Der Delphin

Es war einmal ein junger Delphin, der lebte mit seiner Familie in einem schönen Zoo. Er war glücklich dort und zufrieden, denn er kannte es nicht anders. Nachmittags, wenn er zusammen mit den anderen Delphinen im großen Freibecken Kunststücke vorführte dachte er oft, schöner könne es gar nicht sein. Die Menschen nannten ihn Karlchen, weil sich alle einig waren, dass er aussah wie ein Karlchen. Und Karlchen hatte schließlich gelernt, auf diesen Namen zu hören. Die Kinder unter den Zuschauern applaudierten heftig und kreischten laut vor Begeisterung und riefen immer wieder seinen Namen. Je lauter sie schrien und klatschten umso höher sprang er aus dem Wasser. Die übrigen Delphine sprangen auch und erfreuten sich am Applaus, aber längst nicht so, doch es machte sie glücklich, wenn der Jüngste von ihnen glücklich war. Denn die erwachsenen Delphine vermissten durchaus einiges. Eines Tages würden sie ihm davon erzählen, vom Meer und von der großen Freiheit.

„Papa! Mama! Schaut! So Schaut doch!“ schrie Charlotte. Mit beiden Händen zeigte sie zum Wasser und hüpfte aufgeregt auf und ab. Sie saßen in der ersten Reihe und jedes Mal wenn die Delphine ins Wasser zurückplatschten, ging ein Regen feiner Wasserspritzer auf sie hernieder. Der Vater hatte schon mehrmals seine Brille geputzt, so wie andere auch. Die Mutter hatte ein Tuch um die Haare gebunden, andere hatten eine Mütze aufgesetzt. Die Kinder jedoch, allen voran Charlotte, störte das nicht. „Schaut! So schaut doch! Habt ihr gesehen, das war Karlchen, der kleine Delphin, ist er nicht süß.“ Die Eltern lächelten ein wenig beklommen und sahen unauffällig nach der Uhr. Nicht mehr lange, zum Glück, dann wäre die Vorführung beendet. „Ich muss zu ihm!“ rief Charlotte in das allgemeine Getöse, kletterte auf die Brüstung und sprang, platsch ins Becken hinein. „Karlchen!“ schrie sie, „ich komme!“ Mit kräftigen Bewegungen schwamm sie zur Beckenmitte. Die Kinder feuerten sie laut johlend an, kaum dass sie bemerkt hatten, dass eine der ihren gewagt hatte, wovon eigentlich alle träumten: einmal mit den Delphinen schwimmen! In diesem Augenblick platschte mit lautem Getöse und Gespritze Karlchen ins Wasser zurück, fast auf Charlotte drauf, die mächtig Wasser schluckte und sogar ein wenig untergetaucht wurde.
„Hallo lieber Delphin“, rief Charlotte, ein wenig keuchend und hustend, aber recht verständlich. „Ich bin Charlotte und möchte mit dir schwimmen.“
„Hou“, antworte der Delphin verdutzt und klackerte aufgeregt mit seiner Schnauze, so verblüfft war er darüber, dass er das Menschenmädchen verstehen konnte.
Dazu muss man wissen, dass nur alle paar Jahre ein Mensch geboren wird, der die Fähigkeit hat, mit Delphinen zu sprechen. Die Menschen wussten das aber nicht, nur die Delphine und es war immer ein großes Glück, wenn so ein Mensch dann tatsächlich auf Delphine traf.
Noch bevor der kleine Delphin antworten konnte, waren schon die Rettungsschwimmer ins Wasser gesprungen. Die erwachsenen Delphine, die sofort erkannt hatten, um was für einen besonderen Menschen es sich handelte, schwammen schnell herbei, bildeten einen Ring um das Mädchen und den jungen Delphin und verhinderten, dass die Rettungsschwimmer näher kommen konnten. Da ging ein Aufschrei durch die Zuschauermenge, denn alle fürchteten um das Leben des Mädchens. Doch genau da, sprang Karlchen wieder aus dem Wasser und durch den höchsten Reifen und auf seinem Rücken saß Charlotte und lachte. Beide sprangen noch zweimal durch den Reifen, drehten danach ein paar schnelle Runden und dann brachte der Delphin sie an den Beckenrand.
„Ich komme bald wieder“, versprach das Mädchen, „und in den Ferien kann ich jeden Tag kommen.“
„Hou“, erwiderte der kleine Delphin, „das ist prima. Ich werde auf dich warten, denn das Springen durch den Reifen mit dir auf dem Rücken ist so schön.“

Charlotte sprach jedoch nicht deshalb delphinisch, weil es ihr angeboren war, sondern weil sie es sich gewünscht hatte, nachdem sie einen Film mit „Flipper“ gesehen hatte. Bald darauf hatte sie den Sternenhund kennengelernt und zwar als beide gleichzeitig nach dem Löffel in der großen Sternenmüslischüssel griffen. Das war im letzten Jahr gewesen im Speisesaal im Hotel Miramar auf Teneriffa. Sie freundeten sich an und als sie ihm von ihrem Wunsch erzählte, mit Delphinen sprechen zu können, schenkte er ihr einen roten und einen grünen Punkt. Sie klebte sich vor diese vor dem Schlafen an die rechte und die linke Schläfe und lernte so die Delphinsprache über Nacht. Und heute nun, endlich!, hatte sie mit einem Delphin gesprochen.

Nachdem sie aus dem Becken geklettert und in eine Decke gewickelt im Büro des Direktors in einem Sessel saß, eine Tasse heißen Tee in der Hand, gab es natürlich erst mal Ärger: mit den Eltern, mit den Rettungsschwimmern, mit den Zoowärtern und natürlich mit dem Zoodirektor. Erst nach langem hin und her und viel Trara und tausend Worten bekam Charlotte die Erlaubnis mit den Delphinen zu schwimmen, solange es die Delphine duldeten. Dass Charlotte mit dem Delphin tatsächlich gesprochen hatte, glaubte keiner der Erwachsenen, natürlich nicht. Aber alle kannten die Geschichten aus alter Zeit, die von der besonderen Freundschaft zwischen Menschen und Delphinen erzählten.
Und so kam es, dass Charlotte, das Mädchen und Karlchen, der Delphin, zur Hauptattraktion des Zoos wurden. Der Zoodirektor rieb sich erfreut die Hände, denn dank der vielen Besucher konnte er endlich ein neues Affenhaus bauen lassen.

Eines Tages, als Charlotte wieder einmal in den Zoo kam, schwamm der kleine Delphin nur langsam im Becken auf und ab, kein Sprung, kein Salto, gar nichts. „Karlchen, “ rief sie „Karlchen, was ist denn los?“
„Ach“, seufzte Karlchen und schnalzte betrübt, „heute haben mir meine Eltern vom großen weiten Meer erzählt, auch sie haben es noch nicht gesehen, und jetzt bin ich traurig, weil ich es auch nie sehen werde.“
„Aber warum erzählen sie dir von Sachen“, fragte Charlotte, „die dich traurig machen, und wenn sie es doch nicht ändern können. Natürlich ist es schlimm für die Tiere, im Zoo eingesperrt zu sein, aber es ist auch gut, denn manche können in der Wildnis nicht leben, weil es keine Wildnis mehr gibt und für die Menschen, ist es auch gut, denn sonst wüssten sie nichts von euch, und würden auch nicht darüber nachdenken, wie das ist mit den Tieren und der Wildnis und dem Zoo, denn es ist nicht dasselbe, das alles im Fernsehen zu sehen!“ sagte Charlotte.
„Sie erzählen es“, erklärte der junge Delphin, „damit wir es nicht vergessen, damit wir das Meer nicht vergessen, aus dem wir stammen und für den Fall, dass wir einmal wieder dorthin zurückkehren, damit wir wissen, wie das ist, wie schön und wie gefährlich, denn man kann ja nie wissen, was so kommt, irgendwann einmal in der Zukunft. Und ja, jetzt möchte ich das Meer schon einmal sehen, und darin schwimmen und sehen, was besser ist, das wilde Meer oder mein schöner Zoo.“
„Da hast du so recht, Karlchen“, sagte Charlotte, „man kann nie wissen was einmal kommt in der Zukunft.“ Und dann lächelte sie, denn sie hatte einen Plan. Dann schwammen sie noch eine Weile zusammen und sprangen durch die Reifen, aber nicht sehr lange, denn es war schon spät im Herbst und das Wasser recht frisch, zu frisch für ein Menschenkind, um lange darin zu baden.

Charlotte wurde während der Schulzeit von den Eltern immer recht früh ins Bett geschickt, auch wenn sie noch lange nicht müde genug war zum Schlafen. Da waren die Eltern sehr streng. Ab sieben Uhr abends traf man Charlotte also nur noch in ihrem Zimmer an. Fast immer, denn an den Tagen, an denen ihre Eltern abends ausgingen, da ging auch Charlotte aus. Das fand sie nur gerecht. An diesen Abenden, kurz nach acht, öffnete sie ihre Schranktür, sprang mit Schwung in die linke Ecke und – befand sich auf dem unsichtbaren Weg, direkt nach Teneriffa, direkt zur Mini-Disco, die um halb neun begann. Das war ihr großes Geheimnis und sie hatte noch niemand davon erzählt. Diesen unsichtbaren Weg hatte ihr der Sternenhund gemacht und ja, den Weg musste man mit Schwung betreten, sonst passierte es, dass er nicht funktioniert und dass nichts weiter geschah, als dass man mit der Stirn an die innere Schrankwand stieß. Aber wenn es klappte, wenn sie zwanzig Minuten später in Teneriffa ankam, dann war das immer toll. Und manchmal traf sie sich mit dem Sternenhund und das war dann ganz besonders toll.
Das mit dem unsichtbaren Weg war wirklich eine prima Sache: abends um acht ab in die Mini-Disco, und wenn sie dann keine Lust mehr hatte oder durstig wurde, dann war sie ruckzuck wieder zuhause, konnte den Kühlschrank plündern oder aufs eigene Klo gehen. Das Besondere aber an dem unsichtbaren Weg war der Rückweg, der viel kürzer war als der Hinweg, aber musste man schwindelfrei sein, damit es funktionierte. Wenn die Eltern nun ihren Haustürschlüssel ins Schloss steckten, klingelte die unsichtbare Uhr an Charlottes Handgelenk, und sie musste unverzüglich und einigermaßen laut ‚Ich bin da!‘ rufen und war sofort wieder zurück in ihrem Schrank. Dann fiel sie geradezu ins Bett, denn der Rückweg war wie ein wilder Wirbelwind. Auf diese Weise war sie aber genau dort, wo sie zu sein hatte, wenn die Eltern ins Zimmer schauten, was sie immer taten, egal wie spät es war.

An diesem Abend jedoch hatte sie keine Zeit für die Mini-Disco, obwohl die Eltern ausgegangen waren. Sie saß an ihrem Schreibtisch und schrieb in ihrer schönsten Schrift einen Brief an den Sternenhund. Sie schrieb über die Traurigkeit der Delphine, dass sie das Meer vermissten, auch wenn sie es nicht kannten und dass Karlchen es so gerne einmal sehen wollen würde und dass sie sich wünschte, der Sternenhund würde für den Delphin einen unsichtbaren Weg zum Meer machen. Dann malte sie noch ein Bild dazu von sich und Karlchen, wie sie zusammen durch die Reifen sprangen und ihre Runden schwammen. Dann zog sie ihren Mantel über den Schlafanzug und die Schuhe an und rannte hinunter zum Briefkasten, denn das duldete keinen Aufschub.
Am nächsten Morgen schon lag ein Brief vom Sternenhund unter ihrem Kopfkissen. Sie wurde ganz aufgeregt als sie seine Antwort las und tanzte schließlich wild im Zimmer herum. „Nachher Delphin wird’s was geben, nachher kommt das große Glück, nachher Delphin wirst schon sehen, geht es flugs ins Meer zurück, trallali trallala trallalali hoppsasa …“, so sang und dichtete sie wild drauf los, bis die Mutter mit energischen Worten Charlotte an den Frühstückstisch rief.

Schnell wie der Wind erledigte sie am Nachmittag ihre Hausaufgaben und lief sofort in den Zoo. Groß war die Enttäuschung, als sie nicht hineinkonnte. „Wegen Wartungsarbeiten bleibt der Zoo diese Woche geschlossen“ stand auf einem großen Schild, das quer über dem Eingangsportal hing und sanft im Wind schaukelte. Doch der Sternenhund wusste schon Bescheid und hatte für Charlotte einen unsichtbaren Weg direkt zum Delphinbecken gebaut.
„Karlchen“, schrie sie wild, „Karlchen, komm schnell, wir fahren ans Meer, jetzt sofort, der Sternenhund bringt uns hin.“
„Hallo Delphin, ich grüße dich“, sagte der Sternenhund höflich und der Delphin grüßte ebenso höflich zurück, doch dann klickte er aufgeregt mit dem Schnabel. Ins Wasser, ins Meer, dachte er und seine Augen strahlten.
„Ich mache uns jetzt einen unsichtbaren Weg zum Meer“, erklärte der Sternenhund. „Das wird ein wenig schwierig und ich bitte um Ruhe, denn der Weg muss halb voll sein mit Wasser, damit der Delphin noch schwimmen kann, Charlotte und ich aber keinesfalls ertrinken, denn ich komme natürlich mit! Charlotte setzt sich auf den Rücken von Karlchen und ich mich auf die Schulter von Charlotte. So wird es gehen. So passt auf, es ist gleich so weit. Charlotte, spring auf!“ Und das tat sie sogleich, sprang auf Karlchen und das Hundchen auf sie und los ging es mit Rauschen und Brausen und zugekniffenen Augen, denn so kann man den unsichtbaren Weg besser sehen und fällt nicht herunter.

Es gab einen großen Platsch, als Karlchen ist Wasser flutschte. Charlotte schwebte in der Luft, fest im Griff des Sternenhundes, der nicht riskieren wollte, dass sie versehentlich im Meer ertrank, denn das war doch etwas anderes als das Delphinbecken im Zoo. Er schwebte mir ihr zu einer kleinen Insel und von dort aus sahen sie zu, wie der Delphin schwamm und schwamm, wie nie in seinem Leben, denn es gab keine Mauer, die ihn zum Umkehren zwang. Dass er dann doch umkehrte, und zwar blitzschnell, lag an der Haifischflosse, die plötzlich aufgetaucht war. Er wusste aus den Erzählungen der anderen Delphine sehr genau, um was für einen Fisch es sich hier handelte, und dass Haie ungefährlich waren, solange Delphine im Rudel schwammen. Aber ein kleiner Delphin würde durchaus eine wohlschmeckende Mahlzeit für einen Hai abgeben.
„Hilfe!“, rief er laut, „Charlotte, Sternenhund, so helft mir doch, ich weiß nicht, was ich tun soll. Hilfe!“
Ohne Verzögerung ging der Sternenhund ab wie eine Rakete, direkt auf den Hai zu. Er fing an zu blinken und unversehens schoss der Hai, inmitten einer Wasserfontäne aus dem Meer heraus und in den Himmel hinauf und immer weiter und weiter, bis er nicht mehr zu sehen war.
„Ha!“, lachte Charlotte und „Danke!“ sagte der Delphin. „Gerne!“ sagte der Sternenhund.
„Wo ist der Hai?“ fragte der Delphin. „Ist er tot?“
„Nein, nein“, antwortet der Sternenhund. „Es ist alles in Ordnung mit ihm. Er ist jetzt auf dem Mars, da gibt es große Meere und viele Kanäle, da kann er was erleben. Von seinem eigenen Meerwasser hat er auch dabei, damit er sich nicht so fremd fühlt. Das wird ihm gefallen, so kann er auf dem ganzen Mars herumschwimmen und all die grünen Marsfische sehen.“
„Ha!“ lachte Charlotte noch einmal und auch der kleine Delphin keckerte und klickte laut vor Erleichterung.
„Wir sollten langsam aufbrechen“ schlug der Sternenhund vor, „für heute hat unser Karlchen genug erlebt. Das soll er den andern erzählen und wenn alle wollen, dann bringe ich alle zusammen ins Meer und wenn ihr erst mal dran gewöhnt seid, könnt ihr für immer dort bleiben, wenn ihr das wollt.“

Es war der Samstag vor Weihnachten und Charlotte wollte unbedingt noch kurz bei Karlchen vorbeischauen, bevor sie über die Feiertage zu den Großeltern reisen würde. Einen Badeanzug hatte sie nicht dabei, heute nicht, denn es war zu kalt für sie und sie hatte ihren Eltern fest versprochen, zwischen November und April keinesfalls ins Delphinbecken zu steigen.
„Das Delphinarium ist geschlossen“, stand am Eingang zu lesen.
Was war das, dachte sie erschreckt, was war da los? So schnell sie konnte rannte sie zum Delphinbecken. Kein einziger Delphin schwamm darin herum, weder drinnen noch draußen. Kein einziger.
„Sie sind fort“, flüsterte der Sternenhund in ihr Ohr. „Sie sind fort, und sie sind fröhlich, es geht ihnen gut und sie schicken Weihnachtsgrüße. Und wenn es dir in den nächsten Tagen passt, können wir sie besuchen und nimm deinen Badeanzug mit, sie sind in der Karibik und dort ist das Wasser wunderbar.“
„Au fein!“ jauchzte Charlotte, „das ist wirklich prima. So ist es richtig. Das Meer in der Karibik ist richtig fein für Delphine!“

Ende

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