zeiten, in denen er die Kokons einfach hatte mitnehmen können, unwiederbringlich vorbei waren. So fuhr los, das Geforderte zu besorgen.

Die Seidenspinnen gediehen prächtig mit ihrer Leibspeise aus Pfefferminz und Eukalyptus, die auch in getrocknetem Zustand sehr schmackhaft waren. Mit den blauen Edelsteinen schmückten sie ihre Nester und das war gut für ihr Gemüt. So ging das Jahr ein Jahr aus und alle waren zufrieden, sogar der Mensch, mit dem sie sich mit der Zeit anfreundeten. Wenn er frisches Fleisch für die Drachen mitbrachte, bezahlten sie ihn mit Drachenschuppen, was ihn in den Ländern der Menschen zu einem reichen Mann machte. Und Zeit seines Lebens wahrte er das Geheimnis.

Wenn nun die Zeit kommt, dass ein Drachenkind geboren werden soll, legt die Drachenfrau ein Ei. Dann kommen die Seidenspinnen und spinnen einen dicken Kokon rundherum. Der hält das Ei warm, besser noch als heißer Sand. Wenn nun der Tag kommt, dass ein Drachenkind schlüpfen will, zerhackt es die Schale und frisst sich durch die Spinnenseide, bis es das Licht der Welt erblickt. Spinnenseide ist für ein frisch geschlüpftes Drachenbaby das Beste an Nahrung was es überhaupt gibt.

Und so lebten Drachen und Spinnen in froher Eintracht miteinander, und wenn sie nicht gestorben sind, dann tun sie das noch heute.

Ende

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