Kapitel 19

Alexander war reichlich beklommen zumute, als er hinter Vince die Stufen zu Mariannas Wohnung emporstieg. Beglückende und gleichermaßen bedrückende Erinnerungen rangen in Alexander heftig miteinander: Es war noch nicht einmal eine Woche her ... Ungeachtet dessen lief er nicht davon, obwohl ein Teil von ihm sehr dazu drängte. Als sie vor der Wohnungstür standen, war er reichlich blass und außer Atem.
"Du musst mehr Sport treiben, mein Lieber!" kommentierte Vince ungefragt, den Anlass von Alexanders Atemnot völlig verkennend.

Auf ihr Klingeln hin öffnete Manfred, einer von Mariannas Mitbewohnern. Er war groß, breitschultrig und kräftig, vor allem am Bauch, hielt mit erstaunlicher Lässigkeit seinen heftig herumzappelnden Sohn Frederic auf seinem Arm.
"Hallo!" begrüßte er die beiden fröhlich lachend. "Kommt rein! Ab in die Küche! Schnell, schnell, da seid ihr sicher!"
Alexander und Vince warfen sich einen erstaunten Blick zu, erkannten aber sogleich, was Manfred meinte. Mit lautem Geheul stürmten zwei kleine Mädchen mit Pfeil und Bogen auf Manfred zu. Frederic stimmte begeistert mit ein und warf seine Klötzchen schwungvoll durch den Flur. Eilig befolgten die beiden Freunde den gut gemeinten Rat und flüchteten in die Küche. Manfred dagegen stellte sprichwörtliche Gutmütigkeit unter Beweis, indem er die Attacke der Mädchen lediglich mit einem Lächeln parierte, bevor er mitsamt seinen Verfolgerinnen in einem der Zimmer verschwand.

Erst eine ganze Weile später kam Eva in die Küche. "Hallo!" begrüßte sie die beiden kurzangebunden. "Ich soll euch ausrichten, dass Marianna was dazwischengekommen ist. Ihr könnt sie erst später treffen."
Alexander verschlug es die Sprache angesichts der Erleichterung, die er darüber empfand, dass Marianna nicht da war.
"Hi!" erwiderte Vince einsilbig. Er sah Eva kaum an dabei. Übergewichtige Frauen mit grimmigem Gesichtsausdruck waren nicht unbedingt sein Fall. Er war schon drauf und dran, sie einfach kommentarlos den Rücken zu kehren, um zum Fenster hinauszusehen, besann sich dann aber eines anderen. "Aber hallo, schöne Frau, wer wird denn so böse dreinschauen? Welche Laus ist Dir denn über die Leber gekrochen?"
"Keine Laus, nur mein Chef!" antwortete sie ihm mehr im Reflex, als dass sie es wirklich gewollt hätte. "Dieser absolute Oberblödmann!"
"Hallo Eva!" sagte jetzt Alexander, der sich gut an Eva erinnerte. Sie war ihm auf den ersten Blick sympathisch gewesen, ihr unwirsches Gehabe änderte daran nichts.
"Was heißt hier 'Oberblödmann'? Du wirst doch nichts gegen Männer haben?" feixte Vince und verzog den Mund zu einem Grinsen.
"Ich habe nichts gegen Männer!" giftete Eva, "überhaupt nichts, solange sie sich zu benehmen wissen!"
"Nun stell Dich mal nicht so an, ich kann doch nichts dafür ... Mit Chefs haben alle immer so ihren Ärger! Das wird schon wieder!" antwortete Vince belanglos, drehte sich um und sah gelangweilt zum Fenster hinaus.
Alexander lächelte Eva zaghaft an. Vince benahm sich ziemlich unmöglich und er fühlte sich bemüßigt, dies wiedergutzumachen. Auch wenn Marianna ihn versetzt hatte, war dies kein Grund, zu ihrer Mitbewohnerin unhöflich zu sein. "Beachte ihn einfach nicht!" riet er ihr. "Was hat Dein Chef denn gemacht?"
"Du hast recht! Ich werde ihn einfach nicht beachten! Der scheint auch nur so ein Oberblödmann zu sein!" antwortete Eva. Er wirkte aufrichtig interessiert und sie beschloss, ihn beim Wort zu nehmen und erzählte, was ihr heute passiert war.
"…! Widerling! Ich könnte ihn umbringen! Dem hab ich's aber gegeben ..."

"Mannomann! Der Ärmste!" fühlte sich Vince bemüßigt, seine Meinung kundzutun. "Wie konntest Du nur? Der kann ja nie wieder in einen Spiegel sehen. Den hast Du echt lächerlich gemacht. Der ist garantiert tief in seinem Stolz getroffen." Man sah, dass Vince es ernst meinte.
Eine Schrecksekunde lang starrte Eva ihn mit offenem Mund ungläubig an, doch sie fasste sich schnell wieder. "Erstens ist es mir schnurzegal, ob dieser Widerling jemals wieder in einen Spiegel sehen kann. Das ist sowieso nicht nötig, denn da versäumt er nichts! Gar nichts! Zweitens darf das doch wohl nicht wahr sein! Das kann doch wohl nicht dein Ernst sein? Was bildet der sich eigentlich ein? Und Du, was mischt Du Dich ein in Sachen, die Dich nichts angehen, von denen Du nichts verstehst? Bist ja auch nichts weiter als so ein …! Du gehörst wohl auch zu denen, die hemmungslos herumtätscheln ... nur dass Du eben noch keinen fetten Bauch und keine Glatze hast! Aber das kommt auch noch! Wart' s nur ab!" Sie hatte sich in Rage geredet und fuchtelte zur Unterstützung mit den Armen und stampfte mit dem Fuß. Sogar Vince spürte einen Augenblick lang so etwas wie Verlegenheit. "Männer! ... Nicht genug, dass er mich ungestraft belästigen und mir auf die Nerven gehen darf ... jetzt muss ich mir einen neuen Job suchen. Eine verdammte Ungerechtigkeit ist das. (Hysterisches Weibergeplärr, dachte Vince gelangweilt, hütete sich aber davor, es laut auszusprechen.) Ich werde ihn ein Leben lang mit Schmähbriefen verfolgen ... in 5facher Ausfertigung und mit einer extra Durchschrift für seine werte Gattin. ... Wo gibt's denn sowas? Irgendwann muss doch mal Schluss sein mit diesem Blödsinn!" Eva holte tief Luft und sah die beiden eindringlich an. "Ihr braucht nicht so betreten vor Euch hinzuglotzen! So was erlebt FRAU alle Tage. Es ist völlig normal! Das einzig Ungewöhnliche daran war lediglich, dass ich ihm eine rote Nelke vom Kopf geschossen habe!"
"Ach, stell' Dich doch nicht so an!" rutschte es Vince raus, als sie Luft holte. "Lass' ihn doch tätscheln, wenn er will. So sind sie halt, die alten Säcke! Ho, ho, ho!".
"Das darf doch wohl einfach nicht wahr sein! Ich glaub', ich hör' nicht richtig!" Eva sah Vince an. Hart und verächtlich war ihr Blick, so dass er verwirrt einen Schritt zurücktrat, sich den Kopf am Fensterflügel anstieß und mit betont leidvoller Miene die Hand auf die Stirn legte. "Du hast sie wohl nicht alle! (Ihre Stimme war gefährlich leise und völlig ruhig geworden, es sollte ja keiner auf den Gedanken kommen, sie sei hysterisch, nur weil sie gern laut schimpfte.) ICH soll an mir rumtätscheln lassen? Ist doch nichts dabei ...! Ho, ho, ho! Für was hältst Du mich eigentlich? Für was hältst Du Frauen eigentlich? Was bist Du überhaupt für einer? Was glaubst Du denn? Na los, sag schon! Ein Spielzeug? Oder was?"
"Na, beruhige dich doch! ich meinte ja nur ..." Klirrend krachte hinter ihm eine Tasse an die Wand. Er war nicht mehr dazu gekommen, zu sagen, was er meinte. Eva war, ein wüstes Schimpfwort zurücklassend, aus der Küche gerauscht.

Schreckensbleich, doch getreu dem Motto 'sich ja nichts anmerken lassen', murmelte er was von wildgewordenen Weibern und Emanzengeschrei, wobei er Alexander zustimmungsheischend ansah, aber nicht die erhoffte Unterstützung bekam.
"Eva hat doch recht, und Du hast ganz schönen Blödsinn geredet. Man kann doch an Frauen nicht so einfach herumgrapschen", widersprach Alexander. Er sah Vince dabei nicht an, sondern starrte mit großen Augen auf die Küchentür, die Eva hinter sich zugeknallt hatte. Dann bückte er sich und sammelte die Scherben ein. Sieh mal einer an, dachte Vince, wenn sich da nichts anbahnt, dann fress' ich 'nen Besen! Ihm war nicht entgangen, wie Alexander Eva die ganze Zeit über angesehen hatte.
Evas Tirade war so imposant gewesen, dass Alexander mit großen Augen und wachsender Begeisterung zugehört hatte. So derart lautstark und schwungvoll schimpfen zu können, das hätte er auch gerne gekonnt. Er fand es völlig in Ordnung, wie sich Eva gegen ihren Chef zu Wehr gesetzt hatte und war hochgradig beeindruckt. Vince hätte den Mund halten sollen, anstatt so dummes Zeug zu reden, überlegte er, geschieht ihm ganz recht, dass sie ihn zusammengestaucht hat.
Was soll's, dachte Vince, vergaß die ganze Aufregung kurzerhand und schenkte sich Kaffee ein. Sodann ließ er sich schwer auf einen Stuhl fallen, wobei er die Arme weit ausbreitete und theatralisch seufzte. "Manoman, ey! Diese Frauen! Unzuverlässig und hysterisch! Die eine schreit, die andere ist gar nicht erst da!"

Im Flur tobten weiterhin die Kleinen herum, doch keiner ließ sich blicken. Alexander starrte Löcher in die Luft und schien nicht zu bemerken, wie die Zeit verging. Unschlüssig sah Vince immer wieder auf die Uhr und wusste nicht so recht, was er von alledem halten sollte. Er hatte sich gerade zum Gehen entschlossen, als Eva wieder in die Küche kam. Wortlos sahen sich alle gegenseitig einmal an. Eva sagte nichts. Ihr Gemütszustand war nicht zu ergründen. Kommentarlos nahm sie sich einen Kaffee, und als sie ausgetrunken hatte, räumte sie ihre Tasse in die Spülmaschine. Dann schnappte sie sich die noch halbvolle Tasse von Vince, kippte den Inhalt schwungvoll ins Spülbecken und steckte sie ebenfalls in den Geschirrspüler.
"Ihr müsst jetzt los," sagte Eva, "zu ihr in die Agentur, sie erwartet euch dort, und beeilt euch, sie ist keine Frau, die man warten lassen sollte!" Sie bedachte Vince mit einem spöttischen Grinsen, worauf dieser schnell in eine andere Richtung sah. Er hatte es noch nicht verwunden, dass sie ihn vor Alexander so angeblafft hatte. Deshalb fiel es nicht weiter auf, dass auch Eva schnell wieder wegsah. Sie musste sich eingestehen, dass es einfacher gewesen war, ihm wütend zu begegnen.
"Und warum das jetzt?" fragte Vince schroff und wischte sich einen verirrten Kaffeespritzer vom Gesicht. "Ich war mit ihr verabredet, und zwar hier und schon vor einer Stunde!" Er sah mit übermäßig geschäftig auf seine Armbanduhr. "Ich bin auch kein Mann, den man warten lassen sollte!"
"Dazu kann ich nichts sagen, ich mache nur, was sie mir aufgetragen hat. Und was das Warten anbetrifft ... schließlich willst Du ja was von ihr, wenn ich richtig informiert bin", erwiderte Eva.
"Und warum erst jetzt? Was war denn so Wichtiges? Wir sind hier doch nicht in einem Kindergarten! ... Meine Güte, nun lass' Dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen ..." Vince verlor langsam die Geduld.
"Nun gut! Es geht Euch zwar nichts an, aber es ist auch kein Geheimnis. Ich werde es erzählen, weil Du so NETT gefragt hast ..." sagte Eva und senkte die Stimme, als wäre es doch ein Geheimnis. "Bernhard von Mangold-Dürrenschnabel fliegt für vier Wochen nach Kanada, und sie bringt ihn natürlich zum Flughafen. Für Bernhard werden schon mal Verabredungen verschoben. Er hat eben so seine Privilegien!"
"Bernhard von ... was?! Was ist das denn für ein Vogel?" fragte Vince mit unverhohlener Neugierde.
"Bernhard von Mangold-Dürrenschnabel, Mariannas Geschäftspartner und ... ihr Freund!" befriedigte sie seine Neugier. Alexander schien ziemlich bestürzt, doch Vince wirkte recht gelassen; offensichtlich berührte es ihn nicht sonderlich, dass Marianna einen Freund hatte. Besonders ernsthaft konnte sein Interesse an ihr also nicht sein, dachte sie sich. Evas Herz machte einen unkontrollierbaren kleinen Sprung.
Alexander war auf seinem Stuhl in sich zusammengesunken. Marianna hatte einen Freund! Nur mit Mühe konnte er einen verzweifelten Aufschrei unterdrücken. Diese Blöße wollte er sich vor den beiden aber nicht geben. Das ging keinen was an! Wo war er da bloß hineingeraten?
"Na dann woll'n wir mal!" seufzte Vince, nahme die Visitenkarte, die Eva ihm hinstreckte. "Los Alex, nu komm schon! Damit das heut noch was wird!"

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