Kapitel 64

Mit großer Sorgfalt entwarfen Su und Marco die Einladungen für die kleine Feier, die sie anlässlich Alexanders wundersamer Rückkehr geben wollten. Mit Tusche und Pinsel malten sie die Worte auf wertvolles Papyrus, in kein anderes Material ließen sich verborgene Zauber so gut hineinflechten wie in Papyrus. Herkömmliches Papier war dazu völlig ungeeignet. Sie mussten ganz sicher gehen, dass die Eingeladenen auch mitbrachten, was sie unbedingt benötigten. Das konnten sie nicht dem Zufall überlassen.
Wie alle anderen, waren auch sie heilfroh gewesen, als sie von Alexanders Rückkehr erfahren hatten; vielleicht sogar noch froher. Viel, allzu viel, hing für sie davon ab. Nun war alles bereit. Die einzelnen, weit verstreuten Teile eines Edelsteinsterns, waren vollständig an jenen Orten angelangt, die von einer anderen Macht in einer anderen Zeit vorherbestimmt worden war. Ihrem Meister, Zeahlin Darec, war es in seiner einzigartigen Weisheit gelungen, herauszufinden, wann und wo das sein würde und was zu tun war, um die Einzelteile wieder zusammenzufügen. Wäre das vollbracht, könnten sie endlich wieder in ihre Heimat zurückkehren.

Fast gleichzeitig erreichten die vier Freunde die Villa Arco Azul. Sie trafen sich vor dem Gartentor und gingen gemeinsam hinein. Su und Marco deuteten dies als gutes Vorzeichen. Zur Feier des Tages hatten sie sich beide prächtig ausstaffiert, sahen aus, wie einem urzeitlichen Epos entsprungen. Ein Direktor eines frühgeschichtlichen Museums wäre entzückt gewesen und hätte vielleicht sogar Utu und Nanna in ihnen entdeckt. Su und Marco genossen ausgiebig den Eindruck, den sie machten: ehrfürchtiges Staunen und aufrichtige Ehrfurcht. Und genau so sollte es auch sein: nicht anders als ehrfürchtig sollte man sich ihnen nähern, das ganze gepaart mit einer gehörigen Portion demütiger Ängstlichkeit, die die Gegenwart der Mächtigen im gemeinen Volk weckte. Bald schon, sehr bald, würde das Volk wieder vor ihnen knieen.

Als Su nach dem Essen die Tafel aufhob und Marco den Kaffee servierte, machten sie es sich auf dem Boden im Wohnzimmer bequem. Es lagen ausreichend Kissen in jeder Größe bereit. Sie tranken Kaffee und schmauchten eine Wasserpfeife, die mit ihrem heimeligen Blubbern Gesprächspausen füllte und überbrückte. Räucherstäbchen verbreiteten ihren aromatischen Duft und keiner hatte es eilig, das gastfreundliche Haus zu verlassen.
Einzig Alexander fühlte sich unbequem und wäre gerne wieder gegangen. Er weigerte sich standhaft, die Wasserpfeife zu rauchen, obwohl ihm glaubhaft versichert wurde, dass ganz gewöhnlicher Tabak darin abgebrannt wurde. Er ließ sogar den "Spielverderber" über sich ergehen. In der orientalisch angehauchten Atmosphäre des Wohnzimmers war dumpfer Hass in ihm aufgebrochen und tiefe Verwirrung. Unverständliche Begriffe stiegen aus den Tiefen seines Bewusstseins herauf: Mutabor! Antafagosta! Bedeutungsvolle Wörter, doch nicht zu fassen. Unbarmherzig wurde er sich der Leere an manchen Stellen seines Inneren bewusst, die ihn seit seiner Rückkehr plagten. Er hatte etwas verloren, was er niemals zurückbekäme, dabei wusste er nicht einmal, was eigentlich fehlte, doch nur zu deutlich fühlte er zuweilen, dass ein verborgener Mangel in ihm nagte.
Alexanders Gesicht wurde zusehends abweisender, was außer Marco keinem auffiel. Die anderen lauschten hingerissen einer musikalischen Darbietung von Su und Eva. Auch wenn es nur eine Bandaufnahme war, die ungewöhnliche Mischung fremdartiger Klangfolgen, die Querflöte und Trommeln entwarfen, war überaus anziehend und eingängig. Neidlos gab Marco zu, dass Su unzweifelhaft mehr musikalisches Talent besaß als er, doch allzu bald schon würde niemand mehr danach fragen. Er war sich sicher, dass Su diese Episode sehr schnell vergessen würde, wenn sie erst wieder ihrer wirklichen Berufung folgen konnte. Er gab Su ein Zeichen und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf Alexander, der so aussah, als warte er nur auf eine günstige Gelegenheit, um sich zu verabschieden. Das galt es auf jeden Fall zu verhindern!

Su und Marco erhoben sich majestätisch zu den Klängen. Gefangen von der exotischen Musik wunderte sich niemand über den Tanz, den die beiden vorführten. Dieser Tanz führte die beiden in die Mitte der kleinen Runde. Ihre Füßen schienen den Boden nicht zu berühren. Sie stolperten weder über das herumstehendes Geschirr noch über Kissen. Als seien sie herausgelöst aus den Bindungen der Schwerkraft, die in diesem Augenblick den vier Freunden außergewöhnlich zu schaffen machte, schwebten sie in der Mitte des Teppichs. Su hielt eine silberne Schale mit ausgestreckten Händen hoch über ihrem Kopf. Ein leiser Gong ertönte, und Su kniete anmutig vor Alexander nieder, dessen grimmiger Gesichtsausdruck zusehends verflog. Wie weggezaubert waren seine düsteren Gedanken. Nur zu gerne griff er in seine Hosentasche und kramte einen flachen, rautenförmigen Stein hervor, rubinrot mit tanzenden Goldsprenkeln unter der Oberfläche. Es gab ein leise klirrendes Geräusch, als der Stein in die Schale glitt. Su kniete nacheinander vor Eva, Marianna und schließlich vor Vince nieder. Wie zuerst Alexander, förderten sie ebenfalls einen gleichartig aussehenden Stein hervor und legten ihn, Sus geheimen Befehl folgend, fraglos in die Schale. Su stellte die Silberschale behutsam in die Mitte des blauen Kreises, das in dem ansonsten musterlosen schwarzen Teppich eingewebt war. Sie kniete nieder und löste ihren Stein von ihrer Halskette. Marco kniete ebenfalls vor der Schale nieder, löste den Stein aus seinem Armband. Die Spannung, die sich ausbreitete, ließ die vier Freunde nicht unberührt. Obwohl keine Ahnung, was überhaupt gespielt wurde, hielten sie automatisch den Atem an und wagten nicht, sich zu bewegen.
Su und Marco ließen gleichzeitig ihre beiden Steine in die Schale gleiten. Sie hatten erwartet, dass etwas Großartiges, etwas Wunderbares geschehen würde, wenigstens ein Blitz oder zumindest ein Funke hätte erscheinen müssen. Die Enttäuschung über das Ausbleiben jedweder Reaktion stand Su und Marco nur zu deutlich im Gesicht. Sie hatten ganz fest damit gerechnet, dass die fremde Magie, die diesen Steinen innewohnen sollte, sich zu erkennen geben würde. Doch nichts geschah. Absolut nichts! Unfähig, irgendetwas anderes zu machen, blieben sie vor der Schale knien und starrten abwechselnd auf sich und auf die sechs vollkommen identisch aussehenden Steine. In ihren Augen stand fassungslose Ungläubigkeit. Hatten sie versagt, waren das die falschen Steine, hatte der Meister sich geirrt? Als nach einer scheinbar unendlich langen Zeitdauer ein leises Knirschen wie von splitterndem Glas die Stille unterbrach, war es, als donnere ihnen ein Kanonenschlag um die Ohren.
Alle sechs atmeten keuchend aus. Es war keiner unter ihnen, der es in diesem Moment gewagt hätte, die Schale aus den Augen zu lassen.

Sechs geflügelte Eidechsen, rubinrot mit goldenen Sprenkeln unter der Oberfläche, wuselten in der Schale herum, woben verflochtene Muster mit ihren Körpern. Ganz allmählich gingen ihre flinken Bewegungen in eine langsamere Gangart über, so als wären sie ihres hektischen Tanz überdrüssig geworden. Ohne die geringste Eile krochen sie aufeinander zu. Die Köpfe voran, trafen sie sich in der Mitte der Schale zu einem Willkommenskuss. So lange waren sie getrennt voneinander gewesen, dass sie diesen Augenblick nicht durch unüberlegte Eile zu verkürzen gedachten. So sah es jedenfalls aus. Die winzigen Gliedmaßen an Vorder- und Hinterbeinchen verhakten sich ineinander. Die Flügel falteten sich zusammen und legten sich flach auf den Rücken. Mit einer letzten, kaum wahrnehmbaren Bewegung schlüpften sie eng aneinander und streckten die Schwanzspitzen gerade aus. Die winzigen Schnauzen aneinandergedrückt, schliefen die Echsen ein. Das tierisch Lebendige in ihnen erlosch und übrig blieb ein wunderschöner Stern.


Es war Su, die zuerst in die Wirklichkeit zurückfand. Das Wunder war endlich geschehen. Endlich! Doch in dem Moment, als sie die Hand nach dem Stern ausstreckte, erschien wie aus dem Nichts eine Röhre aus blauem Dunst, die Schale und Inhalt umhüllte. Ohne zu zögern streckte Su ihre Hand aus und wurde zurückgestoßen. Empört hieb sie mit der geballten Faust dagegen. So kurz vor dem Ziel würde sie nicht dulden, dass sich irgendetwas gegen sie stellte. Mit einer blitzschnellen Handbewegung holte sie einen kleinen Dolch hervor, doch umsonst. Die blaue Röhre stieß ihre Hand mitsamt dem Dolch zurück. Su stieß einen wilden Fluch aus, als sie den Grund der Störung entdeckter: Ein ungebetener Gast hatte sich Einlass verschafft, die 13. Fee, diejenige, die immer Ärger machte, war erschienen, um den Stern zu rauben, gerade so wie der Meister es vorhergesagt hatte.
Es war jedoch keine Fee, sondern ein Engel, ganz eindeutig. Lächelnd schwebte er über dem Boden. Sein dunkelblaues Gewand Floss, bewegt in sanften Wellenbewegungen um seine Gestalt. Dunkelblaue Flügel, mit kräftigen Federn, reichten bis hinab zu den Füßen, wurden schmaler und liefen in einer eleganten Linie aus. Wie bei einem Schmetterling klappten sie zuweilen auf und zu.
Der Meister hatte sie vorgewarnt und sie in seiner unendlichen Güte und Weisheit mit einer wirkungsvollen Waffe ausgestattet, einem Giftstachel, der jedem Anderswesen, das nach dem Stern trachtete, den Garaus machen würde.
Angriffslustig stieß Su den Schlachtruf ihrer Familie aus. Katzenhaft und ohne nachzudenken sprang sie hoch mit der Absicht, den Stachel in den Hals des Engels zu rammen. Doch umsonst, es gelang nicht, schlimmer noch, sie rammte sich den Giftstachel in die eigene Hand. Fassungslos sah sie auf den Blutstropfen, der aus einem Finger quoll. Sie hatte versagt, nicht des Giftes wegen, dagegen war sie immun, aber sie die ihre einzige wirksame Waffe sinnlos vergeudet. Darüber war sie so bestürzt, dass noch nicht einmal mehr fluchen konnte. Doch sie schrie ihre Wut hinaus und der Schrei glich dem eines verletzten Wildes.
Der blaue Engel hob indessen eine Hand, die Lichtröhre löste sich auf und der Stern schwebte empor. Heftiger Zorn wallte in Su auf und trieb sie auf die Beine. Mit einem gewagten Hechtsprung warf sie sich wider besseres Wissen gegen den noch immer lachenden Engel und landete unsanft auf dem Rücken. Fluchend schnellte sie herum. Bei dieser Bewegung versetzte sie der Silberschale einen Fußtritt, die umkippte und ihre Zauberkräfte verlor, was aber niemand bemerkte. Der leichtfüßige Engel mit dem weißglänzenden Medusenhaar, das wie ein Heiligenschein strahlte, schenkte allen ein salbungsvolles Lächeln und verschwand. Und mit ihm verschwand der Stern. Su kreischte schrill, mit hochroten Gesicht, schlug blindlings auf die Schale ein und hörte auch dann nicht auf, als ihre Finger anfingen zu bluten.

"Das gibt es doch nicht!“ rief Eva erschrocken. Sie werden unsichtbar! So seht doch! Su und Marco werden unsichtbar. Sie werden unsichtbar! Sie verschwinden!" Ruppig schüttelte sie Marianna, die nicht so recht bei Sinnen schien. "Marianna! Verdammt! Alex! Vince! Sie verschwinden! Verdammt! Bewegt Euch! Denkt nach! Wir müssen etwas tun!"
Die sich überstürzenden Ereignisse hatten zunächst verhindert, dass Eva die freudige Erregung, die sie beim Anblick des Engels überkommen hatte, bemerkte. Erst als es fast schon zu spät war, Su und Marco waren wenig mehr als fadenscheinige Gespenster, fiel es ihr ein. Sie war dem Engel schon einmal begegnet. Die Umstände waren so verschieden gar nicht: Unmögliches geschah und keiner verstand es.
"Daira!" schrie sie ziemlich laut.
Daira war noch nah genug, um Evas verzweifelten Ruf zu hören. Sie verlor kaum Zeit und kehrte zurück, etwas früher sogar. Su und Marco wurden im Gegenzug sogleich deutlicher. Doch die unsichtbare Kraft, die ihre Substanz verzehrte, war jedoch weiterhin am Werk.
"Himmel ...! Was ...? Was bedeutet … das …?" stotterte Eva, "sie werden durchsichtig …. sie verschwinden ... Wie ... kann das … sein …?"

"Seid ihr Freunde, ihr vier von heute und die zwei von gestern?" der Engel mit glockenheller Stimme und doch streng.
"Ja!" antwortete Eva, schlicht und unverzüglich. "Ja! Wir sind Freunde!" Marianna, Alexander und Vince nickten bestätigend und mit ernstem Gesichtsausdruck, doch ohne wirkliches Verständnis.
"Freunde! Gut! Wenn ihr die Verantwortung für sie übernehmt, wenn ihr es wirklich wollt, hole ich sie zurück."
Blitzschnell nickten vier Köpfe. Ergriffener Ernst spiegelte sich auf ihren Gesichtern, doch wirkliches Verständnis hatten sie nicht. Das mit der Verantwortung vergaßen sie sofort wieder, denn wirklich wichtig waren nur die letzten Worte des Engels.
Der Engel stimmte einen leisen Gesang an und spann sie eine Brücke durch Raum und Zeit und holte den Stern aus den Falten seines Gewandes: "So fasse jeder mit einer Hand eine Spitze des Sterns, rückt dicht zusammen, so dass die Schultern sich berühren!" befahl der Engel und er wob mit den Händen ein Netz, das geeignet war, Su und Marco an Ort und Stelle zu halten. "Schließt die Augen! Bewegt Euch nicht, der Kreis darf nicht zerbrochen werden. Lasst auf keinen Fall den Stern los. Auf keinen Fall, egal was passiert!"
Ganz langsam schlich es heran. Zuerst fühlte es sich an, als sei es das leibhaftige Grauen persönlich. Marco schrie sogar panikartig auf. Doch während es näher und näher kam, wurde das Grauen weniger und schließlich waren sie eingehüllt in die vertraute Sehnsucht eines kühlen Sommermorgens. Bunt schillernde Seifenblasen tanzten durch die Zeit und Sternenfische zogen ihre unendliche Bahn. Gewaltige Energieströme tanzten durch das Universum.

Daira konzentrierte sich, blickte tief und weit und fand schließlich die Lösung. Sie würde ihr ganzes Können anwenden müssen, um den Schlamassel wieder in Ordnung zu bringen, den ihr Bruder Darec angerichtet hatte. Sie spürte, dass er nicht mehr war, dass er vergangen war in einer Flasche, die er eines simplen Stöpsels wegen nicht mehr hatte verlassen können. Ein dummer Zufall, wie er hin und wieder vorkam. Die Trauer über seinen Vergehen währte nur kurz, zu lange lebte sie schon ohne ihn, als dass sie ihn noch vermisste.
Dass seine Schützlinge nun ebenfalls dem Vergehen anheim fallen sollten war nicht gerecht, wirklich nicht. Immerhin hatten sie nicht gewusst, worauf sie sich einließen, als sie einwilligten, ihrem Bruder Darec zu dienen. Sie hätten so oder so versagt, Darec hätte den Stern so oder so nicht bekommen. Oder vielleicht doch? Das konnte niemand wirklich wissen, nicht einmal sie selbst.
So schloss sie den Zauber ab, der den beiden ein Leben in dieser Welt und in dieser Zeit ermöglichen würde. Sie verstärkte die manche Zauber in der Struktur des Hauses auf bestimmte Weise und stimmte sie auf Su und Marco ab. Nun konnten sie kommen und gehen wie es ihnen beliebte, konnten sich bewegen zwischen hier und dort, das alles im Rahmen von Darecs Erbe. Sie würden nun lernen müssen, was es heißt, Darecs Erben zu sein, doch das Haus würde ihnen helfen. Sollten sie jedoch übermütig werden oder unvernünftig, würden sie schnell schon merken, dass dies nicht gut für sie wäre. Fortan würden sie also einzigartig sein, Zeit ihres Lebens. Nicht ganz so einzigartig allerdings, denn auch bei den anderen schwang etwas mit von der wilden Magie, die ihr so vertraut war. Ob sie dies jedoch gegenseitig erkennen würden, war nicht vorhersehbar. Dafür war sie auch nicht zuständig. Daira zog noch eine letzte Falte zurecht im Gewebe des Zaubers, bevor sie mit einem gellenden Pfiff verschwand.

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