Mella fliegt davon

Der Turm

Hinterm Haus hockte ein Mädchen im Gras und bohrte mit einem Stock Löcher in den Rasen; sie langweilte sich ganz offensichtlich. Sie langweilte sich nicht nur, sondern sie war auch sehr, sehr ärgerlich. Die anderen waren alle zum Kristallsee geflogen, nur sie musste zurückbleiben und aufpassen, dass das Feuer nicht ausging. Eigentlich wäre heute ihre Cousine dran gewesen, aber vorgestern hatten sie getauscht. Wer hätte auch ahnen können, dachte sie grimmig, dass ausgerechnet heute hitzefrei sein würde? Nachdem es die letzten zwei Wochen immer nur geregnet hatte?
Das Mädchen mit dem grimmigen Gesichtsausdruck hatte einen bemerkenswerten Namen: Detmolda Karlotta Hildegard (die Vornamen) und Zabakuck Lotterbeck Fargau (die Nachnamen), weil das aber viel zu lang war, nannte man sie Mella. Wie es dazu gekommen war, wusste niemand mehr, aber Mella war mit diesem Namen sehr zufrieden. Vor drei Tagen hatte sie ihren 130. Geburtstag gefeiert und konnte für ihr Alter schon recht gut zaubern. Das, so würde man denken, sollte wohl reichen, um alle Langeweile und allen Ärger gründlich zu vertreiben.
Dennoch: Mella jammerte und stöhnte mitleiderregend vor sich hin und zog scheußliche Grimassen dabei. Schließlich pfefferte sie den Stock in die Büsche und hüpfte auf die Schaukel. Immerhin, dachte sie, heute kann ich schaukeln bis mir schlecht wird. Obwohl sie die Schaukel ganz für sich alleine hatte, ärgerte sie sich weiterhin und ärgerte sich gar so sehr, dass sie glaubte, gleich platzen zu müssen. Die Wut wogte mächtig in ihr und sie schaukelte höher, und immer höher, bis sie mit den Zehenspitzen die unteren Äste des Baumes berühren konnte, an denen die Schaukel hing. Der Baum, eine Kyrbel-Eiche, war sehr hoch und sehr wertvoll, denn aus dem Holz der einjährigen Triebe wurden Zauberstäbe geschnitzt. Und dann schaukelte sie so hoch, dass sie über den Baum hinwegsehen konnte. Und da sah sie ihn, den alten windschiefen Turm, seit jeher verboten für junge Hexen.

Augenblicklich sprang sie von der Schaukel, schlug drei elegante Purzelbäume in der Luft und landete (weniger elegant) auf ihrem Hinterteil. Jetzt hatte sie es sehr eilig, denn sie musste unbedingt und sofort zu diesem alten Turm.

Obwohl Mella ihre Muskelkraft mit einem Zauber verstärkte, schaffte sie es nur mit Mühe, den Baumstamm, der den Eingang zum Turm versperrten, soweit zur Seite zu rollen, dass sie an die Tür herankam. Die Tür selbst war nicht abgeschlossen und, obwohl sehr verrostet, ließ sie sich leicht öffnen und quietschte nur ein wenig.
Drinnen war es dunkel, nur hoch oben leuchtete ein weißer Fleck. Sie ging einmal rund rum und trat dann prüfend auf die erste Treppenstufe. Das Holz knirschte, das Geländer wackelte. Sie wirkte sicherheitshalber einen Haltbarkeitszauberspruch, denn dass sie da hinaufmusste, war sonnenklar. Da oben würde sie ein Geheimnis entdecken oder ein Wunder oder auch etwas Schreckliches. Nicht umsonst war das Betreten des Turmes allerstrengstens verboten.
Stufe um Stufe stieg sie hinauf und wurde dabei immer schneller, grade so, als hätten es ihre Beine eiliger hatten als sie selbst. Der Wind pfiff durch die offenen Fensterschlitze, das morsche Holz knirschte und ihr Atem ging schnell. Sie blieb mit ihrem Rock an einem Nagel hängen und es gab einen hässlichen Riss, als sie daran kräftig zog, um sich zu befreien, aber ihre Füße hatten einfach nicht stehenbleiben wollen. Nicht so schlimm, dachte sie, das kann ich schnell wieder zusammenhexen. Das war ein Zauber, den sie schnell gelernt hatte, weil sie oft Grund zum Üben gehabt hatte.

Ziemlich außer Puste trat sie am Ende der Treppe durch den niedrigen Türbogen und da endlich blieben ihre Füße stehen. Die wilden Raben! Die hatte sie ganz vergessen! Hochgeschreckt durch die unerwartete Besucherin flatterten sie laut krächzend um ihren Kopf und schlugen wild mit den Flügeln. Mella murmelte eine Besänftigung für die Raben, die sich daraufhin allesamt und friedlich auf dem Dach niederließen. Es waren so viele, dass die Dachziegel nicht mehr zu sehen waren. Sie sah die Raben eine Weile an und fragte sich, wie das wohl zuging, denn sie hatte nie zuvor so viele Raben zusammensitzen sehen.
Dann wandte sie den Blick ab und trat an den Rand des Balkons, der rund um den Turm herumlief. Aus einer ihrer vielen Taschen kramte sie eine Handvoll Gummispinnen hervor und schob sie alle auf einmal in den Mund und sah hinab. Es kribbelte mächtig in ihrem Bauch, von den Gummispinnen und von der Höhe. „Das ist so toll!“, schrie sie übermütig, „das ist ein superprima Doppelkribbel!“ Dabei hüpfte und tanzte sie ausgelassen einmal um den ganzen Turm herum, alle paar Schritte innehaltend, um den Kopf über die Brüstung zu stecken.

Nach einer kompletten Runde um den Turm entdeckte sie direkt neben dem Türbogen eine schmale Stiege, die außen am Turm entlang weiter nach oben führte. Seltsam, dachte sie, die habe ich wohl übersehen. Der Aufstieg auf diesem Treppchen kam einem Abenteuer schon recht nahe, denn es hatte als Geländer nur ein Seil, das recht lose an der Wand angebracht war. Dazu blies ein heftiger Wind aus allen Richtungen und die Raben, die in diesem Wind herumflogen, kamen ihr bedrohlich nahe. Nach einer halben Runde um den Turm und noch um einiges höher als zuvor, gelangte sie an eine kleine Tür, die sich zum Glück leicht öffnen ließ.
Einige schmale Fensterschlitze ließen ein wenig Licht herein, ausreichend hell um zu sehen, dass es hier nichts aufregendes zu sehen gab: Ein wurmstichiger Tisch samt passendem Stuhl und einen Kamin, aber kein Feuerholz. In einem Schrank, dessen Türen offenstanden und schräg in den Angeln hingen, waren die Regalbretter dick von Staub bedeckt. Und deswegen war der Turm verboten? Das glaubte Mella ganz und gar nicht. Irgendetwas war hier verborgen! Ganz bestimmt! Nicht mit mir, dachte sie, als ein neuer Rundgang nichts Neues ergab. Und so murmelte sie alle Sichtbarkeitsmachungssprüche, die ihr einfielen und siehe da! In einem Eck, verdeckt durch einen Balken, zugehängt mit fingerdick eingestaubten Spinnweben, blitzte und blinkte es. Mit spitzen Fingern und die Luft anhaltend, griff sie durch die Spinnweben nach dem Geblinker. Sie bekam etwas zu fassen und zog es behutsam zu sich heran. „Ein Wunder!“, rief sie entzückt. „Ein Wunder! Ein Wunder!“ Mehrmals hüpfte sie auf und ab, das blinkende Kästchen fest an die Brust gedrückt.
Dann erst nahm sie sich Zeit, ihren Fund genauer zu betrachten. Es war wie im Märchen, denn in der Hand hielt sie ein mit Gold und Edelsteinen besetztes Kästchen. Mella klappte es behutsam auf. Und gleich wieder zu! Dann atmete sie tief durch und öffnete es nochmal. Doch! Sie hatte richtig gesehen! Erdbeereis mit Sahne und Zitronenwaffeln in einem goldenen Becher! Schneller als sie 'Vorsicht!' denken konnte, hatte sie den ersten Löffel schon im Mund. Wie leichtsinnig! Es hätte vergiftet sein können! Aber es war nicht vergiftet und schmeckte köstlich, genau wie für Mella gemacht. „Oh Wunder!“, rief sie zwischen zwei Löffeln. „Oh Wunder!“

Gefühlt waren es drei oder vier Becher, die sie gegessen hatte, so genau konnte Mella es gar nicht sagen, denn der Eisbecher war nicht leer geworden. Erst jetzt, als sie den Löffel pappsatt beiseite legte, war er plötzlich leer und füllte sich stattdessen mit klarem Wasser. „Oh!“, rief Mella ganz verzückt. „Noch ein Wunder! Genau das wollte ich jetzt haben!“ Und sie trank, bis ihr Durst gelöscht war. Den Löffel spülte sie im restlichen Wasser ab, trocknete beides mit dem im Kästchen dafür bereitliegenden Tuch ab, räumte alles wieder ein und stellte das Käschen wieder dahin zurück, wo sie es gefunden hatte.
Auch das, dachte Mella bei sich und zog vor lauter Nachdenken die Stirn kraus, ist nichts, das man verbieten musste, außer, dachte sie weiter und lachte, bei ihrer Freundin Mirim vielleicht, die erst aufhören würde, wenn sie platzte.

Diesen Gedanken hatte sie kaum zu Ende gedacht, als mit einem lauten Schlag die offenen Schranktüren zuknallten. Die Luft war erfüllt von Staub, Mella konnte nichts mehr sehen, schrie laut vor Schreck und machte sie einen Rückwärtssalto, der sie fast zur Tür hinausbefördert hätte. Mit weichen Knien ging sie langsam auf den Schrank zu. Was war das? Gespenster? Ordnungshexen? Mäuse?

Der Besen

Bange Sekunden vergingen. Nichts passierte. Mellas Gesichtsfarbe wurde wieder rosiger und da sah sie es. Hinter der Schranktür, rechts neben dem Schrank, lehnte an der Wand ein Besen, genau passend für ihre Größe. Ein Besen! Sie hatte noch nie auf einem Besen gesessen! Sie hatte noch keine einzige Flugstunde gehabt!
Wind sauste durch ihr Haar, der Besen sauste auf sie zu. Aber, wollte sie rufen, ich kann doch gar nicht fliegen. Aber sie sagte es nicht, sondern packte den Besen mit einer Hand, klemmte ihn zwischen die Beine, grad so, wie Hexen das seit jeher tun. Der Wind sauste und wirbelte weiter, der Besen hüpfte wie ein junges Fohlen. Er wollte losfliegen, das war klar.
„Ich kann doch nicht fliegen“, schrie Mella, denn sie bekam es nun doch mit der Angst zu tun. Sofort wurde der Besen ruhiger und drehte sanfte kleine Runden im Turmzimmer. „Heia!“, rief Mella und lachte laut. „Ich fliege auf einem Besen! Ich kann fliegen! Es ist so einfach!“
Als der Besen wieder zu hoppeln anfing, beugte sich weit nach vorne und schoss auf dem Besen durch die Tür hinaus. Das war genau das Abenteuer, auf das sie gehofft hatte.

Übermütig lachend winkte Mella den schwarzen Rabenvögeln, die aufstoben und eine Runde hinter ihr herflogen. Sanft schaukelnd flog sie einmal rund um den Turm, dann über das Dorf, über Wiesen und Felder, über den Wald und immer höher und höher. Sie flog über die Gipfel des Marmorgebirges und dann ziemlich lange nur geradeaus. Die Sonne brannte ihr auf den Kopf und so kramte sie Hut und Sonnenbrille aus einer ihrer Taschen.

Die Insel

Nach einer weiteren Weile dann, sie hatte sich an den Wolkenbergen längst sattgesehen, erreichten sie den Rand der Wolkendecke. Darunter war Wasser, nichts als Wasser, soweit das Auge reichte bis ganz nach hinten zum Horizont. So viel Wasser hatte sie noch nie zuvor gesehen. Und mittendrin ein kleines Schiff. Sie ließ den Besen in einen gemächlichen Sinkflug gehen, hinab zum Schiffchen. Auf halber Höhe erkannte sie blutrote Segel und eine Totenkopf-Flagge, die oben am Großmast flatterte. Da feuerte eine der Kanonen eine Kugel ab, die aber weit unter Mella abstürzte und zurückfiel ins Meer. Dennoch winkte Mella ihnen freundlich zu, vielleicht würden die Piraten es ja irgendwann lernen, ebenfalls freundlich zu sein.
Eine ganze Weile noch ging der Flug über das endlose Wasser, dann kam eine Insel in Sicht. Da stoppte der Besen kurz, neigte sich nach vorne, setzte zum Sturzflug an und weigerte sich, auf Mella zu hören. So blieb ihr nichts weiter zu tun, als sich festzuklammern und das Beste zu hoffen.

Der Fahrtwind brauste Mella mächtig um die Ohren, sie schrie und kniff die Augen fest zu. Von einem Augenblick auf den anderen bremste der Besen ab, Mella machte einen Doppelsalto und landete unsanft auf ihrem Hinterteil. Vorsichtig klappte sie ihre Augen wieder auf.
Sie saß im Sand und der war weiß und fein und gleich daneben rauschte das Meer. Hinter ihr standen Palmen, eine neben der anderen. Sie rieb sich die Augen. Das war bestimmt ein Traum! Bestimmt bin ich vom Turm gefallen und ohnmächtig! Oder ich bin von der Schaukel gefallen und habe einen Sonnenstich! Egal, dachte sie, egal, zog sich aus und rannte ins Wasser. Das, dachte sie, war mehr als gerecht, und wenn es auch nur ein Traum ist, so ist das piepschnurzegal, denn das Wasser ist einfach wunderbar.
Es war nicht zu warm, nicht zu kalt, nicht zu tief, nicht zu flach und voll von farbenprächtigen Fischen. Flink flitzten sie umher und kitzelten Mella an den Zehen. Als sogar noch zwei Delphine herbeigeschwommen kamen, jauchzte Mella vor Vergnügen. Als sie müde wurde, schwamm sie zurück, zog sich wieder an und lehnte sich an eine Palme, um ein wenig auszuruhen.
Mella erwachte von einem lauten "bumm". Direkt neben ihrem Kopf war eine Kokosnuss in den Sand geknallt. Ein Äffchen hatte sie fallen lassen und hüpfte nun aufgeregt kreischend davon. Mella rannte laut schimpfend hinter ihm her. Das Äffchen sprang behände von Palme zu Palme und verschwand schließlich im Urwald. Da ging es nicht weiter, nicht für sie. Gefährlich aussehende Stachelgewächse und unheimliche Geräusche schreckten sie ab. Mella war zwar abenteuerlustig, aber nicht so, dass sie irgendwo hingehen wollte, wo sie offensichtlich nicht willkommen war. So blieb sie am Strand und sammelte Muscheln. Es gab sehr viele und eine war schöner als die andere und bald schon waren ihre Taschen prall gefüllt. Da fiel ihr der Besen ein und sie wollte schon zurückkehren, nicht dass der Besen ohne sie abflöge. Dreizehn Schritte noch, sagte sie streng zu sich selbst, und dann wird umgekehrt.

Das Nest

Sie brauchte gerade einmal acht Schritte, da gelangte sie an eine Bodensenke, die ausgefüllt war mit schwarzen Steinen und umrahmt von einer Reihe rot blühender Stechginsterbüsche.
„Oh wie schön!“, rief sie entzückt, „ganz viele schwarze Riesenperlen, glatt und rund und mit so samtigem Glanz“. Davon wollte sie auf jeden Fall welche mitnehmen, ganz bestimmt. Doch was lag da noch? Zerfledderte Regenschirme? Zerbrochene Rieseneierschalen? Vorsichtig zwängte sie sich durch das Gebüsch, um sich die Sache genauer anzusehen. Ja, das waren eindeutig Eierschalen, größer noch als Regenschirme. Rieseneierschalen von Riesensteinadlern, vermutlich ausländisch. Besorgt suchte sie den Himmel ab. Wenn schon die Eier so groß waren, wie groß mochten dann erst die ausgewachsenen Vögel sein? Sie entdeckte jedoch nichts, was sie beunruhigte. Alles was in der Nähe herumflog waren Kolibris und Marienkäfer, alle sehr klein und sehr manierlich.

DracheGenau in diesem Augenblick hörte sie ein klapperndes Pochen. Nach einigem Suchen zwischen den Schalen entdeckte sie ein noch vollständiges Ei. Es war ziemlich klein, winzig geradezu im Vergleich zu den übrigen Eierschalen, insgesamt kaum größer als ein Gänseei. War das überhaupt ein Ei? Oder der Kopf eines Steingnoms? Sie kniete in gebührendem Abstand nieder – sicher ist sicher – und genau in diesem Moment knirschte es. Das Ei – es war eindeutig ein Ei – bekam Risse, die Schale sprang ab und purzelte in Einzelteilen zu Boden. Mella hielt den Atem an, so gespannt war sie, denn eines war gewiss: aus diesem Ei schlüpfte ein Drache. Niedlich und klein für den Moment, nicht unähnlich einem Eichhörnchen, was Größe und Form anging. Allerdings hatte er kein Fell, sondern eine Mischung aus Schuppen und Federn. Und er war so bunt, als wäre er durch alle Farbtöpfe einer Malerwerkstatt spaziert. An den Enden der spitzen Ohren wuchsen Federbüschel und um den Hals herum ein Kragen. Der kleine Drache schüttelte sich heftig, um auch die restliche Schale abzubekommen, doch ein großes Stück auf dem Kopf blieb hartnäckig kleben. Seine Ärmchen mit den fingerähnlichen Klauen waren einfach zu kurz, so sehr er auch damit herumfuchtelte, sie reichten nicht bis über die Ohren.
Mella krabbelte näher und löste behutsam die restliche Eierschale vom Gesicht des kleinen Drachen und tupfte ihn mit einem Taschentuch trocken. Ein schneller Blick zum Himmel überzeugte sie, dass immer noch nichts im Anflug war. Dann streckte sie ihre Hand aus und lockte das Drachenbaby. Doch das machte keine Anstalten sich zu bewegen, sondern blieb mit geschlossenen Augen auf seinen Hinterpfoten sitzen und fiepte jämmerlich. Der Drache konnte die Augen nicht öffnen! Oh je, dachte sie, hätte ich in Drachenkunde nur besser aufgepasst! Drachenkunde, so hatte sie immer geglaubt, war das sinnloseste aller Unterrichtsfächer, denn Drachen galten schon seit Jahrtausenden als ausgestorben. Und nun das. ‚Man weiß nie, wann man Drachen trifft!‘ hatte die Lehrerin immer ermahnt, wenn jemand im Unterricht nicht aufpassen wollte. Und nun war es tatsächlich geschehen: da war der Drache und sie hatte keine Ahnung, natürlich nicht. Guter Rat war jetzt teuer, doch Mella wusste sich zu helfen. Sie sagte einen Erinnerungszauberspruch (in Prüfungen war dies ausdrücklich verboten, selbstverständlich) und fiel ihr ein, was zu tun war. Schnell rannte sie zum Wasser, tauchte ihr Taschentuch hinein uns legte das nasse Tuch sanft über die Augenlider des kleinen Drachen. Sie zählte auf dreizehn, nahm es wieder ab und siehe da: die Augen klappten auf, der kleine Drache blinzelte ein paar Mal und dann sah er sie an. Es waren die schönsten Augen, die Mella jemals gesehen hatten: funkelnd wie Rubine im Feuerschein mit einem goldenen Rand um die grüne Pupille. Der kleine Drache, als wüsste er, wie schön er war, verzog seinen kleinen Mund zu einem verschmitzten Grinsen. Dabei zeigte er spitze Zähne, die ebenso bunt waren wie sein schuppiges Federkleid. Das war eindeutig ein ganz fröhlicher Geselle. Er machte ein paar tapsige Schritte, faltete angestrengt seine Flügel auseinander und wedelte ein paar Mal damit, bevor er einen kleinen Sprung in die Höhe machte und torkelnd eine Runde ums Nest flog. Dann ließ er sich auf der ausgestreckten Hand von Mella nieder und sah sie mit seinen großen Augen erwartungsvoll an. Sie tat jedoch nichts weiter, als ihn verzückt anzustarren. Also klappte er seinen Mund mehrmals auf und zu, spitzte das Mäulchen und sagte laut und deutlich: "Ich habe Hunger!"

"Was?", rief sie verblüfft, "du kannst sprechen?" Mella ließ vor lauter Überraschung den Kleinen fallen, der jedoch in letzter Minute seine Flügel ausbreitete und einigermaßen elegant auf dem Boden landete.
"Natürlich kann ich sprechen!", verkündete der kleine Drache hoheitsvoll. Es schien, als sei er beleidigt. "Was glaubst du denn? Du kannst doch auch sprechen! Ich kann alles, was meine Eltern können!"
Mella fasste sich, setzte sich auf den Boden und kraulte ihn unterm Kinn. "Natürlich bekommst du zu essen! Was willst du denn? Was essen Drachen denn so? Können denn alle Drachen sprechen?"
"Also“, setzte der kleine Drache an, "ich kann sprechen, weil Drachen alles können, was sie wollen, meistens jedenfalls. Ob andere Drachen sprechen wollen, weiß ich nicht, ich habe noch nie einen anderen Drachen gesehen. Ich bin der einzige Drache, den ich kenne. Und ich esse alles, was man essen kann, wirklich alles." Er schnappte wie zum Scherz nach Mellas Finger, die ihre Hand schnell hinter ihrem Rücken versteckte. "Ich habe wirklich großen Hunger", betonte der Kleine nochmals und überdeutlich, "sehr, sehr großen Hunger. Ich muss essen, viel essen, damit ich groß und stark werde!"
Damit war alles klar! Mella musste den kleinen Drachen schleunigst füttern, damit er nicht auf dumme Gedanken käme. Hektisch fing sie an, in ihren Taschen zu kramen und schüttete alles, was sie fand, auf ein Taschentuch, das sie vor dem Drachen ausgebreitet hatte. Es kam ein recht ansehnliches Häufchen zusammen, doch mit drei Hapsen war alles verschlungen. Dann rülpste er kräftig und stieß dabei eine kleine Flamme aus. Au backe, dachte Mella, ich habe das Feuer vergessen! Wenn nur das Feuer im Herd nicht ausgegangen ist! Mit einem Satz sprang sie auf.
"Hey du, nicht weglaufen", rief der Drache, "nimm mich mit, du musst mich mitnehmen, du bist meine Mutter, du musst mich tragen, ich bin zum Fliegen noch zu schwach!"
"Ich bin doch nicht deine Mutter, du Drache du", sagte Mella "aber ich nehm‘ dich trotzdem mit." Und so trug sie ihn auf der Schulter den ganzen Weg zurück zum Besen. Sie glaubte ihm kein Wort, von wegen und so und nicht fliegen können. Drachen können immer alles, was sie wollen! Hatte der Kleine es nichts selbst gesagt? Aber was nützte es? Er flog einfach nicht!

Nach Hause

Als sie beim Besen angelangt war, hatte der kleine Drachen schon wieder einen Mordshunger, grade so, als hätte er Mella getragen und nicht umgekehrt. Zum Glück gab er sich mit den Kokosnüssen zufrieden, die Mella von den Palmen herab und gleich auch aufhexte. Zufrieden rieb er sein dickes Kugelbäuchlein und rülpste mehrmals laut, wobei jedesmal ein kleiner Feuerstoß aus dem Mund schoss. Und dann schlief er von einer Sekunde auf die andere ein. Was war das denn für ein Benehmen? Noch nicht einmal bedankt hatte er sich! Der Besen, der still die Drachenspeisung beobachtet hatte, begann nun heftig hin- und herzuhoppeln. Ein sicheres Zeichen dafür, dass er losfliegen wollte. Mella musste schleunigst aufsteigen, wenn sie den Rückflug nicht verpassen wollte. Doch was sollte aus dem kleinen Drachen werden? Würde er verhungern, wenn sie nicht mehr da war?

"Warte mal kurz", sagte er grade so, als hätte er ihre Gedanken gehört und wäre davon erwacht. „Ich muss mich erst noch im Sand wälzen“, erklärte er, „das ist wichtig für meine Gesundheit!“
Der Besen hoppelte immer heftiger und Mella musste beide Hände nehmen, um ihn festzuhalten. Endlich hatte sich der Drache genug herumgewälzt, stand auf und schüttelte sich den Sand aus seinem schuppigen Federkleid. Oh Wunder, dachte Mella, ein Golddrache und er glänzt wie die Sonne selbst. Lediglich die äußeren Enden der Schuppen und Federn wiesen noch Farbtupfer auf. Alles in allem ein richtiger Drache, nur eben ein ganz kleiner.
"Ich komme natürlich mit!", verkündete er mit einem glucksenden Lachen in der Stimme. "Ich komme mit zu dir nach Hause. Das ist doch wohl klar! Du bist die Einzige, die ich kenne."
"Du kannst nicht mitkommen!", widersprach Mella. "Das geht nicht! Auf gar keinen Fall! Wo willst du denn wohnen? Du wirst bald riesengroß sein und dann ist kein Platz mehr für dich in unserem Land. Die Leute werden sich vor dir fürchten und dann werden sie dich fortjagen oder umbringen. Du kannst nicht mit! Und überhaupt! Was werden deine Eltern sagen, wenn sie zurückkommen und du nicht mehr da bist?"
"Du bist meine Mutter, mehr Eltern habe ich nicht", verkündete der kleine Drache entschieden, so als hätte er nie etwas anderes getan, als anderen Befehle zu erteilen. "Du hast zugesehen, wie ich aus dem Ei geschlüpft bin. Also bist du meine Mutter! Und überhaupt! Ich will nicht hierbleiben! Ich will mit! Und ...", er grinste sein breites Drachengrinsen, "... das mit der Größe ist kein Problem. Drachen können alles, was sie wollen, meistens jedenfalls. Ein bisschen wachsen muss ich allerdings noch, aber ich verspreche dir, dass ich nicht viel größer werde als eine Weihnachtsgans, ganz bestimmt!"
"Was weißt du denn über Weihnachtsgänse?", fragte Mella baff.
„Nun, wie ich schon sagte“, erwiderte der kleine Drache würdevoll, „sind Drachen äußerst klug und wissen alles, was sie wissen müssen. So ist es, so war es und so wird es immer sein! Nimmst du mich nun mit?"
"Ja! Ja! Ja! Wenn das so ist … Gegen einen weihnachtsgansgroßen Drachen hat sicher niemand etwas einzuwenden, ganz bestimmt nicht! Aber wir müssen jetzt aufsteigen, bevor mir der Besen aus den Fingern flutscht“. Als der kleine Drache aber erst noch mehr Kokosnüsse fressen wollte, wurde sie ungeduldig. "Wenn du mitwillst, kleiner Drache (sie hörte sich an wie ihre Mutter!) musst du jetzt sofort aufsitzen!" Der Drache, der wohl merkte, dass sie es ernst meinte, nickte gehorsam und flatterte wieder auf ihre Schulter. "Auf gar keinen Fall!" drohte Mella. "Nicht auf meiner Schulter!"
"Ach bitte, bitte, bitte", bettelte der Kleine. "Wenigstens die halbe Strecke? Von hier oben kann ich viel besser sehen. Ich bin doch noch so klein!"
"Nichts da, nicht auf meine Schulter", sagte Mella streng. "Setz dich vor mich auf den Besen, halt' dich fest und halt' die Klappe." Und schon schoss der Besen senkrecht nach oben. Den Drachen interessierte dies wenig. Er hatte den Kopf unter einen Flügel gesteckt und verschlief die ganze Reise. Selbst als sie im Turmzimmer landeten, wachte er nicht auf.

Behutsam trug Mella den immer noch schlafenden Drachen in die Küche. Das Feuer im Herd war ausgegangen, natürlich, obwohl sie weniger lang fortgewesen war, als sie befürchtet hatte, denn die anderen waren noch nicht zurückgekehrt. Zum Glück hatte sie jetzt einen Drachen! Schnell kehrte die die Asche aus und schichtete neues Holz in den Herd. Sodann weckte sie den kleinen Drachen, der sie mit verschlafenen Augen ungnädig ansah. "Los!", sagte sie eindringlich und zeigte auf das Feuerholz. „Bitte einmal anzünden!“ Der kleine Drache mühte sich ein wenig, denn auf Kommando Feuerspucken will gelernt sein, aber schließlich setzte sein kleiner Flammenstrahl das Holz in Brand.
"Siehst du, kleines Hexenmädchen", sagte er, "wie gut, dass du mich mitgenommen hast!"

Ende

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