Die Finsternacht

Es war einmal vor langer Zeit, als ein Junge mitten in der Nacht erwachte. Ein Traum hatte ihn erschreckt und rief nach seiner Mutter, doch sie antwortete nicht; auch sein Vater nicht und nicht die Tanten. Alles blieb still. Er war ganz allein. Nur die Ziegen im Stall meckerten und die Hühner gackerten, weil er sie mit seinen Rufen aufgeschreckt hatte. Er setzte sich auf in seinem Bett und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Alle anderen waren fort, denn heute wurde die Finsternacht gefeiert. Hoch oben auf dem Berg waren sie alle, seine Familie und alle anderen aus dem Dorf, um das große Feuer zu entzünden, um zu tanzen und zu singen. Er allein war zurückgeblieben, denn noch war er zu jung, um die Finsternacht zu feiern.
Jetzt bin ich wach, jetzt mag ich nicht mehr alleine bleiben dachte der Junge widerspenstig, stand auf, zog sich an und steckte seinen Zauberstab ein. Zu jung hin oder her, dachte er verwegen, nun will ich zusehen beim Feuertanz. Die Finsternacht wurde nicht oft gefeiert, nur dann, wenn eine Wintersonnwende auf Neumond fiel, und das war nicht oft. Wer weiß, wann das das nächste Mal der Fall sein würde.

Ein bisschen gruselte es ihn schon, als er in die dunkle Nacht hinaustrat. Kurz überlegte er, ob er nicht doch lieber wieder ins Bett gehen sollte. Doch schnell fasste er Mut, schnappte sich seinen Besen und flog davon. Das kleine Leuchten aus seinem Fenster war schnell verschwunden. Die Sterne am Himmel funkelten schön, aber die Dunkelheit erhellten sie nicht. Da hieß es vorsichtig fliegen, damit er nicht gegen ein Hindernis prallte und abstürzte. Dunkel hin oder her, sprach er sich selbst Mut zu, ich bin schon oft zum Berg geflogen, den Weg kenne ich gut. Erst links am See vorbei, der einigermaßen gut zu erkennen war, weil sich die Sterne darin spiegelten und dann geradeaus, und steil nach oben. So machte er es und dann konnte er auch schon bald das Glühen des Feuers sehen. Er war angekommen.
Hoch über dem Feuer hielt er an, verweilte ein wenig, um sich aufzuwärmen. Dann stieg er noch ein bisschen höher hinauf, denn er wollte auf jeden Fall vermeiden, dass ihn jemand entdeckte. Schön sah das aus, das große Feuer, das seine Funken in den Himmel hinaufschickte, die herumwirbelten, getrieben von Wind und Wärme, wie ein großer Schwarm Glühwürmchen. Von den Menschen sah er wenig mehr als Schatten, die um das Feuer wuselten. Aber den leisen Widerhall der Lieder, den hörte er wohl und er spürte eine wilde Freude in sich. Das Feuer erhellte die Finsternacht und hielt mit seinem Flammenschein die Furien fern, die in Nächten wie diesen aus ihren Höhlen gekrochen kamen. Doch zum Feuer trauten sie sich nicht, niemals!

Da hörte er plötzlich ein Rauschen, grade so, als käme ein großer Vogelschwarm angeflogen. Ein Krächzen ertönte, wie von tausend wilden Vögeln, das rasch näherkam. Er erschrak und schoss steil in die Höhe. Fast schien es, als fürchte sich der Besen mehr als er selbst. Da bremste der Junge hart, warf den Besen herum und starrte angestrengt nach unten. Die Dunkelheit hatte sich verdichtet. Es war, hätte sich ein schwarzes Tuch über den Feuerschein gelegt, das wogte und brauste und zwischendrin blitzten giftgrüne Punkte hervor. Und dann begriff er, was da unter ihm wogte und ihm wurde ganz schlecht. Ein Schwarm Baltasare flog über dem Berg und es waren so viele, dass sie mit ihren Schwingen den Feuerschein verdeckten. Er schrie vor Angst, denn die Baltasare waren schlimmer noch als die Furien. Da sackte sein Besen in einem Luftloch ein wenig ab. Der Schreck darüber rüttelte ihn auf. Er musste etwas tun, irgendetwas, denn nur von hier oben waren die Baltasare zu sehen. Die anderen, die am Feuer tanzten und sangen ahnten nichts von dem Unheil, das sich über ihren Köpfen zusammenbraute. Er holte tief Luft und schnell, bevor seine Angst ihn übermannte, stürzte er sich in einer spiralförmigen Flugbahn mitten in die grässliche Vogelschar hinein. Er wirbelte seinen Zauberstab herum und ließ ihn Sonnenstaub versprühen. Sein Besen hielt die Spur, stieg auf und sackte ab in schnellem Wechsel und so schafften sie es, außer Reichweite der gefährlichen Schnäbel zu bleiben. Es zischte laut und roch nach verbrannten Federn, wann immer die sonnengelben Funken, einen der Vögel berührte und ihn dadurch zur Flucht trieb. Mit jedem Vogel, der verschwand, wurde die unheilige Dunkelheit ein wenig lichter. Doch schließlich entdeckte die Vogelschar, was sich in ihrer Mitte wie ein Irrwisch bewegte und wie ein Wesen richteten die verbliebenen Vögel ihren Blick auf ihn. Ihre Augen leuchteten von innen heraus in falschem Glanz. Wie Steine, dachte er, wie grüne grässliche Steine, und etwas kroch ihm kalt das Rückgrat hinab. Sie waren so nah, dass er ihren fauligen Atem riechen konnte.
„Ich lass mich nicht fressen“, schrie er, „verschwindet von hier, lasst uns in Ruhe, sonst …“
Ja was sonst? hörte er sie in Gedanken antworten und hämisch lachen.
Einen Moment lang war er versucht aufzugeben, doch dann packte er seinen Zauberstab fester und steckte all seine verbliebene Energie hinein. Und das Wunder geschah: er entfachte ein lichtblaues Feuerwerk, groß genug, um die Vögel zu blenden, denn ihre Augen waren nicht geschaffen für die Helligkeit. Die Baltasare verloren die Orientierung, waren sich gegenseitig im Wege, gerieten in Panik und es dauerte nicht lange, bis einer von abstürzte und ins Feuer fiel. Der Junge stieß einen Schrei aus, schoss wie ein Blitz durch den Schwarm und sein Schreien mischte sich mit dem der Vögel, die in wilder Flucht davonflogen, jeder in eine andere Richtung. Fort, nur fort, schien ihr wütendes Kreischen zu bedeuten.

Jetzt erst bemerkte der Junge, dass er Hilfe gehabt hatte, und er sah, dass im weiteren Umkreis noch andere schwebten, die Zauberstäbe zum Gruß erhoben. Da verstand er plötzlich, woher die Energie gekommen war, die er gebraucht hatte, um das Feuerwerk zu entfesseln. Er lachte und winkte und dann sanken alle gemeinsam zu Boden. Beifall brandete auf und alle schrien wild durcheinander, lachten und weinten gleichzeitig. Seine Mutter küsste ihn erst, dann klatschte sie ihm zwei kräftige Ohrfeigen. Gleich darauf drückte sie ihn so fest an sich, als wolle sie ihn nie wieder loslassen.

Die Meisterin der Finsternacht trat ans Feuer und hob gebieterisch die Hand. Alle wurden still, selbst das Zirpen der Grillen verstummte und dann stimmten alle zusammen das Lied der Finsternis an. Er durfte zum ersten Mal mitsingen und da wusste er, dass er von nun an bei jeder Finsternacht dabei sein durfte. Doch damit nicht genug. Als das Lied zu Ende gesungen war, warf die Meisterin einen mächtigen Zauber über ihn und fortan war es ihm möglich, ohne Besen zu fliegen wie eine Fee. Sie überreichte ihm ein magisches Messer, das jedem Schwert gewachsen war, und einen grünen Anzug mitsamt passender Kappe. Das alles bekam er zum Dank für die Vertreibung der Baltasare und weil die Meisterin der Finsternacht wusste, dass er all diese Dinge in Zukunft noch gut würde brauchen können. Schließlich gab sie ihm noch einen Namen und von Stund an hieß der Junge Peter Pan.

Ende

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