Kapitel 24

"Alex! Komm runter, Du hast Besuch!" Erschrocken drehte sich Alexander um; er hatte seine Mutter gar nicht hereinkommen hören, so vertieft war er in sein Buch gewesen.
"Oh, das ist bestimmt Eva." Er sprang auf und rannte an der Mutter vorbei die Treppe hinunter.
"Hallo Eva! Schön, dass Du da bist! Komm doch schnell hoch. Ich bin noch nicht ganz fertig!"
"Aber, das geht doch nicht .." wagte seine Mutter einzuwenden, die mittlerweile auch heruntergekommen war und stirnrunzelnd zusah, wie sich die beiden zur Begrüßung herzlich umarmten. Das war ihr nicht geheuer: Ein Mädchen aufs Zimmer!
"Warum denn nicht? Eva ist meine Freundin!" erwiderte Alexander leichthin und grinsend, wohl wissend, dass er mit seinen Worten einen falschen Eindruck erweckte. Wenn seine Mutter wüsste, was für eine Freundin sie war, hätte sie bestimmt nichts gesagt!
"Ehm ... ja wenn Du meinst ... aber ich weiß nicht ... richtig ist das eigentlich nicht ..."

"Nett hast Du's hier," sagte Eva, als sie Alexanders Zimmer begutachtete. "Ein richtiges JUNGENZIMMER! Vielleicht solltest Du ausziehen. Solange man zu Hause wohnt, ist es immer schwierig, dem Einfluss der Eltern zu entkommen. Ich weiß schließlich, wovon ich rede!"
Alexander wurde rot. Er verwünschte insgeheim sein langjähriges Desinteresse für die Zimmereinrichtung und war heilfroh, dass lediglich Eva hier war und nicht etwa Vince oder gar Marianna.
"Ja!" antwortete Alexander spontan und voller Überzeugung. "Vielleicht sollte ich wirklich ausziehen. Ich hab' bisher noch nicht darüber nachgedacht."
"Dann wird's Zeit! Jetzt lass Dich mal ansehen! Du warst beim Friseur ... sieht klasse aus." Lachend zerzauste sie ihm das Haar. "Deine neuen Sachen hast Du auch an. Perfekt! Ein neuer Mensch. Wie fühlst Du Dich damit?"
"Na ja. Ich weiß nicht so recht, was ich dazu sagen soll", erwiderte Alexander etwas verlegen. "Ich hab' mich um sowas nie gekümmert."
Die Veränderung seines Äußeren kam nicht von ungefähr. Ein neues Lebensgefühl war in den letzten Wochen gewachsen, was danach drängte, sichtbar zu werden. Dazu kam die Hoffnung, dadurch Mariannas Aufmerksamkeit zu erringen, denn für sie wollte er so schön wie möglich sein. Gestern war der große Tag gewesen. Unabhängig voneinander hatten ihm Eva und Vince bei seinen Bemühungen zur Seite gestanden. Am Vormittag war er mit Eva einkaufen gewesen und am Nachmittag mit Vince beim Friseur. Es war keine leichte Aufgabe, zumal Alexander in diesen Dingen völlig unerfahren war und keine Ahnung hatte, was ihm stand. Es bedurfte vieler Drehungen und Wendungen vor unzähligen Ankleidespiegeln, bevor sowohl Alexander als auch Eva zufrieden waren. Saloppe, nicht zu eigenwillige Kleidung unterstrich seine Figur und verlieh ihm das Aussehen gepflegter Lässigkeit. Sogar auf neuen Socken, neuen Schuhen und neuer Unterwäsche hatte Eva bestanden.
"Das war nicht zu übersehen. Was hat denn Deine Mutter dazu gesagt?"
"Reden wir lieber nicht davon. Ein Drama! So ... wie damals, als ich über Nacht nicht nach Hause gekommen war, Du weißt schon ..." Er wurde wieder rot. "Ich war aber ganz tapfer und habe ihr gesagt, dass ich schließlich alt genug sei, um selbst einkaufen gehen zu können. Siehst Du, ich habe mir genau gemerkt, was Du mir gesagt hast. Meine Mutter wird es schon auch noch begreifen. Die Zeiten haben sich eben geändert."

Das hatten Alexanders Eltern zu ihrem Leidwesen auch schon festgestellt. Zuerst nur im Fernsehen, dann bei den Nachbarskindern und jetzt auch beim eigenen Sohn. Der stille, unauffällige junge Mann war nicht mehr gefragt. Häuslichkeit und Treue waren ersetzt worden durch oberflächliches Vergnügen. Ihr Vorsatz, Alexander nicht dem allgemeinen Moral- und Sittenverfall zum Opfer fallen zu lassen, schien gescheitert. Sie waren ratlos. Wie sollte er jemals eine gute Frau finden, wenn er seine schlichte Anständigkeit nicht bewahrte?

"Du siehst heute aber auch ganz klasse aus," bewunderte er im Gegenzug Eva. An sich wäre an ihrer Kleidung nichts Auffälliges gewesen, sie trug einen engen schwarzen Rock und ein weites, langes Oberteil dazu. Doch riesige Ohrringe, jede Menge klirrender Armreifen und Ringe an jedem Finger machten etwas ganz Besonderes daraus. Ganz besonders bewundernswert fand er ihre superlangen, perfekt geformten und weiß lackierten Fingernägel.
"Ach was, halb so wild ... Man muss eben das Beste machen." Nun war es an Eva, verlegen zu sein, doch seine unverhohlene Bewunderung freute sie aufrichtig. "Schließlich wollen wir beide heute ja „groß ausgehen“! Da hättest du mich früher mal sehen sollen, na ja, du weißt schon … aber Marianna gefällt Dir wohl noch besser, was?"
Daraufhin lachten beide. Einen Augenblick sahen sie sich in die Augen und dann ... schnell woanders hin.
"Alex!" rief seine Mutter abermals von unten hoch. "Vince ist da und will Dich abholen."
"Überraschung! Wir fahren mit dem Auto!" trällerte Alexander, nicht ahnend, was für eine Überraschung er Eva bereitet hatte. "Los, auf geht's!"

"Hi, Alex! Alles klar? Ich wollte nicht raufkommen. Du weißt schon, Deine Mutter schaut mich immer so misstrauisch an," begrüßte Vince den Freund und machte ein langes Gesicht, als Eva hinter ihm aus der Haustür kam. "Du hier! Na sowas ... Hallo schöne Frau!" Es kam ihm vor, als sehe er sie zum ersten Mal. "Kommst Du auch mit? Das ist ja nett." Galant deutete er eine leichte Verbeugung und einen Handkuss an.
"Hallo!" erwiderte Eva. Ein prickelndes Gefühl hatte alle anderen Worte in ihrem Kopf verdrängt.
"Nun übertreib mal nicht," ging Alexander dazwischen und nahm Eva an die Hand. Er kannte seinen Freund. Der sollte sich bloß nicht an sie ranmachen. Eva war viel zu schade für ihn.

Auf dem Weg zur Disco redete Vince pausenlos, lediglich unterbrochen von Alexander, der ab und an lachend einige Einwände machte. Eva saß stumm auf dem Rücksitz und sah aus dem Fenster.
Es dauerte nicht lange, da standen sie in einem unauffälligen Hauseingang. Nichts deutete darauf hin, dass hier das FRS untergebracht war. Es hatte erst kürzlich aufgemacht, war aber wegen des ungewöhnlichen Musikstils schnell bekannt gekommen. Sie gingen eine breite Treppe hinauf zu einem hellerleuchteten Vorraum, dessen eine Wand von Spiegeln bedeckt war. Am anderen Ende befand sich eine große Schwingtür, wo bei jedem Öffnen ein Schwall lauter Musik herausschwappte.
Die drei waren ein bemerkenswertes Trio, das einige Blicke auf sich zog. Eva ignorierte sie gelassen und Vince lächelte huldvoll. Alexander sah zu Boden; er fühlte sich angesichts dieser ungewohnten Aufmerksamkeit ziemlich verunsichert. Ein Blick in die Spiegelwand zeigte ihm jedoch, dass er mit seinem Aussehen zufrieden sein konnte. Vince, der den Freund lächelnd beobachtet hatte, nickte ihm anerkennend zu. Auch Eva lächelte. In diesem Lächeln, das Alexander galt, trafen sich Evas und Vince' Blicke einen kurzen Augenblick. Eva blieb die Luft weg. Vince merkte nichts.

Ganz schön voll hier!" stellte Vince fest.
"Oh seht mal, da drüben steht Manfred," sagte Eva. "Lasst uns dahin gehen. Da ist bestimmt ein Plätzchen für uns frei."
"Ach! Marianna ist ja auch da!" bemerkte Vince verdutzt.
"Überraschung!" gluckste Eva Alexander ins Ohr. "Ich konnte meine WG davon überzeugen, dass wir uns heute unbedingt hier treffen müssen ... Jetzt keine falsche Aufregung vortäuschen!"
"Aber ..." stammelte Alexander. "Warum hast Du mir das nicht vorher gesagt. Du hast es die ganze Zeit gewusst ... Dann hätte ... dann wäre ..."
"Was dann?" schrie ihm Eva ins Ohr und schubste ihn. "Nichts da! Du bist ihr jetzt lange genug aus dem Weg gegangen. Heute ist ein guter Tag. Los jetzt!"

"Da kommen ja unsere Starmusiker!" brüllte Manfred und seine Begleiterin imitierte unter allgemeinem Gelächter einen hysterisch kreischenden Fan. Alexander wäre am liebsten im Erdboden versunken.
"Wenn das kein Zufall ist ... Ich wusste gar nicht, dass ... Hallo Manfred! ... Marianna!" grüßte Vince. "Schön, dass Du hier bist!" flüsterte er Marianna ins Ohr während er sie leicht umarmte.
"Los Du jetzt auch!" Eva gab Alexander einen Schubs, er stolperte Marianna entgegen und trat ihr dabei fast auf die Füße. In einem heldenhaften Anflug umarmte Alexander Marianna ebenfalls, zog sich allerdings schnell wieder zurück und sah verlegen zu Boden, nicht ahnend, wie bezaubernd er in diesem Augenblick wirkte. Die Berührung, so flüchtig sie auch gewesen war, hatte ihm prompt die Röte ins Gesicht getrieben. Er war heilfroh, dass die düstere Discobeleuchtung dies verbarg.
"Du siehst heut' aber schick aus!" sagte Marianna bewundernd und lächelte ihn freundlich an.
Alexander war über ihr Kompliment so froh, dass er am liebsten in die Luft gesprungen. Dafür hatte es sich doch gelohnt, das Gezeter seiner Mutter zu ertragen. Ihm wurde heiß und sein Puls raste, Leidenschaft und Verlangen brannten in ihm wie wildes Feuer. Krampfhaft bemühte er sich darum, sich nichts anmerken zu lassen. Er sprang also nicht in die Höhe, sondern tat nichts weiter, als sie stumm und mit einem heißen Brennen im Herzen anzusehen
"Die Frisur finde ich am besten, steht Dir wirklich gut", fuhr sie fort, lächelte ihm noch einmal zu, bevor sie sich Vince zuwandte. "Gut, dass ich Dich treffe. Ich hätte Dich sonst angerufen. Ein Bekannter von mir ..."

Alexander fühlte sich wie mit kaltem Wasser übergossen. Er war zutiefst enttäuscht und beobachtete die beiden mit Argusaugen. Von ihrer Unterhaltung bekam er wenig mit, umso besser sah er dagegen, wie sie Vince gewinnend anlächelte. Ich wäre besser zu Hause geblieben, Eva mit ihren Ideen ..., dachte er mürrisch. Er fühlte sich miserabel.
Eva, die Marianna und Vince ebenfalls beobachte, bezweifelte, ob ihr schöner Plan die erhofften Früchte tragen würde. Marianna hatte nur Augen für Vince, und Vince ...

"Komm!" riss Eva sich und Alexander aus ihren kummervollen Betrachtungen. "Lass uns mal ein bisschen tanzen! Wozu sind wir den sonst hier? Außerdem kommt gerade eines meiner Lieblingslieder!"
Alexander ergriff sofort diese Gelegenheit zur Flucht. Als eine Frau ihm vom Rand der Tanzfläche aus zulächelte, lächelte er spontan zurück und vergaß darüber sogar seine Eifersuchtsattacke.
Als sie etwas außer Atem zurückkamen, schob Eva, Alexanders Widerstand ignorierend, in Mariannas Nähe. Es schien ihr die einzige Möglichkeit, das einträchtige Getändel zwischen Vince und Marianna zu unterbrechen; auch wenn Alexander dies nicht lustig zu finden schien. Sie selbst stellte sich neben Vince und suchte krampfhaft nach Worten. Noch bevor ihr etwas einfiel, ergriff Vince ihre Hand. Ihr blieb fast das Herz stehen. Lächelnd sagte er etwas, was sie nicht verstand; ihre Ohren schienen taub geworden zu sein. Gleich darauf ließ er ihre Hand wieder los, drehte sich um und verschwand im Getümmel. Eigentlich froh darüber, dass er ihre Hand wieder losgelassen hatte, war sie dennoch enttäuscht und darüber wiederum verärgert. Unzufrieden mit sich selbst verwünschte sie ihr aufgeregt klopfendes Herz. Schließlich hatte er nichts weiter getan, als einen ihrer Fingerringe zu bewundern.

"Husch ... und weg ist er! Echt ey, so sind sie! Alle gleich!" Marianna verdrehte die Augen. Natürlich, eine Frau, ist ja typisch, empörte sich Marianna innerlich, als sie mit ansehen musste, wie Vince ein dunkelhaariges Mädchen freudig in die Arme schloss.
"Ich hab's Dir ja gleich gesagt: der lässt sich KEINE Gelegenheit entgehen! Was will FRAU da schon erwarten?!" erwiderte Eva und verbarg geschickt ihre eigene Enttäuschung hinter einem süffisanten Grinsen.
"Lasst uns noch mal 'ne Runde tanzen, ja?" Froh darüber, dass Vince so offensichtlich anderweitig beschäftigt war, hatte Alexander all seinen Mut zusammengenommen, trotz weicher Knie und einem bis zum Hals klopfenden Herz.
Eva war gleich dabei, Marianna dagegen musste sich erst einen energischen Ruck geben, bevor sie den beiden zur Tanzfläche folgte. Auf geht's, dachte sie. Ich kann mich schließlich auch ohne diesen Weiberhelden amüsieren. Ist ja wirklich unmöglich. Alex würde sowas nie machen ... Versonnen dachte sie an jene Nacht, und ihr wurde ganz warm ums kühle Herz.
Aufgelockert durch das Tanzen, war Alexander besonders empfänglich für Mariannas attraktive Ausstrahlung und strahlte sie überglücklich an, wann immer sie ihm einen Blick gönnte. Er war vollkommen selig. Der Abend war wirklich ein voller Erfolg.
Bald darauf verabschiedeten sich Manfred und seine Begleiterin. Eva schloss sich ihnen an. Was sollte sie noch hier? Alexander, der ebenfalls gehen wollte, wurde zu seiner großen Überraschung von Marianna am Arm festgehalten. Eva schüttelte nur lachend den Kopf, obwohl sie die dringliche Bitte in Alexanders Augen gesehen hatte.
"Du wirst doch nicht auch schon gehen wollen?" fragte ihn Marianna, die recht munter wirkte. "Es ist noch viel zu früh, um schlafen zu gehen!"
Alexander fühlte einen Stich durch Mark und Bein und fand keine Worte. Er sah sie groß an und glaubte zuerst, sich verhört zu haben. Hatte sie wirklich zu ihm gesprochen? Unschlüssig blieb er stehen. Nach einer halben Ewigkeit nickte er schließlich und setze sich auf ein Zeichen von ihr neben sie. Er war selig und hätte nie wieder geschlafen, wenn sie es gewollt hätte.
Marianna registrierte belustigt, dass er die Blicke, vor allem jüngerer Mädchen auf sich zog und sah ihn sich genauer an. Er sah irgendwie älter aus als vor drei Monaten, viel älter, aber noch immer jung genug, um kein Mann für sie zu sein. Und doch, er war ein Mann, kein Junge mehr und vor allem, er war da.
Alexander war aller Seligkeit zum Trotz, verunsichert. Sollte er wieder mal nur Lückenbüßer sein, oder hatte sie endlich ihre Gefühle für ihn entdeckt?

Eine Berührung schreckte ihn aus seinen Gedanken auf. Er sah hoch und badete unversehens in Mariannas Lächeln. Ihre Hand ruhte wie zufällig auf seinem Oberschenkel. Die Wärme, die ihre Hand ausstrahlte verbreitete sich in Windeseile. Sein Herz raste und ihm wurde heiß. Und da fühlte er es wieder, dieses Gefühl, das nur sie in ihm hervorrufen konnte. Es trieb ihm eine verräterische Glut in die Wangen. Er sah sie an und hastig wieder weg. Schon einmal hatte sie ihn so angesehen. Da spürte er ihre kühlen Finger an seinem Kinn und ließ es zu, dass sie seinen Kopf drehte, so, dass er sie ansehen musste. Unversehens verlor er sich in ihren Augen. Marianna! Alles andere hatte aufgehört zu existieren. In seinen Gedanken und in seinem Herzen war nur noch Platz für sie und schmerzhaft spürte er seine ungezügelte Sehnsucht. Würde sie ihn küssen? Was sollte er dann tun? Er wünschte es sich so sehr und wollte es doch nicht. Weglaufen? Er beugte sich vor, nahm sein Glas und drehte es unschlüssig zwischen den Fingern, während er mit teilnahmslosem Gesichtsausdruck (er hoffte zumindest, dass es so aussah) die Flaschenbatterie hinter dem Tresen studierte.
Mariannas Lippen umspielte ein wissendes Lächeln. Sie zog ihre Hand zurück. Geduld! Es konnte nicht mehr lange dauern. Seine fieberglänzenden Augen verrieten der erfahrenen Frau alles was sie wissen musste. Die Sehnsucht, die er krampfhaft zu unterdrücken suchte, und die doch so deutlich in seinem Gesicht geschrieben stand, konnte sie förmlich fühlen. Still lächelte sie vor sich hin. Ihr willensstarker Blick veränderte sich und in ihren stahlblauen Augen glühte ein warmes Licht auf. Ihr Blick hing mit verlangendem Ausdruck an seinem rosigen Mund, der so sehnsüchtig und doch furchtsam geöffnet stand und die weißen Zähne verlockend durchscheinen ließ. In ihr erwachte das unbändige Verlagen, diesen Mund zu küssen, Besitz von ihm zu ergreifen, um endlich ihre und seine Sehnsucht zu stillen.
Alexander registrierte überrascht, wie dieses Lächeln ihr Gesicht schlagartig veränderte, es weich und anziehend machte. Er hielt den Atem an, sah in ihre Augen und versank in ihrem zwingend süßen Blick, von dem eine unwiderstehliche Macht ausging. Das Wissen, dass er diese Frau liebte, überwältigte ihn. Er liebte sie mit der ganzen Kraft seines jungen Herzens, liebte sie, wie er nie zuvor geliebt hatte und wie er es sich nie hätte träumen lassen, dass er einmal so lieben könnte. So sehr lieben! Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen und er hätte weinen mögen vor Glückseligkeit. Wenn sie ihn jetzt in ihre Arme genommen hätte, hätte er nicht mehr die Kraft gefunden, sich zu wehren. Willenlos wäre er untergegangen im Sturm seiner aufbrausenden Gefühle.
Marianna nutzte diese Schwäche nicht aus, obwohl sie die Bereitschaft in seinen verdunkelten Augen nur zu gut erkennen konnte. Eine Bereitschaft, die ihr Blut aufkochen ließ in einem wilden Verlangen. Bewegungslos saß sie ihm gegenüber und hütete sich davor, ihn zu berühren. Sekunden nur hatte dieses Spiel gedauert, aber es war lang genug gewesen, um in beiden ein leidenschaftliches Verlangen zu entfesseln.
Alexander hatte das Gefühl, dass sie einander noch nie so nahe gewesen waren wie gerade jetzt in diesem denkwürdigen Augenblick. Er fühlte eine heiße Freude in sich aufsteigen. Plötzlich hatte er Mühe, genug Atemluft in seine Lungen zu bekommen. Das Verlangen nach der Geliebten, das sich in den letzten Tagen, Wochen und Monaten angestaut hatte, verbrannte ihn fast. Er schluckte krampfhaft, spürte dabei unangenehm seinen trockenen Hals. Ihre Augen schienen ihm plötzlich so unergründlich; unergründlicher als das tiefste Meer es jemals sein konnte und er wollte nichts weiter, als darin ertrinken. Er schwieg und wartete auf ein Wort oder eine Geste von ihr, angstvoll, etwas Falsches zu tun oder zu sagen.

Ein aufmerksamer Beobachter hätte erkennen können, dass hier zwei Menschen in den schicksalhaften Bann kosmischer Vibrationen geraten waren.

Marianna fasste ihn nun sanft unter das Kinn und strich ihm mit den Fingerspitzen zärtlich über die Augenbrauen. Mit sanftem Druck presste sie ihre Lippen auf seinen Mund und für Sekunden schien es, als würde ihr diese zärtliche Geste genügen. Doch dann begann sie ihn mit den Lippen zu liebkosen. Bevor Alexander begriff, was er tat, schlang er seine Arme fest um ihren Hals und erwiderte ihren Kuss. Als Marianna endlich ihre Lippen von den seinen löste, lehnte er sich bebend an sie. Doch als er aufsah und ihrem Blick begegnete, traf ihn ein spöttischer Funkenhagel.
Sie spielt mit mir, dachte er entsetzt. Er fühlte sich wie ein kleiner Junge, dumm und hilflos, stumm und willenlos. Der leidenschaftliche Sturm, den nur sie in ihm entfachen konnte, hatte ihn mit sich fortgerissen. Was machte sie nur mit ihm? Was wollte sie nur von ihm? Abrupt stand er auf. Bloß schnell weg von hier! Er brauchte unbedingt frische Luft, denn er hatte mit einem Mal das Gefühl, ersticken zu müssen.

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