Kapitel 55

So sanft sie geschlafen hatte, so unsanft wurde sie geweckt. Es klopfte heftig an der Zimmertür. Noch bevor sie Zeit gehabt hätte, sich auch nur im Bett aufzusetzen, wurde die Tür schon aufgerissen.
"Frau Vollmer, Frau Vollmer, kommen Sie schnell!" Völlig aufgelöst stürzte Fritz-Rüdiger May ins Zimmer. "Ein Unglück ist geschehen ... ein Unglück ... ein großes Unglück …" Er bekreuzigte sich mehrmals und blieb ohne weitere Erklärungen mitten im Zimmer stehen. Hilfesuchend sah er die Direktorin an, die gefolgt von zwei Männern in Uniform, ebenfalls hereingekommen war.
"Was ist denn passiert?" fragte Eva schreckensbleich. "Nun sagen Sie schon! Was ist denn passiert?"
"Guten Morgen, erstmal! Und entschuldigen sie den Überfall. Ganz so stürmisch hätten Sie nun wahrlich nicht informiert werden müssen," antwortete die Direktorin gelassen. "Herr May hat jedoch leider recht. Es gab ein Unglück. Herr Grünberg hatte einen tödlichen Unfall."
Eva war schockiert. Ein Todesfall. Die aufkommende Panik machte es ihr unmöglich, vernünftig zu denken. In ihrem Kopf herrschte gähnende Leere. Handlungsunfähig saß sie im Bett und stierte auf die Leute, die sich vor ihrem Bett versammelt hatten.
"Ich gehe mit den Herren in mein Büro und erwarte Sie dort. Ziehen Sie sich in Ruhe an. Es eilt nicht ... mehr," half ihr die Direktorin aus der peinlichen Lage. "Bis gleich!" Dann schob sie den widerstrebenden Fritz-Rüdiger May und die beiden Uniformierten resolut zum Zimmer hinaus und schloss die Tür.
Im Badezimmer starrte Eva wie paralysiert auf ihr Spiegelbild. Dann kamen die ersten Tränen, dann schluchzte sie laut und hemmungslos und schlug mit den Fäusten gegen die Stirn. Warum? Schon wieder war einer gestorben während …. Nein, widersprach der Teil ihres Verstandes energisch, der nicht von hysterischer Panik befallen war, es ist nicht deine Schuld, es gab nichts, was du hättest tun können, natürlich nicht.
Sie wusch sich das Gesicht gründlich mit kaltem Wasser, puderte die rot-glänzende Nase, legte Rouge und Lippenstift auf und sprühte sich ihren Lieblingsduft hinters Ohr. Jetzt fühlte sie sich einigermaßen gerüstet, um sich der hässlichen Geschichte zu widmen. Sie musste ruhig bleiben, schließlich trug sie die Verantwortung; nicht für den Unfall selbst, aber für alles andere.
Auf dem Weg ins Direktionsbüro warf sie einen schnellen Blick in den Frühstücksraum: alles normal! Der größte Teil ihrer Gruppe war anwesend und frühstückte frohgelaunt. Man hatte sich den Appetit offensichtlich nicht verderben lassen. Vielleicht wussten sie noch nichts.

Die Frühschicht hatte gerade begonnen, es müsste also kurz nach sechs Uhr gewesen sein, als sich Hugo Grünberg und das Zimmermädchen Ela auf dem Flur begegneten. Sie grüßte ihn freundlich, so wie es ihre Pflicht war. Seine Antwort war ein unverständliches Grunzen. Als sie schon an ihm vorbei war, drehte er sich unvermittelt nach ihr um, schlug ihr rabiat den Wäschestapel aus der Hand und zog sie brutal zu sich heran. Ela befreite sich mit einem gezielten Schlag, der mäßig wehtat und nicht ernsthaft schadete (die regelmäßige Teilnahme an Selbstverteidigungs-, Rhetorik- und Benimmkursen war Pflicht) und flüchtete in sich hinter eine Geheimtür. Dahinter führte eine Wendeltreppe bis zum Küchentrakt. Ela lief flink die Treppe hinab. Unten angekommen verriegelte sie die dortige Tür von außen. Einen Augenblick noch blieb sie stehen und lauschte, doch von einem Verfolger war nichts zu hören. Zusammen mit einem anderen Zimmermädchen ging sie auf dem üblichen Weg zurück. Kichernd öffneten sie die Geheimtür und lauschten wieder, doch alles war still. Dann sammelte Ela die heruntergefallene Wäsche ein und machte sich wieder an die Arbeit. Der Zwischenfall hatte nicht lange gedauert, höchstens eine Viertelstunde.
Ungefähr eine Stunde später bemerkte der Küchendienst eine rotbraune Flüssigkeit, die unter der besagten Tür hervorsickerte. Er öffnete die Tür und fand den toten Hugo Grünberg auf den Stufen. Ganz offensichtlich war er unglücklich gefallen und hatte sich dabei das Genick gebrochen.

Zum Glück kümmerte sich die Direktorin um alle Formalitäten, eine Unterschrift nur hatte Eva zu leisten. Einer pünktlichen Abreise stand also nichts im Wege. Sie erledigte die erforderlichen Formalitäten an der Rezeption und ließ sich nochmals die Abflugzeit bestätigen. Als es nichts mehr zu tun gab, ging sie nach draußen und setzte sich auf eine der vielen Bänke, die einladend unter den schon herbstlich verfärbten Bäumen herumstanden. Sie wählte eine, von wo aus sie sowohl den Eingang als auch den Kutschenparkplatz beobachten konnte. Halb dösend schloss sie die Augen und lauschte der angenehmen Ruhe, die hie und da von Vogelgezwitscher, knirschendem Kies und menschlichen Stimmen unterbrochen wurde. Sie dachte an dieses und jenes, bis ihre Aufmerksamkeit auf schwatzende Hotelangestellte gelenkt wurde, die in ihrer Nähe beisammen standen. Ein Mann gab lautstark seine Version von Hugo Grünbergs Unfall zum Besten, in dieser Hugo Grünberg natürlich von einem Vampir gebissen worden war. Bald darauf wandte sich die Unterhaltung einem weniger makabren Thema zu: dem Touristen an sich, über den man sich wohlmeinend lustig machte. Unwillkürlich fiel Eva in das allgemeine Gelächter ein. Es dauerte eine ganze Weile bis ihr bewusst wurde, was sie da getan hatte. Sie hatte gelacht über Scherze, die sie eigentlich hätte gar nicht verstehen können. Schockartig raste eine schier unglaubliche Erinnerung durch ihren Kopf und trieb sie auf Beine: Sie brauchte Gewissheit. Sofort! Sie rannte zur Kutsche, wo ein junger Mann gerade dabei war, das Gepäck ihrer Gruppe zu verstauen. Sie stieß den verdutzten Mann zur Seite, griff nach ihrer Reisetasche, nestelte mit fahrigen Fingern Druckknöpfe und Reißverschlüsse auf. Die alte Strickjacke lag oben auf. Ungeduldig zerrte sie sie heraus. Mit angehaltenem Atem fasste sie in die Jackentasche und ... tatsächlich! Ihre Gedanken purzelten wild durcheinander. Die Strickjacke fiel zu Boden und in ihrer Hand lagen die Steine: viereckig und rot der eine, rund und grau der andere. Kein Traum! Eine leichte Berührung an der Schulter brachte sie wieder zurück. Der junge Mann hatte die Strickjacke aufgehoben, ausgeschüttelt und hielt sie ihr nun hin. Eva bedankte sich abwesend, stopfte sie in die Tasche zurück, macht Reißverschluss und Knöpfe wieder zu und ließ die Tasche stehen. Sie brauchte jetzt erstmal etwas zur Beruhigung, am besten eine heiße Schokolade mit ganz viel Zucker und ganz viel Sahne.

Fritz-Rüdiger May und Klaus Kuhlmann saßen schon in der Kutsche, als die drei Frauen erschienen. Blass und übernächtigt sahen sie aus, nichtsdestotrotz machten sie einen vergnügten Eindruck.
"Unsere Männer kommen nicht mit", teilte Paula Häckelwein ihrer Reisebegleiterin mit und Edith Markmann nickte bestätigend. "Sie sind gestern Nacht aufgebrochen, um sich irgendwo zu betrinken. Sie sind bisher noch nicht zurückgekehrt. Es ist nicht nötig, auf sie zu warten oder sie gar zu suchen. Wer weiß in welcher Absteige sie ihren Rausch ausschlafen. Wir fahren planmäßig ab. Sie sollen sehen, wie sie zurückkommen."
"Aber das ... können Sie doch nicht tun", widersprach Eva lahm.
"Doch!" bestätigte Diana Bach energisch.
"Können wir nicht endlich losfahren?" drängelte Klaus Kuhlmann, der den Entschluss, die abhanden gekommenen Ehemänner ihrem wohlverdienten Schicksal zu überlassen, ausgesprochen vernünftig; sie waren alle drei nicht besonders nett zu ihren Frauen gewesen. "Wir dürfen das Flugzeug nicht verpassen, auf gar keinen Fall!"
"Nun denn, Sie sind allesamt erwachsen und müssen wissen was Sie tun. Wenn Sie dann bitte einsteigen möchten." Eva Vollmer sah auf die Uhr. Es fehlte nur noch der junge Hermann von Wetterstein, der genau in diesem Moment herbeirannte.
"Ich bleibe hier", verkündete er etwas atemlos. "Ich hoffe, Sie bekommen dadurch keine Probleme. Verstehen Sie, ich muss hierbleiben.“ Auch er sah übernächtigt, doch er wirkte ausgeglichen und fröhlich. Was hatten die denn alle in dieser Nacht getrieben? Offensichtlich hatten nur Klaus Kuhlmann und Fritz-Rüdiger May in der vergangenen Nacht ausreichend Schlaf bekommen.
"Oh, machen Sie sich keine Sorgen, das ... ist schon in Ordnung ... Sie sind nicht der Einzige ... der nicht mitkommt. Falls Sie länger hierblieben wollen oder müssen, hier im Hotel wird man Ihnen gerne bei der Verlängerung des Visums helfen", beruhigte Eva ihn strich ihn ebenfalls von der Liste: Ordnung muss sein. Sie stieg als Letzte ein und gab das Zeichen zur Abfahrt.

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