Der alte Turm

Vor langer Zeit, in einem fernen Königreich, lebten die Prinzessin Pauline und ihr Zwillingsbruder Paulinus. Das Königreich war so klein, dass es noch nicht einmal einen Namen hatte und nur Wenige den Weg dorthin kannten.
Wie bei Zwillingen nicht ungewöhnlich, sahen sie sich zum Verwechseln ähnlich. Beide hatten sie das dunkelbraune Haar ihrer Mutter geerbt und glücklicherweise auch deren Fingernägel, die so gut wie nie schwarze Ränder bekamen und sehr stabil waren. Mehr als nur einmal tauschten sie zum Scherz ihre Kleider und hielten damit den gesamten Hofstaat zum Narren. Nur ihre Mutter ließ sich davon nicht täuschen.
Ihre Kleidung war einer der wenigen Streitpunkte, die sie mit ihren Eltern hatten. Diese beharrten unsinnigerweise darauf, dass sie immer, aber auch wirklich immer, standesgemäß königliche Kleider trugen. Pauline trug also lange Rüschenkleider mit Schleifchen und auf dem Kopf ein Krönchen. Paulinus trug weiße Hosen und ein hellblaues Wams mit Umhang und einen schmalen Goldreif um die Stirn. Es war eine rechte Last, denn die feine Seide, aus denen ihre Kleidung gefertigt war, riss schnell entzwei, vor allem wenn sie, ganz unstandesgemäß, auf Bäumen herumkletterten oder sich auf Dachböden und Kellern herumtrieben. Auf den schwarzglänzenden Lackschuhen sah man sofort das kleinste Stäubchen und auf den weißen Strümpfen und Handschuhen jeden noch so kleinen Dreckspritzer. Es war wirklich zum Verzweifeln und sie beneideten die anderen Kinder glühend um deren Sachen, die robust und einfach waren.
Prinzessin Pauline und Prinz Paulinus wohnten in einem allerliebsten Schloss aus weißem Marmor, dessen Dächer mit rotglänzenden Ziegeln gedeckt waren. Es hatte, wie es sich für ein richtiges Schloss gehörte, zahlreiche Türmchen, Erker, Mauern und Innenhöfe. Es war ein helles, freundliches Schloss, in dem es sich gut leben ließ. Es gab dort aber auch düstere Geheimgänge, in denen man sich wunderbar gruseln konnte, denn dort hausten Spinnen, Fledermäuse und jede Menge lichtscheuer Krabbeltiere. Ziemlich in der Mitte des Schlosses stand eine große Platane auf einer Wiese. Das Schloss war von einem großen Park umgeben, mit Goldfischteichen und Pavillons. Einst wurden Park und Schloss von vier großen Türmen bewacht. Doch drei davon waren nur noch Ruinen, nur einer, derjenige der dem Schloss am nächsten stand, war noch in gutem Zustand.
Das Schloss thronte auf einem Berghügel inmitten des Reiches. Auf der einen Seite schmiegte sich die Hauptstadt an den Hügel, gegenüber befand sich der See mit Hafen, wo die Fischerboote lagen und das königliche Segelschiff. Etwas weiter weg, am Ufer eines glasklaren Flusses, gab es noch ein kleines Dörfchen. Der Fluss kam direkt aus dem hohen Gebirge, das das kleine Königreich wie eine hohe Mauer umschloss. Zwischen dem Gebirge und dem Schloss lagen dichte Wälder und fruchtbare Felder. Die Leute, die in diesem Land lebten, waren fleißig und fröhlich und feierten viele Feste. Alle hatten genug zu essen und zu trinken und ein Dach über dem Kopf. Es war ein Land, in dem sogar das Wetter so war, wie es sein sollte. Die Winter waren kalt und schneereich und man konnte auf dem Schlossberg Schlitten fahren und Schlittschuh laufen auf dem See. Die Sommer waren heiß und trocken, Frühling und Herbst waren mild und regenreich.

An einem kalten Wintermorgen standen die königlichen Zwillinge, beide noch im Nachthemd, am Fenster und drückten sich die Nasen platt. Über Nacht hatte es geschneit. Die Sonne strahlte von einem wolkenlosen Himmel und brachte die weiße Pracht zum Glitzern. Erst als ihre Kinderfrau, die alte Sophie, sie deswegen ausschimpfte, bemerkten sie, wie kalt ihnen geworden war. Schnell zogen sie sich an und rannten ins Frühstückszimmer. Doch zappelten sie ungeduldig am Tisch herum und brachten kaum einen Bissen hinunter. Sie konnten es kaum erwarten, endlich nach draußen zu kommen. Schließlich war es soweit. Blitzschnell zogen sie pelzgefütterte Stiefel und Mäntel an und rannten in den Schlosspark.
Dort angekommen ließen sie sich lauthals jauchzend fallen und drückten mit Armen und Beinen einige Engel in den Schnee. Später bauten sie einen großen Schneemann, für dessen Nase sie aus der königlichen Speisekammer eine große Karotte stibitzten und für dessen Kopf sie dem königlichen Kammerdiener einen alten Zylinderhut abschwatzten. Pauline schnitzte ihm geschickt mit ihrem Taschenmesser aus einem Ast eine Pfeife und Paulinus fand zwei schwarze Kieselsteine, die wunderschöne Augen abgaben. Dann gab es nichts mehr zu tun. Weil zu einem richtigen Wintervergnügen auch eine Schneeballschlacht gehörte, bewarfen sie sich eine Zeitlang mit Schneebällen, was ihnen aber ziemlich schnell ziemlich langweilig wurde. Nur zu zweit machte es nicht den richtigen Spaß. Also gingen sie hinüber zu den Pferdeställen, um Alfons zu holen. Er war der königliche Stallbursche und nie abgeneigt, mit Paulinus und Pauline etwas zu unternehmen.
"Eine kurze Pause und eine Schneeballschlacht hat noch nie jemandem geschadet und der Mist läuft auch nicht weg! Ich kann aber nicht lange mitmachen!", sagte Alfons mit großer Begeisterung und stellte die Mistgabel in die Ecke. Doch er kam nicht weit, denn schon erschien der königliche Stallmeister. Er hatte die Mistgabel in der Hand und fuchtelte damit drohend in der Luft herum. Pauline und Paulinus ergriffen lachend die Flucht und Alfons schlich mit verdrießlichem Gesicht wieder in den Stall zurück. Ach, wie gerne wäre er mit den beiden in den Park gegangen!
Paulinus und Pauline rannten, immer noch lachend, ins Schloss zurück. Dort gab es sicher den Einen oder Anderen, der Lust auf eine Schneeballschlacht hatte. Doch es war wie verhext. Die anderen Kinder hatten alle irgendwelche Arbeiten zu erledigen und durften nicht fort. Die Erwachsenen waren allesamt beschäftigt mit wichtigen Dingen, mit denen sie, wie überall auf der Welt, die Zeit vertrödelten. Und wie überall auf der Welt vertrösteten sie die beiden Kinder auf später. Selbst Sophie, die sonst immer für die beiden da war und jeden Spaß mitmachte, hatte sich mit dem Nähkästchen in der Wäschekammer eingeschlossen.
Es dauerte nicht lange, und die beiden Geschwister langweilten sich fürchterlich. Ausgerechnet an diesem wunderschönen Vormittag waren sie anscheinend die Einzigen, die nichts zu tun hatten.
Normalerweise hätten auch sie zu tun gehabt, hätten ihren Eltern beim Regieren geholfen. Dies war zwar oftmals auch eine langweilige Angelegenheit, aber sie hätten viel darum gegeben, jetzt neben ihren Eltern sitzen zu können. Doch der König und die Königin waren zur Jagd ausgeritten.

Weil ihnen nichts Besseres einfiel, setzten sie sich mit einem Würfelspiel ans Feuer. Es dauerte jedoch nicht lange, bis sie sich in die Haare gerieten und fürchterlich zankten. Doch selbst dieser Streit erlöste sie nicht von ihrer Langeweile. Deshalb versöhnten sie sich schnell wieder. Endlich rief der Küchengong zum Mittagessen.
Nach dem Essen versuchten sie wieder, jemanden zu finden, der mit ihnen spielte. Doch die alte Sophie duldete dies nicht: "Los, ihr beiden, zieht euch an und geht raus!“ befahl sie energisch. „Hier drinnen steht ihr nur im Weg rum und haltet die anderen vom Arbeiten ab. Los, los, raus mit euch!"
Schleunigst rannten sie davon, denn sie wollten keinen Ärger mit Sophie. Im menschenleeren Schlosshof traten sie unglücklich von einem Fuß auf den anderen. Sie hätten so gerne noch eine richtige Schneeballschlacht gemacht, bevor es Dunkel wurde.

Plötzlich ertönte das königliche Jagdhorn. Ein Schuss erschallte und erschreckte die Raben, die friedlich auf dem Dach des alten Wachturms dösten. Die Kinder schauten nach oben sahen eine ganze Weile den Raben zu, wie sie krächzend um den Turm flatterten. Dann hatten beide gleichzeitig denselben Gedanken: Nichts wie hin! Es war, als würde der Turm geradezu nach ihnen Rufen.

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie den Ausgang fanden, der zum Turm führte. Das Schloss war verwinkelt gebaut und mehr als einmal mussten sie umkehren und einen anderen Weg suchen, weil ihnen eine unüberwindlich hohe Mauer oder ein Gebäude ohne Hinterausgang den Weg versperrte. Doch schließlich war es geschafft. Sie verließen das Schloss durch ein wenig benutztes Seitentor, eilten durch den Park und erreichten schließlich ihr Ziel.
Der Turm war in einem ausgesprochen miserablen Zustand. Sie nahmen sich vor, gleich nach ihrer Rückkehr der königlichen Baumeisterin über den jämmerlichen Zustand des Turmes zu erzählen. Er brauchte bestimmt mehr als nur einen neuen Anstrich. Aber es war nicht nötig, sofort umzukehren. Der Turm würde schon nicht ausgerechnet jetzt zusammenbrechen.
Sie erinnerten sich an die Zauberin, vor nicht allzulanger Zeit mehrere Wochen oben im Turm gewohnt hatte. Sie war gekommen, die Mutter von einer schweren Krankheit zu heilen und war danach wieder abgereist.

Mit vereinten Kräften räumten sie drei große Steinbrocken zur Seite, die die Eingangstür blockierten und schoben sie auf. Sie war sehr schwer und quietschte ziemlich, war aber, abgesehen davon, völlig in Ordnung. Drinnen war nichts Aufregendes zu sehen. Es lag ein wenig Schnee auf dem Boden, der durch die schmalen Wehrschlitze hereingeweht worden war. Eine breite Wendeltreppe führte spiralförmig nach oben, wo in der Höhe ein heller Fleck lockte. Hand in Hand betraten sie die erste Stufe der doch recht windschiefen Treppe. Das Holz knirschte bedenklich, das Geländer wackelte beängstigend, doch nichts hätte die beiden jetzt noch davon abhalten können, diese Treppe zu erklimmen.
Sie hatte das Gewicht der Zauberin ausgehalten, sie würde auch ihr Gewicht aushalten. Doch wer weiß, vielleicht hatten es Zauberinnen ja gar nicht nötig, auf altersschwachen Treppen herumzuklettern, vielleicht konnten sie ja fliegen wie die Hexen? Wie auch immer, so dachten sie, umkehren kommt nicht in Frage, zu gespannt waren sie, was es dort oben wohl zu entdecken gäbe.
Trotz aller Vorsicht machte es immer wieder mal "ritsch" und auch immer wieder mal "ratsch", wenn ein rostiger Nagel oder ein Holzspan sich in ihren hübschen Kleidern verfing. Doch es kümmerte sie nicht. Stufe um Stufe kletterten sie empor, wobei sie am Schluss immer schneller gingen. Am Ende stiegen sie durch ein Loch in der Decke und waren angekommen. Etwas außer Puste sahen sie sich neugierig im Turmzimmer um. Viel zu sehen gab es nicht. Obwohl es sechs Fenster gab war es nicht sehr hell, denn die Butzenscheiben ließen nicht viel Licht herein. Aber es hatte gereicht, sie nach oben zu locken.
„Pass auf!“ mahnte Paulinus, „dass du nicht in das Loch fällst, mach schnell die Klappe zu! Dann zieht es auch nicht so!“
„Aber ja doch!“ lachte Pauline. „Und dann machen wir die die Fenster alle auf. Das ist bestimmt eine tolle Aussicht hier von hier oben.“
Die Aussicht war wirklich grandios und so weit, dass sie meinten, bis hinter die Berge schauen zu können.
Im Zimmer selbst gab es zu ihrer Enttäuschung nicht viel zu sehen: einen wackligen Tisch, einen ebensolchen Stuhl, einen Kamin, ein wenig Feuerholz. In einem holzwurmzerfressenen Schrank ohne Türen lag zerbrochenes Geschirr auf dem Boden. „Wie kann das sein, dass inmitten dieses Gerümpels eine mächtige Zauberin gewohnt hat?“ fragte Pauline und rümpfte die Nase. „Vielleicht hat sie sich alles hübsch gezaubert, bevor sie eingezogen ist. Oder es ist jetzt alles verzaubert und in Wirklichkeit befinden wir uns in einem eleganten Salon!“ Pauline lachte und bewegte sich vornehm einmal im Kreis und verneigte sich dabei nach allen Seiten.
„Vermutlich“, überlegte Paulinus, „war alles ordentlich und fein gerichtet, bevor sie eingezogen ist. Und als sie ausgezogen ist, wurden die hübschen Möbel weggeschafft und der alte Plunder wieder hingestellt. Das ist sehr viel wahrscheinlicher! Wir können die Baumeisterin fragen, die wird es wissen.“

Der einzige Gegenstand, der weder verdreckt noch morsch aussah, war eine große Hängematte, die in der Mitte des Zimmers an zwei mächtigen Pfosten aufgehängt war. Sie schaukelte ein wenig hin und her und sah ungemein gemütlich aus. Staunend kamen die Kinder näher. In der Hängematte lagen warme Felldecken und zahlreiche Samtkissen. Genau in der Mitte stand ein Weidenkörbchen aus welchem ein unvergleichlicher Duft aufstieg. Sie bemerkten mit einem Mal, wie hungrig sie waren und Pauline hob sogleich den Korbdeckel hoch. Beide staunten sehr, denn der Korb war gefüllt mit Keksen, die noch ein bisschen warm waren, als kämen sie geradewegs aus dem Backofen.
Pauline nahm zwei Kekse heraus, einen für sich und einen für Paulinus, biss beherzt ein Stück ab und Paulinus tat es ihr nach. Die Kekse schmeckten köstlich und sie aßen einen nach dem anderen, bis sie so richtig satt waren. Eine kleine Flasche befand sich ebenfalls im Körbchen und zwei Becher. Sie entkorkten sie die Flasche und füllten die Becher mit dem heißen Himbeersaft. Das war genau das Richtige bei der Kälte. Sie machten die Fenster bis auf eines wieder zu, zogen Schuhe und Mäntel aus, kuschelten sich in die Matte und sahen zum Fenster hinaus. Alles in allem waren sie zufrieden mit ihrer Entdeckung, auch wenn es nicht halb so aufregend war, wie sie es sich gewünscht hätten. So schaukelten sie hin und her, erzählten sich dies und das, waren heiter und vergnügt und langweilten sich kein bisschen.
Sie beschlossen einvernehmlich, niemandem etwas zu erzählen, auch nicht der königlichen Baumeisterin. Sie waren sich mittlerweile sicher, dass der Turm, egal wie altersschwach er auch aussah, mindestens noch hundert Jahre stehen bleiben würde. Sie wollten keinesfalls riskieren, dass ihnen die Ausflüge auf den alten Turm verboten würden. Es war ihr Geheimnis.

Irgendwann hörten sie aus der Ferne den Küchengong, der zum Nachtmahl läutete. Erschrocken sahen sie sich an. So lange hatten sie gar nicht bleiben wollen. Die Zeit war wie im Flug vergangen und sie kletterten eilig aus der Hängematte. Sie hatten sie ziemlich vollgekrümelt, und da sie wohlerzogende Kinder waren, schüttelten sie Decken und Kissen aus und legten sie ordentlich wieder zusammen. Das Körbchen, stellten sie sorgfältig auf eines der Kissen. Kichernd bedankten sie sich bei der Hängematte für den vergnüglichen Nachmittag und rannten eilig unten.
Mit rotglänzenden Wangen, zerzausten Haaren und zerrissenen Kleidern erreichten sie das Speisezimmer. Sie schafften es jedoch nicht, unbemerkt hineinzuschlüpfen. Die alte Sophie entdeckte sie sofort und fing an zu zetern und zu schimpfen wie ein Heer Rohrspatzen. Zur Strafe bekamen sie kein Abendessen. Sie konnte nicht wissen, dass es für Pauline und Paulinus keine Strafe war. Die beiden waren so satt, dass sie sowieso keinen Bissen hinuntergebracht hätten.

Fortsetzung folgt

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